Andrej Holm & Christoph Laimer
TU Wien Academic Press
2021
🌍 Context and Publication The publication titled "Gemeinschaftliches Wohnen und selbstorganisiertes Bauen," edited by Andrej Holm and Christoph Laimer, was created as part of a research fellowship in real estate economics and urban development funded by a private foundation. The work aims to explore new forms of communal living and self-organized building processes that address current challenges in housing. 🏘️ Key Themes and Findings The publication discusses the potential of communal living and self-organized building to respond to pressing housing crises across Europe. It emphasizes how these approaches can create affordable living spaces while addressing social and urban development needs. The research highlights various instruments and models that have emerged in response to governmental and civil society initiatives, suggesting that self-organized housing projects can become critical components of urban development. 🔑 Historical Background A historical overview reveals the evolution of housing movements, particularly focusing on the cooperative housing movement from the late 19th century to present-day practices. The publication outlines how communal projects have historically aimed to improve living conditions, moving beyond mere housing provision to encompass social solidarity and participatory governance. ✏️ Practical Applications Several practical applications are illustrated, including the role of alternative financing models and the importance of community engagement in the planning and execution of housing projects. The publication stresses that successful communal living arrangements often require a collective approach to ownership and governance, which can provide long-term stability against market fluctuations. 📈 Future Perspectives The research provides insights into future perspectives for sustainable housing, highlighting the relevance of communal living in today's urban contexts. It discusses how these housing models can foster a sense of community while reducing reliance on traditional market-driven housing solutions. The editors and contributors advocate for a reconsideration of housing as a fundamental right, emphasizing the need for policies that support communal and cooperative living initiatives. 📚 Conclusion In conclusion, "Gemeinschaftliches Wohnen und selbstorganisiertes Bauen" serves as a comprehensive resource for understanding the dynamics of communal living and self-organization in housing. It compiles the findings of the fellowship's research, offering a valuable contribution to the ongoing discourse on sustainable housing solutions in Europe.
Andrej Holm / Christoph Laimer (Hrsg.) GEMEINSCHAFTLICHES WOHNEN UND SELBST- ORGANISIERTES BAUEN Andrej Holm / Christoph Laimer (Hrsg.) Gemeinschaftliches Wohnen und selbstorganisiertes Bauen Diese Publikation entstand im Rahmen der Fellowship Immobilienwirtschaft & Standortentwicklung finanziert durch die Immobilien Privatstiftung. Andrej Holm / Christoph Laimer (Hrsg.) GEMEINSCHAFTLICHES WOHNEN UND SELBST- ORGANISIERTES BAUEN Zitiervorschlag Holm, A., & Laimer, C. (Hrsg.). (2021). Gemeinschaftliches Wohnen und selbstorganisiertes Bauen. TU Wien Academic Press. https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0 TU Wien Academic Press, 2021 c/o TU Wien Bibliothek TU Wien Resselgasse 4, 1040 Wien academicpress@tuwien.ac.at www.tuwien.at/academicpress Dieses Werk ist unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 (CC BY-SA 4.0) lizenziert. https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de ISBN (Printversion): 978-3-85448-043-3 ISBN (Onlineversion): 978-3-85448-044-0 Online verfügbar: https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0 Medieninhaber: TU Wien, Karlsplatz 13, 1040 Wien Verleger: TU Wien Academic Press Herstellung: Gröbner Druckgesellschaft m.b.H. Herausgeber (für den Inhalt verantwortlich): Andrej Holm, Christoph Laimer Grafische Gestaltung: Jerome Becker, Martina Soi Gunelas, Jakob Pesendorfer Korrektorat: Karin Lederer Coverbild: Hausprojekt Bikes and Rails (habiTAT), Architekturbüro Reinberg, Wien Sonnwendviertel Foto: Hannah Mayr, CC BY-SA Vorwort Mit der Absicht, das Arbeitsfeld der Immobilien- und Standortentwicklung verstärkt in der aktuellen Stadtforschung zu positionieren, hat die Immobilien Privatstiftung in Kooperation mit dem future.lab der TU Wien ein entsprechendes Förderprogramm entwickelt. Erstmals im Jahr 2019 wurde daher eine Research Fellowship ausge- schrieben. Das von Dr.
Andrej Holm und Christoph Laimer eingereichte Forschungs- konzept konnte die Auswahlkommission – zusammengesetzt aus Vertreter*innen der Fakultät für Architektur und Raumplanung, der Stadt Wien, der Internationalen Bauausstellung Wien und des Architekturzentrum Wien – überzeugen. Im Fokus des eingereichten Forschungsprojektes stand die Auseinandersetzung mit neuen Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens und alternativen Finanzierungs- modellen, welche aktuell von Stadtregierungen und auch zivilgesellschaftlichen Initiativen entwickelt und erprobt werden. Die vorliegende Publikation kumuliert schließlich die Ergebnisse aus der einjäh- rigen Forschungsarbeit der beiden Fellows Andrej Holm und Christoph Laimer und bringt auch die Ansichten von Diskussionspartner*innen und Expert*innen zu Konzepten für einen neuen sozialen Wohnbau zusammen. Die Herausgeber und die Autor*innen verweisen dabei auf ein Spektrum an wohnbaupolitischen Instrumenten, Funktionsweisen und Effekten, die zu wichtigen Impulsgebern für einen zeitgemäßen Wohnbau werden können und dies teilweise bereits sind. Der Wirkungsradius dieser Ansätze ragt deutlich über die jeweilige Wohngemeinschaft hinaus. Selbstorganisierte und gemeinschaftliche Wohnprojekte bergen – neben der Schaffung von leistbarem Lebensraum – das Potenzial, zu wichtigen Bausteinen und Impulsgebern städtischer Entwicklungen werden zu können. Dieser Sammel- band bietet einen beachtenswerten Anstoß, Wohnen und Stadt in dieser Hinsicht anders zu denken. Für die Immobilien Privatstiftung Dr. Erich Hampel V 1 11 23 43 55 67 83 99 Einleitung Andrej Holm, Christoph Laimer I.
GESCHICHTLICHES Utopische Gemeinschaften und Siedlungsassoziationen Zu den Anfängen der Wohnungs- genossenschaftsbewegung Klaus Ronneberger Muskelhypothek und Staatsknete Zur Ökonomie der Förderung baulicher Selbsthilfe in der Berliner Stadterneuerung nach 1980 Tobias Bernet II. KONZEPTIONEN Commons statt Gemeinschaft Anders bauen und wohnen Silke Helfrich, Stefan Meretz, Tomislav Knaffl Gemeinschaft und ihr Eigentum Sabine Nuss Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen als Solidarisches Wirtschaften – wie kann das gelingen? Elisabeth Voß Engagement und Gestaltungsfreiheiten in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen Barbara Emmenegger, Meike Müller III. PERSPEKTIVEN UND ASPEKTE Das Erbbaurecht als Beitrag zum gemeinschaftlichen Wohnbau in Deutschland Cilia Lichtenberg Inhaltsverzeichnis 111 125 137 151 167 181 197 211 229 247 Strategien der Dekommodifizierung Zum transformativen Potenzial lokaler marktferner Eigentumsmodelle Sabine Horlitz Vielfalt der gemeinwohlorientierten Projekte: Fluch und Segen Larisa Tsvetkova Alternative Finanzierungsinstrumente für Haus- und Wohnprojekte Andrej Holm, Christoph Laimer Kollektiver Selbstbau als Testfeld für neue Produktionsweisen Nikolas Kichler, Izabela Głowińska, Paul Adrian Schulz, Mikka Fürst Typologie des gemeinschaftlichen Wohnens oder wie gemeinschaftliches Wohnen als Reflektor der Gesellschaft dient Susanne Schmid Schafft Raum Gesellschaft?
Der Gemeinschaftsraum im Wohnbau: Potenzialflächen für eine neue Solidarität Ernst Gruber Kollektive sind intelligenter Die Wiener Architektin Gabu Heindl über gemeinschaftliches Planen Interview mit Gabu Heindl von Christoph Laimer Gemeinschaftliches Wohnen Die Zwischen Verzicht und Luxus, Experimen- tierfreude und Standardisierung, Privatheit und Gemeinschaft, individuellen Bedürfnissen und kollektiver Weisheit Diskussion mit Ute Fragner, Lukas, Nina Schneider, Robert Temel, Markus Zilker von Christoph Laimer Bausteine für ein Neues soziales Wohnen Andrej Holm, Anna Kravetz, Christoph Laimer, Jana Steinfeld Glossar: Begriffe zum gemeinschaftlichen Bauen und Wohnen Anna Kravetz, Jana Steinfeld VII 1 https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_1 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. 1 Einleitung Andrej Holm, Christoph Laimer Gemeinschaftliches Wohnen und selbstorganisiertes Bauen bieten neue Antworten auf die aktuellen Herausforderungen im Wohnungswesen. Seit vielen Jahren haben Baugruppen und Hausprojekte in zahlreichen Ländern Erfahrungen der gemein- schaftlichen Planung gesammelt, neue Wohnformate entwickelt und verschie- dene Formen des gemeinschaftlichen Wohnens erprobt, die über das Wohnen wie gewohnt hinausreichen. Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt Wohnprojekten, die mit selbstorganisierten Planungsprozessen, einer nicht gewinnorientierten Bewirt- schaftungsorientierung und kollektiver Verantwortung gemeinschaftliche Wohn- formen entwickeln und nutzen.
Diese Projekte reagieren damit auf eine doppelte Krise des Wohnens: Zum einen bieten sie Antworten für neue gesellschaftliche Anforderungen, die in den klassischen Familienwohnungen der Moderne nur unzu- reichend bedient werden können, zum anderen durchbrechen sie die immobilien- wirtschaftliche Verwertungslogik, die ökonomischen Gewinn über das Wohnen als Grundbedürfnis und unabdingbares Recht stellen. 1. WOHNEN IST MEHR ALS EIN DACH ÜBER DEM KOPF Die Art und Weise, wie gewohnt wird, war schon immer aufs Engste mit den gesell- schaftlichen Verhältnissen verknüpft. Selbst der Umstand, dass es so etwas wie Wohnen gibt, ist laut den Stadtsoziologen Hartmut Häußermann und Walter Siebel die Folge einer gesellschaftlichen Entwicklung, eines Umbruchs. Zumindest dann, wenn man Wohnung nicht einfach nur mit Behausung gleichsetzt. Erst mit dem Beginn der Lohnarbeit und damit auch dem Beginn von Freizeit kann von Wohnen gesprochen werden. Lohnarbeit war keine Tätigkeit mehr, die man in denjenigen vier Wänden, in denen man auch aß und schlief, verrichtete, sondern fand in Manufakturen oder Fabriken, zu denen man in der Früh aufbrach und von denen man am Abend wieder zurückkehrte, statt. „In diesem Prozeß der räumlichen und zeitlichen Abspaltung von Teilen der produktiven Arbeit entsteht auch erst Wohnen im heutigen Sinn als räum- liches, zeitliches und inhaltliches Gegenüber zur im Betrieb organisierten beruf- lichen Arbeit. Der Haushalt steht nicht mehr im Mittelpunkt der Wirtschaft. Markt und Erwerbswirtschaft drängen Selbstversorgung und ,Unterhaltswirtschaft‘ an den Rand.“ (Häußermann/Siebel 2000: 24–25) Die feudalen Verhältnisse, in denen Herr, Knecht und Magd, Arbeiter*in, Geselle und Meister unter einem Dach wohnten, lösten sich auf. Arbeiter*innensiedlungen und Mietskasernen waren eine typische Entwicklung der Zeit der Industrialisierung.
Wir kennen die elenden Wohnverhältnisse von damals aus vielen zeitgenössischen Berichten, ebenso wie die philanthropischen und frühsozialistischen Versuche, würdigere Bedingungen zu schaffen. Über ein Jahrhundert war die Wohnungspolitik davon geprägt, angemessene Wohnverhältnisse für möglichst viele zu schaffen und zu sichern. Gemeindewohnbau und Sozialwohnsiedlungen waren in vielen Ländern Europas die sichtbaren Resultate einer an der sozialen Wohnversorgung ausge- richteten Baupolitik. Gebaut wurden mehr oder weniger Standardwohnungen für Familien und das soziale am Sozialen Wohnungsbau waren niedrige Mieten und eine moderne Ausstattung. Im Vergleich dazu waren die frühen sozialen und sozialistischen Wohnungsbaupro- jekte noch mit einem Anspruch verbunden, der über die reine Wohnversorgung hinaus- ging. Der Gemeindewohnbau des Roten Wien nahm mit der Gestaltung der Wohnanlagen und der Planung von Gemeinschaftseinrichtungen die damaligen Lebensbedingungen umfassend in den Blick und schuf kollektive Angebote zur Erleichterung der Hausarbeit und Kinderbetreuung. Gemessen an den stark veränderten Lebensbedingungen sind solche Impulse zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen in den öffentlichen und geförderten Bauprojekten von heute weitgehend verblasst. Sozial ist eben nicht nur im Sinne von leistbar, sondern u. a. auch im Sinne von kollektiv oder nachbarschaftlich zu verstehen, wobei sich diese Aspekte nicht ganz zufällig oft ergänzen. Die marktwirtschaftliche Durchdringung aller Lebensbereiche und der Abbau von Sozialleistungen zwingt größer werdende Teile der Bevölkerung, ihre Lebenshaltungskosten zu senken. Armut und Vereinsamung gehen oft mitein- ander einher.
Besonders betroffen sind Alleinerzieher*innen, diejenigen, die aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind (Altersarmut), mit prekären Beschäftigungsver- hältnissen konfrontiert sind oder auf Grund ihres rechtlichen Status keinen oder nur eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. In solch einer Situation nimmt die Bedeutung von gegenseitiger Hilfe zu. Sie hilft Kosten zu senken, ebenso wie sie Isolie- rung und Vereinzelung entgegenwirkt. Dazu gibt es ein unübersehbares Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung und -organisation, nach individuellen Gestaltungs- möglichkeiten und kollektivem Handeln. In den Projekten des gemeinschaftlichen Wohnens werden eben diese Bedürfnisse auf unterschiedliche Weise aufgegriffen. 2. WOHNEN IST MEHR ALS EINE WARE Eine weitere aktuelle Herausforderung des Wohnens ist der hohe Verwertungs- druck, der vielerorts auf den Immobilien liegt und das existenzielle Wohnbedürfnis in Konkurrenz zu wirtschaftlichen Gewinnen setzt. Die Warenförmigkeit von Wohnungen ist heute ihr typisches Kennzeichen. Das Eigentum an einer Wohnung dient nicht mehr nur der Absicherung gegen schlechtere Zeiten und der Garantie, sich als alter Mensch keine Sorgen um die eigenen Wohnverhältnisse machen zu 2 Andrej Holm, Christoph Laimer 3 müssen. Sie dient auch der spekulativen Geldanlage und das nicht nur für große Pensionsfonds, sondern in der Form von sogenannten Vorsorge- bzw. Anlagewoh- nungen theoretisch für jede und jeden. In der Konsequenz dominiert der Blick auf das Wohnen als Immobilie gegenüber demjenigen als Zuhause (Madden/Marcuse 2016: 4) und schränkt so die Mitbestimmung über die Gestaltung der eigenen vier Wände ein.
So sichtbar sich die herrschenden Verhältnisse im aktuellen Wohnungsbau wider- spiegeln und so klar auch hier die neoliberale Agenda der alles durchdringenden Inwertsetzung das Drehbuch schreibt, so augenscheinlich gibt es Alternativen, Widerstand und Gegenströmungen. Ansätze der Dekommodifizierung sind dabei kein neues Phänomen, sondern jeweils Gegenentwurf zum scheinbar Selbstverständli- chen, zur proklamierten Normalität: die gegenseitige Hilfe in der frühen Genossen- schaftsbewegung, das Konzept der Gemeinnützigkeit, die Gemeindebauten des Roten Wien, der geförderte soziale Wohnbau. Hält man sich die Entwicklung des Immobilienmarkts der letzten Jahre vor Augen, verwundert es nicht, dass der Aspekt der Leistbarkeit in neueren selbstorgani- sierten Hausprojekten eine immer bedeutendere Rolle spielt. Ein wichtiges Anliegen dieser Publikation ist es deswegen, aufzuzeigen, welche Lösungen sich anbieten, um Nischen innerhalb des kapitalistischen Systems zu nutzen und welche Ansätze es gibt, die über dieses hinausweisen. Das Mietshäuser Syndikat, auf das in mehreren Beiträgen verwiesen wird, bietet mit seinem rechtlichen Modell eine Möglichkeit, Hausprojekte dem Immobilienmarkt zu entziehen und mit seinem Finanzierungs- modell ein Beispiel, wie mit privaten Direktkrediten die monatliche Belastung der Bewohner*innen und Nutzer*innen niedriger gehalten werden kann als das sonst der Fall wäre. Viele der gemeinschaftlichen und selbstorganisierten Haus- und Wohnpro- jekte stehen für den Versuch, den scheinbar stetigen Kreislauf der Inwertsetzung mit ihren auf Dauer angelegten Wohnprojekten zu durchbrechen. Mit neuen Finanzie- rungskonzepten, gemeinschaftlicher Planung und oft auch gegenseitiger Unterstüt- zung entstehen vielerorts langfristig leistbare Wohnungen, die dauerhaft dem Markt entzogen werden. 3.
GEMEINSCHAFTLICHES WOHNEN UND SELBSTORGANISIERTES BAUEN HAT GESCHICHTE In den gemeinschaftlichen und selbstorganisierten Wohnprojekten sehen wir eine zeitgenössische Ausformung von gegenhegemonialen Strömungen für ein Bauen jenseits von Markt und Norm. Uns interessiert im Speziellen, mit welchen gesell- schaftspolitischen Konzepten und Vorstellungen diese verwoben sind. Zentral ist das Zusammentreffen von alternativen Lebensentwürfen und Vorstellungen des Zusammenlebens mit ökonomischen, ökologischen und politischen Fragen, wie wir es verstärkt seit 1968 kennen. Zeitgenössisch umfasst für uns einen Zeitraum, dessen Beginn Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre liegt. Im deutschsprachigen Raum dachte damals eine neue Generation darüber nach, welche Möglichkeiten es gibt, einerseits selbstorganisiert und andererseits langfristig selbstbestimmten Wohn-, Kultur- und Arbeitsraum zu schaffen. Basis dafür waren sowohl Erfahrungen mit experimentellen Formen des Zusammenlebens und neuen Wohntypologien als auch mit der Aneignung von durch ökonomischen Strukturwandel sowie funktionalisti- schen Städtebau produzierten Leerstand in den 1970er- und 80er-Jahren. Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Bedeutung der oft über mehrere Umwege führenden Verbindungslinien zu den Anfängen der Genossenschaftsbewegung. Einleitung Andrej Holm, Christoph Laimer Was passierte nun Anfang der 1990er-Jahre, das bis heute einen direkten Einfluss auf jenen Bereich des Wohnungswesens hat, in dem Wohnen nicht nur als ein Grundbedürfnis, sondern auch als ein Grundrecht abseits der vorherrschenden Verwertungslogik gesehen wird und Bewohner*innen und Nutzer*innen selbst Bauherr*innen sind.
Wo-wo-wonige lautete Ende der 1980er-Jahre der Slogan einer wohn- und stadtpolitischen Bewegung in Zürich, aus der heraus eine neue Genossen- schaftsbewegung, gerne als Die jungen Wilden bezeichnet, entsteht, die heute auf so renommierte Teile wie Kraftwerk1, Kalkbreite oder mehr als wohnen verweisen kann und nach wie vor höchst innovativ und engagiert ist (Wirz 2019). Zur selben Zeit nahm in Freiburg aus der Hausbesetzer*innenbewegung heraus mit Grether-Ost das Miets- häuser Syndikat seinen Anfang, das heute rund 160 Projekte in ganz Deutschland zählt und Vorbild für ähnliche Netzwerke in anderen europäischen Ländern ist. In Wien engagierte sich zu jener Zeit eine Gruppe von Leuten für ein Wohn- und Kultur- projekt, das unter dem Namen Sargfabrik bis heute nicht nur Bezugspunkt für viele Hausprojekte war und ist, sondern deren Akteur*innen in Folge und bis heute eine wichtige Rolle in Baugruppen-Initiativen und bei der vor einigen Jahren gegründeten Wohnprojekte-Genossenschaft WoGen einnehmen. Das Spektrum von selbstorganisierten Hausprojekten ist ein breites und reicht von Schöner-Wohnen-Objekten bis zu Gruppen, die mit ihren Hausprojekten versu- chen, gesellschaftspolitische Fragen aufzugreifen und auf daraus folgende Herausfor- derungen möglichst umfassend einzugehen. Denn Wohnen ist nicht nur „Ausgangs- punkt jedes individuellen Lebens und im Weiteren des sozialen Zusammenhalts“, sondern auch „die entscheidende Basis zur Produktion von Stadt“ (Lacaton 2019: 35). Eben weil mit dem Wohnungswesen so viele Themen und Problemstellungen verknüpft sind, ist klar, dass die Lösungen und Antworten nicht in einem einzelnen Objekt liegen können, ist das Engagement auch noch so groß. 4. ZUM BUCH Mit dem vorliegenden Band wollen wir einen Einblick in das Universum des gemein- schaftlichen Wohnens und selbstorganisierten Bauens geben.
Wir haben dazu Auto- rinnen und Autoren eingeladen, mit ihrem Wissen zu jeweils unterschiedlichen Aspekten des Themas beizutragen. Am Beginn des Sammelbands sind Beiträge zu finden, die sich mit der Geschichte von Wohnungskämpfen und den Anfängen der genossenschaftlichen Bewegungen beschäftigen und auch für aktuelle Hausprojekte einen wichtigen Bezugspunkt darstellen. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Wiener Sied- lerbewegung nach Ende des Ersten Weltkriegs. Vermittelt durch Schriften des Ökonomen Klaus Novy über das Solidarprinzip innerhalb der Siedlerbewegung, lässt sich eine Verbindung zu den Anfängen des Mietshäuser Syndikats nach- zeichnen (Novy 1982: 52–53; Rost 2012). Klaus Ronneberger beleuchtet in seinem Text diese Anfänge der Wohnungsgenossenschaftsbewegung und zeigt, dass sie sich aus sehr unterschiedlichen Ideologien und sozialreformerischen Praktiken speiste. Im zweiten Beitrag des Abschnitts Geschichtliches setzt Tobias Bernet einige Jahr- zehnte später an und erklärt, wie genau die Berliner Förderpolitik für kleinteilige Selbsthilfeprojekte im Altbau in den 1980er- und 90er-Jahren ausgesehen hat. Er belegt anhand dieses, wie er schreibt einmaligen Beispiels Aspekte der Wechsel- wirkungen zwischen öffentlicher Förderung, ökonomischer Selbstorganisation und baulicher Eigenleistung. 4 5 Einleitung Es folgt ein Abschnitt mit konzeptionell gehaltenen Beiträgen, die selbstorganisierte und gemeinschaftliche Wohnprojekte in den übergreifenden Debatten zu Commons, des Eigentums, der Solidarität und der Gemeinschaft verorten und die gesellschaftliche Relevanz des gemeinschaftlichen und selbstorganisierten Wohnens ausleuchten.
Commons sind historisch aufs Engste mit dem Kampf um die Verfügungsmacht über Grund und Boden verknüpft und werden seit etlichen Jahren als Form selbstbestimmten gemeinsamen Handelns und alternatives Konzept zu individuellem Privateigentum diskutiert. Zu diskutieren, ob und wenn ja wie Wohnen und Bauen als Commons und Commoning statt als Dienstleistung oder gutgemeinte Gemeinschaftsaktion gedacht werden können, haben sich Silke Helfrich, Tomislav Knaffl, Stefan Meretz für ihren Text zur Aufgabe gemacht. Wem gehört das Haus, wem gehört der Boden? Wohnen ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen ganz unmittelbar mit Eigentumsfragen verbunden. Was unter Eigentum eigentlich genau zu verstehen ist, wie es in die Welt kam und warum es so ungleich verteilt ist, erläutert Sabine Nuss in ihrem Beitrag. Sie klärt uns auf, dass Eigentum nicht einfach ein Ding bezeichnet, sondern dass es dabei um ein soziales Verhältnis zwischen Menschen bezüglich einer Sache, also die Verfügungsmacht über die Sache geht. In vielen Wohnprojekten werden kollektive Eigentumsformen erprobt, wodurch sie einen Beitrag leisten, die Dominanz des Privateigentums auszuhöhlen. Auch das Nachdenken über alternative Formen wirtschaftlichen Handelns abseits einer Profitlogik spielt in vielen selbstorganisierten Wohnprojekten eine wichtige Rolle. Solche Ansätze werden unter der Bezeichnung Solidarische Ökonomie subsummiert. Sie ist durch wirtschaftliche Selbsthilfe im Sinne des Genossenschaftsgedankens der frei- willigen, gleichberechtigten Kooperation gekennzeichnet, wie es Elisabeth Voß in ihrem Beitrag formuliert. Darin sieht sie sich den solidarischen Gehalt von Hausprojekten genauer an. Im Beitrag von Barbara Emmenegger und Meike Müller steht der Aspekt der Gemein- schaft im Vordergrund.
Hundert Jahre nach Gründung des Schweizerischen Verbandes der Wohnbaugenossenschaften zum Anlass, sich genauer angesehen, wie lebendig das Genossenschaftsleben heute ist. Auf der Basis von zwei Studien, die sie unlängst abge- schlossen haben, zeigen sie, was Bewohner*innen in Genossenschaftsprojekten moti- viert, sich zu engagieren und aktiv einzubringen. Im Vergleich von traditionellen und neuen Wohnbaugenossenschaften wird dabei deutlich, dass Mitbestimmungsmöglich- keiten, Identifikation und Engagement sich gegenseitig beeinflussen und immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden. Ein dritter Block im Buch beschäftigt sich mit den praktischen Herausforderungen und Besonderheiten von selbstorganisierten und gemeinschaftlichen Wohnprojekten. Die Beiträge geben uns einen Einblick in alternative Konzepte der Organisation von Grund und Boden, die Potenziale und Probleme des selbstorganisierten Planens, Bauens und Finanzierens sowie verschiedenen Wohntypologien in gemeinschaftlichen Wohn- projekten. Die Vergabe des Bodens im Baurecht bzw. als Erbbaurecht ist eine traditionelle Vari- ante, der Spekulation mit Boden, die heute in vielen Städten die Preistreiberin ist, Einhalt zu gebieten. Aktuell findet sie wieder vermehrt Anwendung, um städtische Liegen- schaften in kommunalem Eigentum zu behalten. Cilia Lichtenberg klärt in ihrem Beitrag über Geschichte, Funktionsweise und Herausforderungen in der Praxis auf und stellt exemplarisch das Erbbaurecht als Instrument des kommunalen und gemeinschaftlichen Wohnbaus in Leipzig vor. Andrej Holm, Christoph Laimer Sabine Horlitz hat sich mit dem Modell des Mietshäuser Syndikats, des Community Land Trusts, unterschiedlichen Stiftungen und weiteren Rechtskonstruktionen beschäftigt, die Voraussetzungen schaffen, um alternative Finanzierungskonzepte zu verfolgen und Spekulation zu verhindern.
Larisa Tsvetkova stellt in ihrem Beitrag eine Vielfalt von Organisationsmodellen und Rechtsformen vor, in denen gemeinschaftliche Wohnprojekte realisiert werden und wirbt – trotz aller Unterschiede im Detail – für ein gemeinsames Auftreten, um Anliegen besser in die Öffentlichkeit tragen und durchsetzen zu können. Mit unserem Beitrag zur Finanzierung von Haus- und Wohnprojekten stellen wir verschiedene Strategien zur Mobilisierung von Eigenkapital und zur langfristigen Refinanzierung vor, die von Projektinitiativen genutzt werden, um langfristig leist- bare Wohnkosten zu sichern und Gebäude ohne Renditeinteresse zu bewirtschaften. Wenn es um selbstorganisierten Wohnbau geht, taucht regelmäßig die Frage nach den Möglichkeiten, dem Nutzen und dem ökonomischen Vorteil des Selbstbaus auf. Wir haben oben schon kurz auf die Förderungen in Berlin in den 1980er- und 90er Jahren verwiesen, die für die Sanierung von Altbau in Eigeninitiative vorge- sehen war. Nikolas Kichler, Izabela Glowinska, Paul Adrian Schulz und Mikka Fürst sehen kollektiven Selbstbau als Testfeld für neue Produktionsweisen und zeigen mit ihrer Initiative Vivihouse praktische Anwendungsmöglichkeiten. Dabei geht es ihnen keineswegs nur um eine Frage der Kosten und möglicher Ersparnisse, sondern ebenso um Selbstermächtigung, Bedürfnisorientierung, Ökologie sowie einer prakti- schen Kritik am gegenwärtigen Bauwesen. Immer wieder wird betont, dass die Experimentierfreude und der Mut neue Wohn- formen und -typologien auszuprobieren, in gemeinschaftlichen Hausprojekten ganz besonders ausgeprägt ist und sie somit auch eine Art Versuchslabor sind. Susanne Schmid stellt in ihrem Beitrag unterschiedliche räumlich-soziale Organisations- formen wie Großhaushalte, Clusterwohnen und Co-Living vor und zeigt, auf welche sozio-ökonomischen Bedingungen kollektives Wohnen historisch reagiert hat bzw.
welche Intentionen dahinterstehen. Ernst Gruber wirft einen ganz spezifischen Blick auf die Gemeinschaftsräume im Wohnbau. Auch er verbindet dabei historische und aktuelle Erscheinungs- formen und verweist auf den Ursprung von Gemeinschaftsräumen, der in der Vorstellung der Neuorganisation von Hausarbeit durch Vergemeinschaftung und Auslagerung liegt. Heute sieht er vier maßgebliche Funktionen: die Erweiterung des Wohnraums, den Haushaltsersatz, das Statussymbol und das Angebot für die Nachbarschaft. Die Beiträge des Sammelbands werden ergänzt durch ein Interview mit der Architektin Gabu Heindl und einem Gespräch mit Vertreter*innen verschiedener Wohnprojekte aus Berlin, Wien und Zürich. Im Gespräch mit Gabu Heindl geht es um ihre Erfahrungen mit gemeinschaftlichen Planungsprozessen, deren konkretem Ablauf und den Potenzialen selbiger. Als Beispiele dienen ihr dafür die Projekte SchloR – Schöner Leben ohne Rendite in Wien Simmering und das Intersektionale Stadthaus in Wien Ottakring. Das Gespräch über gemeinschaftliches Wohnen und Bauen wurde auf einer Veranstaltung an der TU Wien geführt, zu der Aktive und Expert*innen eingeladen waren, um über ganz konkrete Projekte (Kalkbreite/Zoll- haus, Sargfabrik, M29 , Wohnprojekt Wien) zu berichten. In der Diskussion wurden fast alle Aspekte angesprochen, die in diesem Sammelband thematisiert werden. Somit können wir die Lektüre der Dokumentation der Veranstaltung, obwohl weit am Ende des Buchs abgedruckt, guten Herzens als Einstieg empfehlen. 6 7 Einleitung Den Abschluss des Buchs bildet ein zusammenfassender Bericht über unsere Untersuchung von Hausprojekten in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in der wir acht typische Bausteine des selbstorganisierten und gemeinschaftlichen Wohnungsbaus identifizierten.
Diese acht Bausteine sind: Boden, Trägermodell, Finanzierung, Planung und Bau, Bewirtschaftungsgrundsätze, Verwaltung, Betei- ligungsmöglichkeiten und Vergabemodalitäten. Der Beitrag wurde zusammen mit Anna Kravets und Jana Steinfeld geschrieben, die auch am Forschungsprojekt betei- ligt waren. Auch ein Sammelband ist das Ergebnis gemeinschaftlicher Arbeit. Unser Dank gilt allen Autor*innen und Gesprächspartner*innen, die sich auf das Projekt eingelassen und ihre Beiträge und ihr Wissen mit uns geteilt haben. Das Forschungsprojekt und auch diese Publikation wurden durch das von der Immobilien Privatstiftung finan- zierte Research Fellowship „Immobilienwirtschaft und Standortentwicklung“ an der TU Wien ermöglicht. Wir danken der Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien für den Mut, bei der erstmaligen Vergabe des Fellowships ein Nischenthema wie das selbstorganisierte und gemeinschaftliche Bauen und Wohnen auszuwählen. Unser besonderer Dank gilt dem Dekan Rudolf Scheuvens sowie Jerome Becker und Martina Soi Gunelas vom future.lab der TU Wien, die uns mit ihrer wohlwollenden und offenen Art eine verlässliche Unterstützung waren und auch das Layout des Buchs besorgt haben. Anna Kravets und Jana Steinfeld haben an der Humboldt-Universität am Forschungsprojekt mitgearbeitet und wesentlich zum Erfolg der Studie und der Herausgabe des hier vorliegenden Sammelbands beigetragen. Elisabeth Haid, Judith Haslöwer und Silvester Kreil von dérive – Verein für Stadtforschung waren bei der Aufarbeitung des Materials eine große Hilfe. Darüber hinaus möchten wir uns bei Silvia Ziemkendorf von TU Wien Academic Press für die immer konstruktive Zusammenarbeit und die Geduld bedanken, die sie uns gegenüber aufgebracht hat.
Dieses Buch wäre ohne die hilfreichen Reviews durch Mara Verlić, Robert Temel und Michael Klein und die gründliche Durchsicht der Manuskripte durch Karin Lederer nicht möglich gewesen. Schließlich gilt unser Dank den vielen Aktiven in den Hausprojekten, die uns ihre Zeit geschenkt und Einblicke in ihre Wohnprojekte ermöglicht haben. QUELLEN Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter 2000: Soziologie des Wohnens – Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens. 2. korrigierte Auflage. Weinheim/Mün- chen: Juventa Verlag. Lacaton, Anne 2019: Die Wohnung; Masseinheit der Stadt. In: Auf Abwegen, Nr. 23 der Schriftenreihe Pamphlet des Instituts für Landschaftsarchitektur der ETH Zürich, S. 35–40. Madden, David J.; Marcuse, Peter 2016: In defense of housing: the politics of crisis. Lon- don/New York: Verso. Novy, Klaus 1982: Anmerkungen zum Verhältnis von Trägerformen und Finanzierungsal- ternativen. In: Arch+, Nr. 61, Februar 1982, Aachen. Rost, Stefan 2012: Die beste Genossenschaft ist gar keine. Klaus-Novy-Preis 2012 für das Mietshäuser Syndikat. In: Freihaus – Info für gemeinschaftliches und selbstbestimmtes Wohnen , Nr. 18, September 2012, S. 7-9. Hamburg: Stattbau Hamburg GmbH. https:// archiv.stattbau-hamburg.de/wp-content/uploads/2020/05/FREIHAUS_Nr.18_2012.pdf. Wirz, Andreas 2019: „Teilt alles und spielt fair“. In: dérive, Nr. 77, S. 6-12. I. Geschichtliches 1111 Klaus Ronneberger Utopische Gemeinschaften und Siedlungsassoziationen Zu den Anfängen der Wohnungsgenossenschaftsbewegung Lange Zeit hatten in der ,offiziellen‘ Geschichte der Arbeiter*innenbewegung Genos- senschaftsinitiativen und Selbsthilfeunternehmen nur eine marginale Rolle gespielt. Dabei war die Bandbreite solcher Aktivitäten enorm: Im frühen 20. Jahrhundert reichten sie von Konsumvereinen über Produktions- und Baugenossenschaften bis hin zu Versicherungsgesellschaften.
Die Vorgeschichte des genossenschaftlichen Wohnungsbaus speist sich aus sehr unterschiedlichen Ideologien und sozialreformerischen Praktiken. Man denke nur an die experimentellen Projekte der sogenannten utopischen Sozialisten oder an die Siedlungsvorhaben bürgerlicher Philanthropen (altgriechisch: Menschen- freund). Die Übertragung des Gedankens der Selbsthilfe auf die Wohnraumbeschaf- fung erweist sich als ausgesprochen schwierig, denn die speziellen Eigenschaften der Wohnungsproduktion (Langlebigkeit, komplizierte planerische Erschließung, hohe Finanzierungskosten) erschweren bzw. verunmöglichen Versuche einer genos- senschaftlichen Selbsthilfe aus den Reihen der Arbeiterschaft. Der Aufstieg der Wohnungsbaugenossenschaften im späten 19. Jahrhundert zeichnet sich deshalb durch zwei Besonderheiten aus: Entweder handelte es sich um reine Mittelstand- projekte oder sie wurden von externen Finanzhilfen abgestützt, die mit speziellen Vorgaben verbunden waren (vgl. Novy/Prinz 1985: 12ff.). 1. PATERNALISTISCHE WOHNPROJEKTE: UTOPISCHE SOZIALISTEN UND KONSERVATIVE PHILANTHROPEN Die Revolutionen in Nordamerika und Frankreich im späten 18. Jahrhundert bringen dem Bürgertum die Gleichheit gegenüber den vorher privilegierten Ständen von Adel und hoher Geistlichkeit. Auch die Bauern und Landarbeiter*innen werden https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_2 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. 12 Klaus Ronneberger aus feudalen Abhängigkeiten befreit. Insofern sind jetzt alle Staatsbürger (citoyens) geworden (unter Ausschluss der Frauen), die gleiche Rechte besitzen.
Karl Marx hat in seiner Kritik an der liberalen Menschenrechtsidee darauf insis- tiert, dass die unterstellte Identität von bourgeois und homme eine Fiktion ist, da die Interessen der Besitzbürger im Grunde genommen partikular bleiben, auch wenn die eigenen Anliegen als universell bewertet werden. Das Gleichheitspostulat findet da seine Grenzen, wo das Recht auf Eigentum in Frage gestellt wird. Doch der illu- sorische Charakter der Allgemeinheit ist für Marx kein Grund, Ideale wie Freiheit und Gleichheit grundsätzlich zu diskreditieren. Der aus der Französischen Revolu- tion hervorgegangene Begriff der égalité verbirgt zwar die Realität der Ausbeutung und Herrschaft, doch zugleich stellt diese Idee der Gleichheit einen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit dar (vgl. Marx 2006 [1844]: 283). Konsequent fordert Marx deshalb ein Mehr an Freiheiten und Handlungsmöglichkeiten. Den Lohnabhängigen, aufgrund ihres Mangels an Produktionsmitteln zum Verkauf ihrer Ware Arbeitskraft gezwungen, fehlt die politische Autonomie der Besitzbürger. Die Gestaltung öffent- licher Angelegenheiten muss aber auch all jenen zustehen, die über kein privates Eigentum verfügen. Die frühe Marx’sche Kritik am Kapitalismus hebt somit auf die Frage der Selbstbestimmung ab. Die Suche nach neuen Formen der sozialen Emanzipation bestimmt bereits das Denken und Handeln der utopischen Sozialisten. Zu den bedeutendsten Vertretern dieser heterogenen ideologischen Strömung, die sich rückblickend eher dem liber- tären Anarchismus als dem staatszentrierten Marxismus zuordnen lässt, zählen u. a. der Engländer Robert Owen (1771–1858) und der Franzose Charles Fourier (1772–1837). Beide akzeptieren die technisch-industrielle Entwicklung des Kapitalismus, wollen diese aber im aufklärerischen Sinne für eine bessere Gesellschaft und eine harmo- nische Gemeinschaft nutzen.
Dabei orientieren sie sich an normativen Vorstellungen wie „Glück“, „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“. Bei ihren visionären Gesellschaftsent- würfen spielen auch neuartige Siedlungs- und Wohnmodelle eine wichtige Rolle. Die brutale Dynamik des Frühkapitalismus hat zu einem schnell anwachsenden Proleta- riat in den Städten geführt, das in überbelegten und unhygienischen Wohnquartieren leben muss. Nach den Vorstellungen der utopischen Sozialisten können mit Hilfe von genossenschaftlich konzipierten Siedlungen die sozialpolitischen und städtebauli- chen Probleme des liberalen Kapitalismus bearbeitet und langfristig gelöst werden. Während die große Mehrheit der Besitzbürger die soziale Lage der unteren Klassen als gottgegeben hinnimmt, versuchen Philanthropen eine Verbesserung der proletarischen Lebensverhältnisse zu erreichen. Dazu zählt auch der englische Industrielle Robert Owen, der sich als Visionär und Experimentator in Sachen Fort- schritt und Allgemeinwohl engagiert. Nachdem er im Jahre 1799 einen der größten britischen Spinnereibetriebe in New Landmark (nahe bei Glasgow) übernommen hat, führt er dort eine Reihe von Reformmaßnahmen durch: Reduzierung der Arbeits- zeit auf elf Stunden und Abschaffung der Fabrikarbeit von sechs- bis achtjährigen Kindern, die stattdessen Schulunterricht erhalten. Unter seinem paternalistischen Regime werden die Arbeiter*innenfamilien in firmeneigenen Werkswohnungen untergebracht, wo penible Vorschriften und Inspektoren für Sauberkeit und Ordnung sorgen. Zur Verbilligung der Lebenshaltung kauft Owen auch im großen Stil Konsum- güter ein, die den Arbeiter*innen zum Selbstkostenpreis angeboten werden (vgl. Kieß 1991: 103–106). Später versucht er seine Sozialexperimente in Form einer selbstständigen Sied- lungsassoziation weiterzuentwickeln.
Diese Gelegenheit ergibt sich 1824, als er mit 13 einem beträchtlichen finanziellen Aufwand in Indiana/USA ein 8.000 Hektar großes Areal mit Gebäuden, Fabriken und Werkstätten erwirbt, das vormals einer religiösen Sekte gehört hatte (vgl. ebd.: 111). Die Gründung von New Harmony stellt den ehrgei- zigen Versuch Owens dar, eine kooperative Modellkolonie anzustoßen, die auf der Basis von gemeinschaftlichem Eigentum sowie gleichem Entgelt für die Mitglieder funktionieren soll. Doch das Kommunen-Projekt scheitert nicht zuletzt an internen Widersprüchen: Die soziale Zusammensetzung der Assoziation (ca. 900 Personen) erweist sich als zu heterogen und zerfällt schon bald in verschiedene Fraktionen. 1827 wird das Vorhaben für beendet erklärt (vgl. Bedarida 1974: 43ff.). Als ein weiterer wichtiger Vertreter der utopischen Sozialisten gilt Charles Fourier. Für ihn hat die Revolution von 1789 wenig an dem Zustand der Massen geändert. Weiterhin stellt die Arbeit für die Mehrheit der Bevölkerung einen unerträglichen Zwang dar. Diese Tätigkeit für alle Mitglieder der Gesellschaft attraktiv zu machen, ist nach Fourier eine notwendige Vorbedingung für die allgemeine Menschenwürde und den Fortschritt: Da der Mensch mit Trieben und Leidenschaften ausgestattet sei, habe diese anthropologisch bedingte Verfasstheit auch grundlegende Folgen für den Arbeits- und Produktionsprozess. Die Arbeit dürfe nicht unter Druck geschehen, sondern müsse freiwillig in Form von Assoziationen erfolgen. Im Gegensatz zu Owen kann sich der mittellose Fourier lediglich auf Theorien und Pläne beschränken. So entwickelt er die Vision einer Wirtschafts- und „Liebesgemeinschaft“, die er als Phalanx (altgriechisch: Schlachtaufstellung) bezeichnet. War bei dem englischen Industriellen die Assoziation noch ausschließlich als Produktionsgemeinschaft ange- dacht, so ist das Konzept von Fourier viel umfassender.
Bei seinem Entwurf einer sogenannten Phalanstère von 1829, die an eine absolutistische Schlossarchitektur erinnert, sind keine individuellen Räume für Familien vorgesehen. Stattdessen gibt es eine Auswahl von unterschiedlich ausgelegten Wohnungsgrundrissen. Grundsätz- lich ist das Erdgeschoss für ältere Menschen reserviert, während das Mezzanin den Kindern vorbehalten bleibt (vgl. Schmid 2019: 49). Mit skurril anmutenden Berech- nungsformeln kommt er zu dem Schluss, dass die Idealgröße der Kommune aus ca. 1.600 Personen bestehen müsse, um alle wesentlichen menschlichen Grundbega- bungen und Charaktere zu erfassen. In dieser neuen Gemeinschaft existieren weder ,Rassen‘- noch Geschlechterdiskriminierungen. Darüber hinaus sollen Mahlzeiten zusammen eingenommen und die Kinder gemeinschaftlich erzogen werden. Aber für Fourier gibt es weiterhin soziale Unterschiede und Privateigentum. Er orientiert sich am Modell der Aktiengesellschaft und überträgt die Idee von den Anteilsscheinen auf den Besitz von Grund und Boden. Fourier ist davon überzeugt, dass der „Geist des sozietären Eigentums“ zu einer Versöhnung zwischen arm und reich führen werde. So sollen selbst „Minderbemittelte“ durch spezielle Beteiligungs- formen Miteigentümer*innen am Gesamtbesitz werden (vgl. Bruhat 1974: 139ff.). Übergreifend stellt das Phalansterium für ihn eine Übergangslösung auf dem Weg zu einem allgemeinen genossenschaftlichen Zustand der Gesellschaft dar. Fourier erlangt zwar deutlich weniger Einfluss auf die erstarkende Arbeiter*innenbewegung als Owen, aber programmatisch hat er zwei wesentliche Prämissen formuliert: Über- windung des Gegensatzes von Stadt und Land und die Aufhebung des Widerspruchs zwischen manueller und intellektueller Arbeit (vgl. ebd.: 144). Das Scheitern solcher visionären Modellversuche liegt nicht nur an deren wirt- schaftlichen und organisatorischen Mängeln.
Die konzipierten Großwohneinheiten stoßen auch auf eine geringe gesellschaftliche Akzeptanz: Sowohl Grundeigentümer und Bauherrschaften als auch die Vertreter*innen der sich herausbildenden Arbei- Utopische Gemeinschaften und Siedlungsassoziationen 14 Klaus Ronneberger ter*innenorganisationen zeigen wenig Interesse an solchen radikalen Siedlungspro- jekten (vgl. Schmid 2019: 44). Gleichwohl sind die Ideen der utopischen Sozialisten zukunftsweisend. Viele Reformer des 19. Jahrhunderts halten eine grundlegende städtebauliche Umstrukturierung für notwendig, um das Ziel einer größeren sozialen Gerechtigkeit zu erreichen. Von solchen Einsichten sind etwa die Überlegungen des christlich-konserva- tiven Romanistikprofessors Victor Aimé Huber bestimmt, der in Berlin seit den 1840er-Jahren die Bildung von Arbeiterwohnungsgenossenschaften propagiert. Dabei versteht er die „soziale Frage“ vor allem als „sittliche“ Aufgabe im Sinne einer Stärkung der Gemeinschaft und der Familienbande, die mit Hilfe einer kommunitär organisierten „Innenkolonisation“ erfolgen soll (vgl. Kieß 1991: 116). Der Konserva- tive ist sich bei seinen sozialpolitischen Überlegungen darüber im Klaren, dass das bürgerliche Ideal der „Selbsthilfe“ die finanziellen Ressourcen der arbeitenden Bevöl- kerung bei weitem übersteigt. Deshalb müssen nach seiner Meinung wohlhabende Bürger und möglicherweise auch der Staat der Arbeiterschaft materiell dabei behilf- lich sein, Wohnungsgenossenschaften zu gründen. Als Vorstufe zu „republikanischen Genossenschaften“ schlägt er als „latente Assoziationen“ die Gründung von „aristo- kratischen Genossenschaften“ vor, die von Vertretern der begüterten Klasse geleitet und vorfinanziert werden sollen (vgl. Novy/Prinz 1985: 36).
In diesem Sinne gründet der Königlich-Preußische Landbaumeister Carl Wilhelm Hoffmann 1847 in Zusammenarbeit mit Huber zur Förderung des Wohneigentums für die Arbeiterschaft die Berliner gemeinnützige Baugesellschaft, die bereits 1851 über eine Reihe von neu errichteten Wohngebäuden verfügt, in denen ca. 700 Personen untergebracht sind (vgl. Martin 2015: 198). Zwar scheitern ihre gesellschaftspoliti- schen Reformbestrebungen letztlich am Widerstand der konservativen Partei, aber ähnliche Reformkonzepte – Abschaffung der Grundrente, Gründungen von staatli- chen und kommunal geförderten gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften – tauchen später in den städtebaulichen Programmen der Sozialdemokratie wieder auf. Gewissermaßen als Kompensation zum repressiven politischen Klima (Unterdrü- ckung demokratischer Bestrebungen, Sozialistengesetze) kommt es zur Gründung von privaten Unternehmungen, die sich für den Arbeiterwohnungsbau engagieren. In der Regel handelt es sich um philanthropische Aktivitäten, bei denen sich die Kapi- talgeber auf einen beschränkten Jahresertrag einlassen, aber weiterhin die Verfü- gungsrechte über die Immobilien besitzen. Doch diese Welle von Genossenschafts- gründungen verebbt mit der Finanzkrise von 1873. Viele dieser Wohnbauprojekte, die aus den „eigentumslosen Arbeitern arbeitende Eigentümer“ machen wollen, geraten in den Besitz des spekulativen Kapitals. Angesichts solcher Erfahrungen gehen später die Kommunen und der Staat dazu über, bei der Förderung des Arbeiterwohnungs- baus auf risikoarme Vermögensbindungen zu bestehen (vgl. Novy/Prinz 1985: 37). 2. FRIEDRICH ENGELS UND DIE WOHNUNGSFRAGE Bereits 1845 hatte sich Engels in „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ mit der kapitalistischen Industriestadt kritisch auseinandergesetzt. Einige Jahrzehnte später beschäftigt er sich erneut mit städtischen Problemen.
In einer Artikelserie für den Leipziger Volksstaat, dem Parteiorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, greift er 1872/73 in die Debatte über die sogenannte Wohnungsfrage ein, die dann später in überarbeiteter Form als eigenständige Publikation veröffentlicht wird. Im Zentrum seiner Polemik stehen dabei die „kleinbürgerlichen Sozialisten“. Damit ist vor allem 15 der französische Anarchist Pierre-Joseph Proudhon gemeint, sowie Vertreter des philanthropischen Bürgertums. Zunächst unterstellt Engels dem „Reformeifer der Bourgeoisie“ ein grundlegendes Motiv: Ihr gehe es vornehmlich darum, Seuchen wie Cholera, Pocken oder Typhus einzuhegen, denn der „Würgeengel“ der Epidemien springe immer wieder von den Elendsvierteln auf die wohlhabenden Wohnquartiere über. Entsprechend versuche die bürgerliche Klasse im „edlen Wetteifer für die Gesundheit“ die übelsten sozialen Missstände abzumildern (Engels 1989 [1872/73]: 233ff.). Die philanthropischen Reformer (u. a. auch Huber), deren „Moralpredigten“ er genüsslich zerpflückt, werden von ihm mit Hohn übergossen. Alle Versuche, die Wohnsituation auf der Grundlage kapitalistischer Verhältnisse verbessern zu wollen, hält Engels für illusionär: Die Wohnungsnot sei eine gesetzmäßige Folge des Systems und nehme mit der Entwicklung des Kapitalismus immer größere Ausmaße an. Über- legungen des Anarchisten Joseph Proudhon, der die Arbeiter*innen durch den Erwerb eines eigenen Häuschens in Form von Siedlungskolonien „autonomer“ machen will, stellen für ihn lediglich den Versuch dar, Proletarier*innen in Kleinkapitalist*innen zu verwandeln. Den „fertigen sozialen Rettungsplan“ im Sinne von Proudhon kann man nach Engels vergessen.
Der vormalige „abstrakte Sozialismus“ müsse vielmehr durch eine praktisch-revolutionäre Politik ersetzt werden: „Wie eine zukünftige Gesellschaft die Verteilung des Essens und der Wohnungen regeln wird, darüber zu spekulieren, führt direkt in die Utopie.“ (Ebd.: 285) Erst mit der proletarischen Revo- lution werde es zu einer umfassenden Lösung der Wohnungsfrage kommen. Entspre- chend weist er auch kategorisch die Behauptung von Sozialreformern zurück, dass es den Kapitalisten schon aus ureigenem Interesse daran gelegen sei, mithilfe von Siedlungsprojekten das Problem der Wohnungsnot zu bearbeiten. Bemerkenswer- terweise verliert Engels kein Wort über die erfolgreich betriebenen Werkssied- lungen, die damals in England oder Deutschland aufkommen. Auf jeden Fall unter- schätzt er das Regenerationspotenzial des kapitalistischen Gegners erheblich (vgl. Posener 1982). Seine Kampfschrift „Zur Wohnungsfrage“ dient vornehmlich dazu, das Vordringen von Ideen à la Proudhon innerhalb der deutschen Arbeiter*innenbewe- gung zu verhindern. Doch in seinem Vorwort zur zweiten Auflage muss Engels einge- stehen, dass der Wunsch der „Kathedersozialisten und Menschenfreunde aller Art“, Arbeiter*innen in Eigentümer*innen ihrer Wohnungen zu verwandeln, weiterhin im ideologischen Diskurs eine wichtige Rolle spielt (Engels 1989 [1887]: 650). 3. AUSBREITUNG DER WOHNUNGSGENOSSENSCHAFTSBEWEGUNG Als Reaktion auf den anwachsenden Pauperismus, also der Verelendung größerer Bevölkerungsteile, und die immer wieder ausbrechenden Epidemien gewinnt im späten 19. Jahrhundert die „soziale Frage“ im Regierungsdenken zunehmend an Bedeutung. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfolge – etwa auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung – führen zur Übertragung des technisch-naturwissen- schaftlichen Fortschrittsmodells auf die Lösung der Armutsprobleme.
Aus dieser Perspektive erscheinen politische Fragestellungen und Konflikte vor allem als sozialtechnologische Probleme. „Gesundheit“ bzw. „Sozialhygiene“ entwickeln sich zu einem zentralen Dispositiv, das unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche mitei- nander in Beziehung setzt und als normalisierende Macht wirkt. Mit der Entstehung einer „neuen Landschaft des Sozialen“, so der französische Philosoph Gilles Deleuze (1979), die weit über die Praxis der karitativen Fürsorge Utopische Gemeinschaften und Siedlungsassoziationen 16 Klaus Ronneberger hinausreicht, bilden sich im Deutschen Kaiserreich die Grundlagen des bis heute gültigen Sozialrechts heraus. So wird 1889 mit der Einführung des Bismarck’schen Sozialversicherungssystems auch die sogenannte Gemeinnützigkeit juristisch fixiert. Die neu eingeführten Alters- und Invalidenversicherungsanstalten sind dazu ange- halten, ihre Rücklagen zinsgünstig in Arbeiterwohnungsbauprojekte anzulegen. Solche Vorgaben führen zu einem Aufschwung der Baugenossenschaftsbewegung, die im wachsenden Maße zur Wohnungsversorgung der Arbeiter*innenschaft beiträgt und damit allmählich den paternalistischen Werkswohnungsbau von Großindustri- ellen (z. B. Thyssen/Krupp) in den Hintergrund treten lässt (vgl. Kieß 1991: 392). Die Haltung der Sozialdemokratie gegenüber den Wohnungsgenossenschaften, die sich damals im Deutschen Kaiserreich vornehmlich aus dem Umfeld vaterlän- disch orientierter Bauvereine, der bürgerlichen Lebensreform- und Gartenstadtbe- wegung sowie christlicher Gewerkschaften rekrutieren, bleibt zunächst reserviert. Ähnlich wie Engels befürchtet man die Ausbreitung eines kleinbürgerlichen Besitzin- dividualismus innerhalb der Arbeiter*innenschaft. Doch angesichts der wachsenden Erfolge der Baugenossenschaften kommt es zu einer Umorientierung innerhalb der SPD und der ihnen nahestehenden Gewerkschaftsorganisationen.
So entsteht mit der Gründungswelle von Spar- und Bauvereinen ein Genossenschaftstyp (Gemeinschafts- eigentum und kollektive Infrastrukturen), dessen neuartige Wohnformen einer sozi- aldemokratischen egalitären Programmatik entgegenkommen. Zugleich erweitern die Arbeiter*innenorganisationen ihre Zielvorgaben in Richtung Wohnungsbau. Dabei erweisen sich Konsumgenossenschaften, Ortskrankenkassen (vor allem AOK) sowie die weit verbreiteten Kleingartenvereine als wichtige Motoren für den Ausbau von Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften. Schließlich beginnen Mieterschutzver- eine, eine wichtige Selbsthilfeorganisation der Arbeiter*innenschaft, mit Hilfe staat- licher Förderungen selbst als genossenschaftliche Bauherren aktiv zu werden (vgl. Novy/Prinz 1985: 53ff.). Man kann diese reformpolitischen Bestrebungen der Sozial- demokratie als „Inselstrategie“ umschreiben, die langfristig auf eine Umgestaltung der bestehenden kapitalistischen Ordnung hinarbeitet. Auf jeden Fall werden bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Deutschland bereits zwanzig Prozent der Wohnungen mithilfe gemeinnütziger Baugesellschaften errichtet (vgl. Schröteler-von Brandt 2008: 144). 4. PROLETARISCHE INITIATIVEN VON ,UNTEN‘: DIE WIENER SIEDLUNGSBEWEGUNG UND DER GILDEN-SOZIALISMUS Mit den revolutionären Ereignissen im Spätherbst 1918, dem Sturz des Habsburger Kaiserreichs, gewinnt der proletarisch-sozialistische Siedlungsgedanke an Einfluss. Vor allem in der Metropole Wien formiert sich eine der bedeutsamsten autonomen Bewegungen. Dafür gibt es eine Reihe von historischen Gründen: Anfang des 20. Jahr- hunderts gehörten die Wohnverhältnisse des Wiener Proletariats zu den übelsten in Europa.
Schon bald nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommt es angesichts der sich verschlechternden Ernährungslage in den ,grünen‘ Außenbezirken der Stadt zu Landbesetzungen, um Gärten für die Selbstversorgung und gegebenenfalls auch Behelfsunterkünfte anzulegen. Häufig tolerieren die kaiserlichen Behörden solche ,wilden‘ Nutzungen, da diese Praxis zur Entlastung der angespannten Versorgungs- situation in der Hauptstadt beiträgt. Der Zusammenbruch des K. u. k.-Regimes bringt tiefgreifende strukturelle Verwerfungen mit sich. Vormals bestand das Habsburger- reich aus einem fast autarken Wirtschaftsraum mit ausgeprägten internen Arbeits- 17 teilungen, was Rohstoffe und Industriestrukturen anbetraf. Doch nun befinden sich die wichtigsten Bezugsquellen von Kohle, Getreide und Fleisch außerhalb der neuen österreichischen Landesgrenzen. Wien verfügt über kein funktionierendes ,Hinter- land‘ mehr. Im Winter 1918/19 spitzt sich die angespannte Versorgungslage nochmals zu. Von den alliierten Siegermächten wird die Blockadestrategie gegenüber Öster- reich vorerst nicht aufgegeben, womit sich ein weiterer Hungerwinter abzeichnet. Die Ernährungskrise (verschärft durch den Ausbruch einer weltweit grassierenden Grippeepidemie) führt in den nächsten Monaten immer wieder zu Hungerrevolten (vgl. Pfoser/Weigel 2017: 34ff.). In der Krisen- und Aufbruchsstimmung der Novemberrevolution von 1918 entsteht in Wien eine ,wilde‘ Siedlungsbewegung. Unter Ignorierung bestehender Eigentums- rechte werden im Umland Schrebergärten angelegt, um darauf Gemüse und Klein- tiere zu züchten. Gleichzeitig beginnen viele Kleingärtner*innen auch Wohnhütten zu errichten. Schließlich leben mehr als 100.000 Menschen in „Bretteldörfern“ (Hauer/ Krammer 2019: 170ff.). Diese spontanen Aneignungsformen stellen eine Mischung aus Aufruhr und Reproduktionszwängen dar.
In den nächsten Jahren ändert sich allmählich die soziale Zusammensetzung der Wiener Siedlungsbewegung. Nachdem viele der ursprünglichen Landbesetzer*innen aus unterschiedlichsten Gründen aufgegeben haben, stabilisieren sich die noch bestehenden Siedlungen zu dauerhaften Gemeinschaften. Arbeiter*innen aus dem Umfeld der Gewerkschaften oder linker Parteien bewirken eine Politisierung der Siedlungsaktivitäten, die weit über die Zwecke einer spontanen Selbsthilfeorganisa- tion hinausgehen. Im Gegensatz zum Deutschen Kaiserreich konnten vor 1914 Bauvereins- und Schrebergartenvereine, mit ihren ausgeprägten kleinbürgerlich-besitzindividualis- tischen Ideologien in der Habsburger Metropole nicht recht Fuß fassen. Gerade weil es diesbezüglich keine ausgeprägten Traditionslinien gibt, kann sich in Wien nach 1918 eine sozialistisch orientierte Siedlungsbewegung zur dominanten Kraft entwi- ckeln: In genossenschaftlichen Assoziationen wird der landwirtschaftliche Anbau von Lebensmitteln betrieben, eigene Baumaterialien hergestellt und verschiedene Formen einer Selbstverwaltung praktiziert (vgl. Novy 1981a: 27ff.). Auch moderne Formen der Wohnkultur (Rationalisierung und Normierung im Haushalt) kommen hier experimentell zum Einsatz. Bei dieser gemeinnützigen Ökonomie spielt neben der Materialbeschaffung auf Selbstkostenbasis auch die Eigenleistung der Sied- ler*innen eine herausragende Rolle. Man versteht sich als Zellen einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft (vgl. Blau 2014: 118ff.). Die sozialdemokratische Gemeindeverwaltung in Wien steht diesem Phänomen zwiespältig gegenüber. Es gibt Bedenken, ob diese Bewegung nicht agrarromanti- sche Ideologien und ein individualistisches Besitzdenken fördern würde. Doch nach großen Massendemonstrationen der Landbesetzer*innen signalisiert die Parteifüh- rung eine verstärkte Kooperation mit den Siedlungsgenossenschaften.
Es kommt auch zu neuartigen sozialen Allianzen mit den Gewerkschaften, die bislang aus ähnlichen ideologischen Gründen wie die Sozialdemokratie der Selbsthilfebewe- gung ablehnend gegenübergestanden hatten. Im September 1921 erfolgt die Grün- dung der Gemeinwirtschaftlichen Siedlungs- und Baustoffanstalt (GESIBA). Mitglieder der Baugewerkschaften schließen sich mit dem Österreichischen Zentralverband der Kleingärtner- und Siedlungsgenossenschaften (ÖVSK) und der österreichischen Mietervereinigung zu einer Baugilde zusammen (vgl. Weihsmann 2002: 104). Soweit es die Machtverhältnisse zulassen, versucht man die Bauproduktion aus der privat- Utopische Gemeinschaften und Siedlungsassoziationen 18 Klaus Ronneberger kapitalistischen Marktlogik herauszulösen. Diese branchenbezogene Sozialisie- rungspolitik wird damals auch unter dem Namen „Gilden-Sozialismus“ verhandelt. Konzeptionell handelt es sich um ein Vergesellschaftungsmodell, das zwischen dem marxistischen ,Staatssozialismus‘ und anarchistischem Syndikalismus anzusiedeln ist. Die Gilden, vormals Instrumente des feudalen Ständesystems, sollen zukünftig als Formen des Self-Government in den verschiedenen Industriezweigen die Herr- schaft des Kapitals ersetzen und eine doppelte Funktion erfüllen: Autonomie kollek- tiver Arbeitsorganisationen bei gleichzeitiger Verwirklichung eines individuellen „Glücks“ (Bédarida 1975: 69ff.). Vor allem in Deutschland und Österreich gibt es damals Bestrebungen in enger Zusammenarbeit mit den Organisationen der Arbeiter*innen- bewegung (Gewerkschaften und Sozialdemokratie), die Mobilisierung der Massen in eine konkrete gemeinwirtschaftliche Aufbauarbeit („Revolution durch Evolution“) zu überführen (Novy 1981a: 34).
Das Wiener Modell, bei dem die Siedler*innen zugleich die Produzent*innen und Konsument*innen ihrer Heimstatt, der Gemeinschafts- einrichtungen und der Nahrungsmittelproduktion sind, kommt damit der Idee des „Gilden-Sozialismus“ sehr nahe. Das autonome Siedeln wird auch von Intellektuellen aus dem Umfeld der österreichischen Sozialdemokratie (Otto Bauer, Otto Neurath etc.) und progressiven Architekt*innen wie Josef Frank, Adolf Loos und Margarete Lihotzky unterstützt, da sie diese Aneignungspraxis als eine neue Form der „Soziali- sierung von unten“ begreifen. Angesichts der Zunahme von Landbesetzungen versucht die Wiener Administra- tion die Besiedlung von geschützten Grünflächen einzudämmen. Um eine Kontrolle über die Bewegung zu erreichen, werden die Vergabe des Baurechts auf Gemeinde- land erleichtert, eine Umwidmung von besetzten Grundstücken in Siedlungs- und Kleingartenzonen vorgenommen sowie Pachtverträge mit den Siedler*innen abge- schlossen. Gleichzeitig gelingt es der sozialdemokratischen Stadtverwaltung mithilfe des 1921 neu eingerichteten Siedlungsamtes der Gemeinde Wien die Gründung des Hauptverbandes für Siedlungs- und Kleingartenwesen zu bewirken und damit die Aufspaltung der Bewegung in Schrebergärtner*innen einerseits und hausbauende Siedler*innen andererseits, organisatorisch zu vermeiden (vgl. Weihsmann 2002: 104). Die Bemühungen der Sozialdemokratie um eine Kooperation mit den Landbe- setzer*innen dauern nur wenige Jahre an. Nachdem sich ab 1923 die Ernährungs- lage halbwegs entspannt und die österreichische Wirtschaft einen Aufschwung erfährt, schwindet die Legitimationsgrundlage der autonomen Siedlungsbewegung, als kooperative Selbstversorgungsunternehmung wesentlich zur Reproduktion der städtischen Gesellschaft beizutragen.
Die Gemeinde Wien lässt zwar weiterhin Sied- lungen mit Grünanlagen errichten, die sich aber konzeptionell deutlich von den genossenschaftlichen Konzepten der ersten Nachkriegsjahre unterscheiden (vgl. Blau 2014: 152ff.). Nun geht es um die Quantität eines Bauprogramms, das in einem über- schaubaren Zeitraum genügend Wohnraum für die Arbeiter*innenschaft produziert und zugleich die politische Hegemonie der roten Stadtregierung absichert. Die etatis- tische Praxis des sozialdemokratischen „Kommunalsozialismus“ verdrängt die Vision eines autonomen „Genossenschaftssozialismus“, der als wenig effizient gilt (vgl. Novy 2019 [1981b]: 44). Gleichwohl hat die Siedlungsbewegung mit ihren sozialen Initiativen wesentlich zum späteren Modell des Roten Wien beigetragen. Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise gewinnt Anfang der 1930er-Jahre die Errichtung von Erwerbslosensiedlungen als staatliche Nothilfemaßnahme (ähnlich wie in Deutschland), an Bedeutung. Die österreichische Sozialdemokratie versucht in halbherziger Weise den Drang der Arbeitslosen zur ,eigenen Scholle‘ im genos- 19 Utopische Gemeinschaften und Siedlungsassoziationen senschaftlichen Sinne zu kanalisieren. Aber inzwischen dominieren bei der Mehr- heit der Wiener Siedlungsverbände konservativ-agrarromantische oder sogar natio- nalsozialistische Ideologeme. Die reaktionäre und faschistische Überformung des Siedlungsgedankens trägt wesentlich dazu bei, dass nach 1945 in Österreich solche Konzepte keine bedeutende städtebauliche Rolle mehr spielen. Zwar ist es den Wiener Siedler*innen der frühen 1920er-Jahre in einer historisch einzigartigen Situ- ation gelungen, die ,Wohnungsfrage‘ zu einem zentralen Thema der Stadtpolitik zu machen, aber ihre Utopie einer genossenschaftlich organisierten Stadt ,von unten‘ findet in der Stadtpolitik der Nachkriegszeit keinen nachhaltigen Widerhall mehr.
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Jahrhundert eine gewichtige Rolle spielt. Selbsthilfe meint hier: Wohnungssuchende, die je über nur geringes Eigenkapital verfügen (oder es erst ansparen), legen dieses zusammen, um so Wohnungsbauvorhaben finanzieren und sich mit Wohnraum versorgen zu können. Dabei hat – anders als bei Kapitalgesellschaften – jedes Mitglied eine Stimme. Dank diesem demokratischen Potenzial wurden die ursprünglich oft von bürgerlichen Philanthropen gegründeten Wohnungsbaugenossenschaften in den 1920er-Jahren zu einem Standbein der Arbeiter*innenbewegung (Novy 1983a; vgl. auch Ronne- berger in diesem Band). Zum anderen gibt es die bauliche Selbsthilfe im physischen Sinn (vgl. auch Kichler u. a. in diesem Band), die – gerade in jenen frühen Jahrzehnten des zwanzigsten Jahr- hunderts – ein zeitweise nicht unbedeutendes Element des genossenschaftlichen Wohnungsbaus war (vgl. bspw. Novy 1983b). Hier wirkt eigene körperliche Arbeit als (partieller) Ersatz für fehlendes Eigen- oder Fremdkapital: Wer beim Bau seines künftigen Zuhauses selbst mit anpackt, muss entsprechend weniger Geld für die Bezahlung anderer aufwenden, senkt dadurch die Baukosten und somit wiederum das erforderliche Ausmaß an Verschuldung – die verbreitete deutsche Bezeichnung Muskelhypothek ist also weniger treffend als die englische Entsprechung Sweat Equity, die den Begriff für Eigenkapital enthält. Diese beiden Aspekte sind insofern miteinander verknüpft, als auch die bauliche Selbsthilfe zumeist ein kollektives Unterfangen ist. Auch wenn sie dem Eigen- heimbau diente, ihr Resultat also in individuelles Eigentum überging, so war der Arbeitsprozess selbst doch oft nachbarschaftlich organisiert.
Am kongruentesten wirkt bauliche Eigenleistung folglich in genossenschaftlichen Strukturen, in denen https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_3 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. 24 Tobias Bernet auch das Eigentum an dem durch sie geschaffenen Wohnraum ein geteiltes ist. Dabei hat sich historisch Selbsthilfe, monetär wie physisch, „aufgrund der spezi- fischen Eigenschaften des Gebrauchsgutes Wohnung – teuer und kompliziert in der Herstellung, langlebig, nicht beweglich – als strukturell begrenzt“ erwiesen, „zumal für die einkommensschwachen Wohnungssuchenden“ (Bierbaum/Riege 1989: 62). Neben Eigen- und Fremdkapital musste deshalb auch der genossenschaftliche Wohnungsbau, sollte er nicht nur Mittelschichtshaushalte versorgen, oftmals auf die eine oder andere Form von öffentlicher Förderung zurückgreifen. Dies gilt nicht nur für Neubau, sondern auch für die Sanierung von lange vernachlässigtem Bestands- wohnraum. Ein wohl einmaliges Beispiel dafür stellt die in Berlin in den 1980er- und 1990er-Jahren praktizierte Zuschussförderung von kleinteiligen Selbsthilfepro- jekten im Altbau dar. Anhand von deren Entwicklung und Funktionsweise erörtert der vorliegende Beitrag einige Aspekte der Wechselwirkungen zwischen öffentlicher Förderung, ökonomischer Selbstorganisation und baulicher Eigenleistung. Dabei ist vor allem von Interesse, dass die in West-Berlin erdachte Selbsthilfeförderung sich in ihren Modalitäten von den dort und in der Bundesrepublik ansonsten üblichen Wohnungsbauförderprogrammen merklich unterschied und insofern auf (zu) wenig erprobte Wege der öffentlichen Finanzierung des Wohnungsbaus verweist.
Dass in West-Berlin, insbesondere im Bezirk Kreuzberg, ab 1982 kleine Gruppen von mehrheitlich jüngeren Leuten staatliche Unterstützung bei der Instandsetzung heruntergekommener Mietshäuser erhielten, war eines der vielschichtigen Resultate eines städtebaulichen Paradigmenwechsels von globalen Dimensionen, der sich auf jenen wenigen Quadratkilometern Altbaugebiet in besonderer Weise verdichtete. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich zunächst der am Leitbild der Funktions- trennung orientierte Wohnungs- und Städtebau modernistischer Prägung entfaltet, doch schon seit den 1960er-Jahren waren dessen Konzepte zunehmend in die Kritik geraten. Die „Kahlschlagsanierungen“, denen ältere Viertel vielerorts zum Opfer fielen, stießen auf Protest (vgl. Klemek 2011). Altbaugebiete wurden als Wohnort zunehmend „wiederentdeckt“; gerade für die zahlreicher werdenden Wohngemein- schaften erwiesen sich die gründerzeitlichen Grundrisse als geeigneter als die auf konventionelle Kleinfamilien zugeschnittenen Neubauwohnungen (Reichardt 2014: 363). Obschon das Wohnen zur Miete weitergehenden baulichen Anpassungen Grenzen setzte, wurde die Alltagspraxis des gemeinschaftlichen Wohnens zunächst nur sehr vereinzelt mit der Frage nach kollektivem Eigentum an Wohnraum verknüpft. Ende der 1970er-Jahre kam es in der Bundesrepublik zuerst in anderen gesellschaftlichen Bereichen und Wirtschaftszweigen zu einem verstärkten Interesse an Selbsthilfe und alternativer Ökonomie: So entstanden etwa Handwerkskollektive, genossen- schaftliche Verlage oder Selbsthilfegruppen im gesundheitlichen Bereich.
Dass diese Konzepte bald auch auf die Wohnungsfrage übertragen wurden, verdankte sich nicht zuletzt der Zuspitzung der städtebaulichen Krise: Während etwa in West-Berlin 1980 rund 80.000 Wohnungssuchende registriert waren, standen gleichzeitig hunderte alte „Mietskasernen“ leer, von denen viele gemäß nach wie vor gültigen Flächensa- nierungsplanungen zum Abriss vorgesehen waren (ebd.: 521). Vor diesem Hintergrund wurden insbesondere in Kreuzberg ab Ende 1979 zahl- reiche Häuser besetzt. In ihrer (scheinbaren) Parallelität zu ähnlichen, allerdings von je eigenen stadt- und/oder jugendpolitischen Schwerpunkten geprägten Protesten in anderen bundesdeutschen und europäischen Städten, fügten die West-Berliner Haus- 25 besetzungen sich in das Bild einer transnationalen „Jugendrevolte“ ein (Andresen / van der Steen 2016). Auf dem Höhepunkt der Bewegung im Sommer 1981 waren in der Teilstadt über 160 Häuser besetzt (Holm/Kuhn 2010: 108). Obschon die Motivlagen der Besetzer*innen vielschichtig waren, sahen sich viele von ihnen in der einen oder anderen Weise als „Instandbesetzer“, die den praktischen Beweis dafür antreten wollten, dass der Erhalt von Altbauten sinnvoll und günstiger als Abriss und Neubau sei. So lag „die Besonderheit der Instandbesetzungen […] darin, dass Protestmittel und -ziele in eins fielen“: Die Besetzer*innen machten nicht nur auf wohnungspoli- tische Missstände aufmerksam, sondern versuchten diese durch bauliche Eigenleis- tung „unmittelbar zu beheben“ (Kreis 2017: 44). Dadurch war die Hausbesetzer*innenbewegung in hohem Maße anschlussfähig an eine sich herausbildende Formation aus progressiven Fachleuten und Lokalpoli- tiker*innen, die sich in Kreuzberg daran machte, die „sozialautoritäre“ Sanierungs- praxis (Bodenschatz 1987: 179) zu überwinden.
Eine entscheidende Rolle in dieser Gemengelage spielte die seit 1978 im östlichen Kreuzberg tätige Altbau-Sektion der Internationalen Bauausstellung (IBA 1987). Der fachlich und finanziell gut ausgestat- tete IBA-Apparat wurde zum Katalysator einer – so das geflügelte Wort – ‚Behutsamen Stadterneuerung‘. Die IBA agierte dabei im Zusammenspiel mit neuartigen gebiets- weisen Bürger*innenbeteiligungsgremien, die zeitweise ein De-facto-Veto hinsichtlich der meisten Bau- und Sanierungsvorhaben innehatten, da die Kreuzberger Bezirks- verordnetenversammlung (BVV) ihren Empfehlungen in der Regel folgte (vgl. Orlowsky 1989). 2. DIE ENTWICKLUNG DER BERLINER SELBSTHILFEFÖRDERUNG Mit dem Aufkommen der Instandbesetzer*innenbewegung intensivierte die IBA ihre Arbeit zur Thematik der baulichen Selbsthilfe; der Architekt Uli Hellweg wurde als „Selbsthilfebeauftragter“ eingesetzt (vgl. Hellweg 1981). 1 Im Frühjahr 1981 kam es zu ersten Gesprächen über ein „auf Selbsthilfegruppen abgestimmtes Förderungs- programm“ (Jüttner/Banzhaf 1982: 38) zwischen Vertreter*innen der Senatsver- waltung für Bau- und Wohnungswesen, IBA-Fachleuten sowie Mitgliedern des neu gegründeten Arbeitskreises Berliner Selbsthilfegruppen im Altbau (AKS). Der AKS war kurz zuvor als Zusammenschluss von Gruppen in unterschiedlichen Situa- tionen entstanden: „Eigentümergruppen in unterschiedlicher Rechtsform (Verein, Genossenschaft, BGB-Gesellschaft 2 …); Gruppen, die Nutzungsverträge besitzen oder Erbpachtverträge anstreben; Mietergruppen, die in Altbauten wohnen“ (ebd.). Im Zuge der Verhandlungen über die Ausgestaltung einer Selbsthilfeförderung betonte der Arbeitskreis immer wieder, dass diese auch Gruppen offenstehen solle, die (noch) keine Eigentumsrechte an Gebäuden hatten (ebd.: 39). Dabei dachte man vor allem an Besetzer*innengruppen, die zur selben Zeit über die Legalisierung ihres Status verhandelten.
Gegenüber diesen verfolgte der seit Juni 1981 von der CDU geführte Senat eine ambivalente Politik: Während über Legalisierungen verhandelt wurde, kam es – trotz gegenteiliger Zusicherungen – immer wieder zu polizeilichen Räumungen (vgl. zu einer ausführlichen Chronologie der Instandbesetzer*innen- bewegung Suttner 2011: 121ff.). Angeblichen Sympathien für Selbsthilfemodelle von Senatsseite (Hellweg 1982) begegneten die Instandbesetzer*innen und ihr Umfeld deswegen überwiegend skeptisch. Dass die Förderung alternativer Projekte mit „Staatsknete“ auch als Strategie der „Befriedung“ oder gar der „Aufstandsbekämp- fung“ betrachtet werden konnte – mit der zudem eine Auslagerung öffentlicher Muskelhypothek und Staatsknete 26 Tobias Bernet Aufgaben einherging –, bescherte der linken Szene in den folgenden Jahren immer wieder heftige Konflikte (vgl. u. a. Kuhn 2014: 9ff., 133ff.). Vorerst erschien es jedoch folgerichtig, im Zuge der Hinwendung zur ‚Behutsamen Stadterneuerung‘ öffentliche Förderung für bauliche Selbsthilfe zu fordern – auch als eine Art Wiedergutmachung für die vorangegangene „Abrissbewirtschaftung“ (Hämer 1989: 3). Im Frühjahr 1982 wurde die Selbsthilfeförderung im Rahmen der „Richtlinien über die Förderung von Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen“ forma- lisiert (ModInstRL 1982). Geförderte Selbsthilfegruppen erhielten demnach in der Regel einen Zuschuss in Höhe von (zunächst) 85 Prozent der Brutto-Baukosten bei einer Förderungs-Obergrenze von 800 DM pro Quadratmeter Wohnfläche. Um einen Antrag auf Selbsthilfeförderung stellen zu können, musste eine Gruppe aus mindes- tens fünf Mitgliedern bestehen, als Verein, Genossenschaft oder Gesellschaft bürger- lichen Rechts (GbR) organisiert sein und durch Eigentum, Erbbaurecht oder Pacht langfristig über das zu sanierende Haus verfügen (Senator für Bau- und Wohnungs- wesen 1985a: 108).
Im Austausch für die Förderung wurde vereinbart, dass während 15 Jahren ein Verkauf des Hauses oder eine Umwandlung in Eigentumswohnungen nur mit Zustimmung des Landes Berlin möglich war – eine Sozialbindung, die sich im Verhältnis zu den erklärten Absichten der im AKS organisierten Selbsthilfegruppen (vgl. dazu ausführlicher unten) eher bescheiden ausnahm. Im Mai 1982 konnte der erste Fördervertrag abgeschlossen werden; bis 1985 war die Gesamtzahl der geförderten Selbsthilfehäuser bereits auf 94 gestiegen; 46 davon lagen in Kreuzberg. Das Fördervolumen lag in den ersten drei vollen Programm- jahren jeweils zwischen 20 und 30 Millionen DM (Senator für Bau- und Wohnungs- wesen 1985b: 16; BSM 1985: 40; Abgeordnetenhaus 1993: 32). Durch die Erfahrungen der ersten Projekte zeigten sich bald die Grenzen und Probleme der Selbsthilfeförde- rung. Vor allem die starre Deckelung der Fördermittel bei 800 DM pro Quadratmeter erwies sich angesichts des unterschiedlichen baulichen Zustands der Häuser als praxisfern. Der AKS mahnte 1984, dass mit Blick auf den „unterschiedlichen Instands- etzungs- und Modernisierungsbedarf“ die „tatsächlich notwendigen Maßnahmen auch durchgeführt werden“ müssten (AKS 1984). Zur Deckung der tatsächlichen Baukosten nahmen manche Gruppen zusätzliche Kredite auf. Der Förderanteil betrug somit bei vielen Projekten deutlich weniger als 85 Prozent der Baukosten. Bei Projekten, bei denen auch Grundstückskosten anfielen, weil die Gruppe ihr Haus als Genossenschaft oder Gesellschaft käuflich erworben hatte, machten Eigenanteil und Bankkredite zusammen oft 30 oder 40 Prozent der Gesamtkosten aus (vgl. bspw. Kuckuck/Wohlers 1990b: 17, 20).
Folglich sahen sich die Selbsthilfeprojekte und ihre Fürsprecher*innen erneut zu Kritik veranlasst, als der erforderliche Selbsthilfeanteil im Rahmen einer Neufas- sung der Berliner Modernisierungs- und Instandsetzungsförderungs-Richtlinie zum 1. Januar 1985 von 15 auf 20 Prozent angehoben wurde (ModInstRL 1985). Dabei hatte sich anhand der ersten Projekte gezeigt, dass solche Konditionen nur für Gruppen, „die ihren Pflichtanteil zumindest teilweise durch eigenes Kapital abgelten können […] akzeptabel“ waren, wie Uli Hellweg festhielt. Für diejenigen, die weitestgehend nur körperliche Eigenarbeit einzubringen in der Lage waren, bedeute die Änderung der Richtlinie eine „unzumutbare Belastung“, da dadurch bei vielen Projekten das erfahrungsgemäß maximal vertretbare Soll von 800 Bauhelferstunden pro Kopf (also bei einer Bauzeit von zwei Jahren einen knapp achtstündigen Arbeitstag jede Woche) überschritten würde. Schon für „einen alleinstehenden jungen Selbsthelfer“ sei mehr kaum zu leisten, dies gelte erst recht für „Gruppen wie alleinstehende Mütter 27 oder Väter“ (Hellweg 1985: 25). Die Senatsverwaltung hielt der Kritik am Umfang und den Modalitäten der Förderung kühl entgegen, dass auch eine achtzigprozentige öffentliche Finanzierung noch einen „sehr hohen“ Anteil darstelle, der „nur unter der Berücksichtigung gewisser Eingrenzungen vertretbar“ sei (Senator für Bau- und Wohnungswesen 1984). Tatsächlich funktionierte die bauliche Selbsthilfe dort am besten, wo Gruppen dank des Status eines Modellprojekts über mehr und flexibler verwendbare Förder- mittel verfügten. Dies gilt vor allem für den mit Ordnungszahl 103 versehenen Häuser- block am Kreuzberger Heinrichplatz, wo ab 1983 unter Leitung des neu gegründeten ‚alternativen Sanierungsträgers‘ Stattbau ein gutes Dutzend zuvor teilweise besetzte Häuser saniert wurden.
Aus diesem Projekt ging mit der Luisenstadt eG auch die einzige im Kontext der Berliner Instandbesetzer*innenbewegung gegründete Genos- senschaft hervor, die sich nicht auf ein oder zwei Häuser beschränkte. Die Förderung im eigentlichen Selbsthilfe-Programm floss in den folgenden Jahren (wie unten ausführlicher betrachtet) de facto vermehrt in eine „Eigen- tums-Selbsthilfe eher mittelständisch orientierter Gruppen“, wie Hellweg 1990 bilan- zieren musste. „Diejenigen, die preiswerten Wohnraum am nötigsten brauchen, bekommen ihn nicht mehr – auch nicht in Selbsthilfe.“ (Hellweg 1990: 4) Bis zu jenem Jahr waren rund 200 Selbsthilfehäuser gefördert worden (Rada 1993: 34). Mit der Wiedervereinigung des geteilten Berlin verschoben sich die Prioritäten der Stadterneuerungspolitik. Die Wohnungsbaupolitik der DDR hatte, wie diejenige der Bundesrepublik bis in die 1970er-Jahre, den großmaßstäblichen Neubau priori- siert; hinsichtlich der Grundstrukturen eines ‚fordistischen‘ Modernisierungspara- digmas waren sich Ost und West insofern nicht unähnlich. Das staatssozialistische Ostdeutschland hatte jedoch zu keinem Zeitpunkt über die Mittel verfügt, die Errich- tung von Großsiedlungen auf der grünen Wiese in einem mit der Bundesrepublik vergleichbaren Maß durch Erneuerungsmaßnahmen – und seien es großflächige Abrisse – in Altbaugebieten zu ergänzen. Daraus resultierte in Ostberlin ein weit- gehender Erhalt der gründerzeitlichen Stadtstruktur bei gleichzeitiger flächende- ckender Vernachlässigung der Bausubstanz. Vor diesem Hintergrund setzte die Politik nach der Wiedervereinigung vermehrt darauf, privates Kapital direkt in die Sanierung des Altbaubestands zu lenken, etwa mittels steuerrechtlicher Sonderabschreibungsmöglichkeiten.
Dieses Vorgehen unterschied sich erheblich von den umfangreichen öffentlich finanzierten Sanie- rungsprogrammen, mittels derer in West-Berlin und der ‚alten‘ Bundesrepublik zunächst Flächensanierungen und später stellenweise auch behutsamere Ansätze implementiert worden waren. Dass sich die politische Steuerung der Stadterneue- rung in Ostberlin zu einem großen Teil auf die rechtliche Moderation der Folgen von einzelnen Wohnungsmodernisierungen verlagerte (vgl. Holm 2006), kann jedoch auch als ein Zeichen der Kontinuität betrachtet werden: Der bauliche Erhalt der Gründer- zeitviertel war unbestritten, Flächensanierungen kein Thema mehr – die diesbezüg- lichen Grundsätze der ‚Behutsamen Stadterneuerung‘ wurden so gesehen einfach von West- nach Ostberlin „rübergeklappt“ (Bernt 2003). 3 Somit kam auch den Ostber- liner Hausbesetzungen, die sich nach dem Fall der Mauer vor allem in den Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain ereigneten, „bei der Durchsetzung eines neuen Sanierungsregimes keine zentrale Rolle zu“ (Holm/Kuhn 2010: 112) – anders als denjenigen in Kreuzberg ein Jahrzehnt zuvor. Auch die Selbsthilfeförderung wurde unverändert auf die Ostberliner Stadter- neuerung übertragen. 1992 lagen schon 63 Prozent aller geförderten Selbsthilfepro- Muskelhypothek und Staatsknete 28 Tobias Bernet jekte in den östlichen Bezirken (Abgeordnetenhaus 1994: 68). 1990 und 1996 wurde die Förderungsrichtlinie wiederum geändert (ModInstRL 1990, 1996), wobei unter anderem die Förderhöhe nach Charakter der Projekte festgelegt wurde: 85 Prozent für gemeinnützige Träger mit sozialen Aufgaben, 80 Prozent für genossenschaftliche Projekte, 75 Prozent für Eigentümergemeinschaften. Dabei wurde nur noch die Hälfte der Förderung als Zuschuss gewährt; die andere Hälfte in Form von Darlehen, die durch ihre Zinslast schrittweise miethöhenwirksam wurden.
Nach dem im bundes- deutschen und West-Berliner geförderten Wohnungsbau seit den 1970er-Jahren verankerten Modell der degressiven Aufwendungsförderung wurden die Kapital- kosten von (Förder)Darlehen wiederum in schrittweise reduzierter Höhe bezuschusst (vgl. Holm 2016: 55ff.) Mit diesen Konditionen wurden im Laufe der 1990er-Jahre insgesamt weitere rund 100 Projekte – vornehmlich im Ostteil der Stadt – gefördert. Im Zuge der Austeritätspolitik der ab 2002 amtierenden Berliner SPD-PDS-Ko- alition wurde „die Förderung von Modernisierungs- und Instandsetzungsmaß- nahmen fast vollständig eingestellt“ (Abgeordnetenhaus 2005: 32). Auch die Mittel für die bauliche Selbsthilfe wurden „radikal zusammengestrichen“ (Rada 2002: 24). Der Senat begründete den Rückzug aus der Sanierungsförderung mit dem Befund eines „in den meisten Gebieten erreichten hohen Grades der baulichen Erneuerung im Wohnungsbestand“ (Abgeordnetenhaus 2005: 32). Zwar war der Sanierungsrück- stau im Ostteil Berlins bis zur Jahrtausendwende tatsächlich stark zurückgegangen, doch nicht in einem Ausmaß, das den Ausstieg aus der Modernisierungsförderung sachlich zwingend erscheinen lassen hätte (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwick- lung / Investitionsbank Berlin 2002: 52). Vielmehr war das Ende der direkten öffentli- chen Finanzierung der Stadterneuerung einerseits die Kulmination eines Prozesses der zunehmenden „Privatisierung der Stadterneuerung“ (Holm 2006: 304) und ande- rerseits eine Reaktion auf eine massive Haushaltskrise, die teilweise auf den soge- nannten Berliner Bankenskandal zurückging. Insgesamt wurde im Rahmen des Selbsthilfe-Programms von 1982 bis 2002 die Sanierung von knapp 300 Berliner Mietshäusern gefördert, wofür über 500 Milli- onen DM an öffentlichen Mitteln aufgewendet wurden (Senatsverwaltung für Stadt- entwicklung / Investitionsbank Berlin 2004: 30; Rada 2007: 22). 3.
WIRKUNGSWEISEN UND GRENZEN VON MODERNISIERUNGSFÖRDERUNGEN In einer Stadt mit über 50.000 gründerzeitlichen Wohngebäuden ist das Programm auch mit dieser Gesamtbilanz quantitativ als Nischenphänomen zu klassifizieren. 4 Doch eine zeithistorische Betrachtung der Ökonomie der Selbsthilfeförderung vermag Potenziale einer Wohnungs (bau-)politik aufzuzeigen, die eine Alternative zum Main- stream des bundesdeutschen und (West-)Berliner sozialen Wohnungsbaus markieren. Dabei stehen gerade die Debatten, in die die West-Berliner Selbsthilfeprojekte der 1980er-Jahre eingebettet waren, mit am Anfang der Herausbildung von wohnungs- politischen Ansätzen und Positionen, die mit der „Rückkehr der Wohnungsfrage“ (Rink u. a. 2015) und dem Erstarken wohnungspolitischer Bewegungen (Rink/Vollmer 2019) in den letzten rund zehn Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Dass dieser Zusammenhang insbesondere hinsichtlich der Entwicklung Kreuz- bergs nicht nur ein ideeller ist, darauf hat Andrej Holm bereits 2014 hingewiesen. Die dort ab etwa 2007 zu beobachtenden gravierenden Mietsteigerungen können als „verspätete Aufwertung“ betrachtet werden, zumal „mit der schrittweisen Erneue- 29 rung der Altbausubstanz […] die baulichen Grundlagen der Aufwertung bereits seit den 1980er-Jahren gegeben“ waren. Doch blieb die aufgrund der Aufhebung der allgemeinen Mietpreisbindung für West-Berliner Altbauwohnungen 1988 5 und der neuen bzw. wiederhergestellten ‚Citylage‘ Kreuzbergs im wiedervereinigten Berlin befürchtete ‚Umstrukturierung‘ (damals noch der weitaus geläufigere Begriff als Gentrification) in den 1990er-Jahren zunächst weitgehend aus (Holm 2014: 304ff.). Dies lag unter anderem, wie Holm überzeugend ausführt, an den Besonder- heiten der Kreuzberger Stadterneuerungspolitik im vorangegangenen Jahrzehnt.
Insbesondere im Rahmen der IBA war es gelungen, die nach wie vor vergleichsweise üppigen öffentlichen Mittel, die in West-Berlin in die Wohnungsbauförderung flossen, zu großen Teilen in erhaltende Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen umzulenken, die in der Regel mit 15jährigen Mietpreis- und Belegungsbindungen verbunden waren (Holm 2014: 310). 6 Dass im östlichen Kreuzberg über 9.000 Altbauwohnungen – rund ein Drittel des gesamten Wohnungsbestands – durch Förderbedingungen gebunden waren (S.T.E.R.N. 1993: 8–10; Thörnig/Horvath 1989), trug dazu bei, dass die stadtteilweite Erneuerung eines zuvor von Desinvestition geprägten, überalterten Wohnungsbau- bestands bei nur moderaten Mietsteigerungen durchgeführt wurde – ein im inter- nationalen und historischen Vergleich durchaus unübliches Ergebnis. Erst „mit einer Verzögerung von etwa 20 Jahren“ begannen sich Anzeichen der bereits um 1990 prognostizierten „Aufwertungs- und Verdrängungsdynamik“ zu mehren (Holm 2014: 305f.). 7 Darin zeigt sich einerseits die Wirksamkeit des hohen öffentlichen Mitteleinsatzes in einem überschaubaren Gebiet, andererseits aber auch dessen – zeitliche – Grenzen: Letztlich vermochte auch das Kreuzberger „Sondermodell“ (Bodenschatz/Pollina 2010: 41) der ‚Behutsamen Stadterneuerung‘ in den meisten Fällen lediglich längere Gnadenfristen vor stärkeren Mietsteigerungen zu erkaufen (berlinweit schrumpfte der Bestand der aufgrund von Modernisierungs- und Instandsetzungsförderung einer Mietpreis- und Belegungsbindung unterworfenen Wohnungen von 40.000 Wohnungen im Jahr 2002 bis 2018 auf 15.900 Wohnungen; vgl. Investitionsbank Berlin 2013: 41; Dies. 2020: 52).
Dies verweist auf die Grundproblematik des bundesdeutschen und West-Berliner geförderten Wohnungsbaus: Einem zeitweise immensen Mittel- aufwand der öffentlichen Hand stehen zeitlich begrenzte Sozialbindungen gegen- über; in jede Förderbedingung ist ihr Auslaufen von Anfang an mit eingeschrieben. Damit verschränkt ist eine gewollte Blindheit hinsichtlich Eigentumsstrukturen bzw. Anbietertypen: Genossenschaften und kommunale Wohnungsgesellschaften können die Förderung ebenso in Anspruch nehmen wie profitorientierte Bauherren. Diese Konzeption ist seit Jahrzehnten immer wieder kritisiert worden. Beiträge aus dem Umfeld der West-Berliner Selbsthilfeprojekte der 1980er-Jahre, die für eine eigenständige Ausgestaltung der Selbsthilfeförderung argumentierten, benannten bereits präzise jene Unzulänglichkeiten der konventionellen Modernisierungsför- derung, die mit dem Ende der Kreuzberger „Zeitschleife“ deutlich zu Tage getreten sind. So kontrastierte der AKS schon 1985 die Erfolge der Selbsthilfeförderung, die es ermögliche, „Mieten auf einem sehr niedrigen Niveau festzuschreiben“, und „eine wirkliche Einmalförderung mit einer ausgezeichneten Kostenreduzierung und -kontrolle“ garantiere, mit den „unvorstellbaren Belastungen für den Haushalt Berlins“, die sich aus dem „sogenannten sozialen Wohnungsbau“ und „der üblichen Modernisierung […] in den Altbauten“ ergaben (AKS 1985: 52, 59).
Muskelhypothek und Staatsknete 30 Tobias Bernet „In keinem Bereich der Altbauerneuerung wurde mit sparsamen Mitteln und vergleichsweise geringer öffentlicher Förderung so viel Qualität geschaffen wie hier“, lautete entsprechend 1990 das Fazit von IBA-Abteilungsleiter Uli Hellweg, und „nirgendwo sind die Mieten […] so günstig wie in nach den Berliner Konditionen geförderten baulichen Selbsthilfeprojekten“ (Hellweg 1990: 4) Die Spanne der Quad- ratmetermieten in den West-Berliner Selbsthilfehäusern reichte von 3,00 bis 6,00 DM monatlich, sodass in einigen Fällen zunächst die gemäß konventioneller Moderni- sierungsförderung anfänglich zulässigen Mieten von zumeist 4,40 DM überschritten wurden (AKS 1985: 59). Doch dank des Zuschussförderungs-Modells bestand, anders als bei über Aufwendungssubventionen geförderten Vorhaben, keine ökonomische Veranlassung, die Mieten später weiter anzuheben. Aus Sicht der Selbsthelfergruppen war unter diesen Umständen auch „einleuchtend […], dass sich die Bewohner eines Hauses selbstverständlich nicht mehr Miete abverlangen als zur ordnungsgemäßen Bewirtschaftung eines Hauses notwendig ist“. Dieses genossenschaftlichen Grund- konzept ist jedoch, wie der AKS 1985 feststellten musste, nur solange wirksam „wie die Mehrheit der Hausbewohner die Verfügungsrechte langfristig besitzt“ (AKS 1985: 57). Tatsächlich hatten jedoch Vertreter*innen der Mieter*innenberatung des Kreuz- berger Vereins SO 36 festgestellt, dass schon seit 1983 „verstärkt Eigentümerselbst- hilfegruppen […] in dieses Programm drängten“, die teilweise bewohnte Häuser kauften.
Da den Mitgliedern dieser als GbR organisierten Gruppen – anders als bei genossenschaftlichen Projekten – mit dem Kauf je individuell eine hohe finanzielle Belastung erwuchs, hatten sie ein Interesse daran, möglichst viele Wohnungen mit Miteigentümer*innen zu belegen, die sich mit Eigenkapital am Projekt beteiligten. Die Altmieter*innen waren zu Letzterem meist nicht in der Lage, sodass bei diesen Projekten „Verdrängung von Bewohnern in verstärktem Maße“ stattfand. In solchen Fällen sei die geförderte Selbsthilfe, eigentlich „eine soziale Errungenschaft der behutsamen Stadterneuerung“, zum „Instrument der Eigentumsbildung für den neuen Mittelstand geworden“, kritisierten die Mieter*innenberater*innen (Jung/Lautenschläger 1985: 31f.). Für Hellweg zeigte sich in dieser Problematik, dass die Förderung nicht nur in Bezug auf die Gebäudezustände undifferenziert war, sondern auch hinsichtlich „Einkommensverhältnissen, Rechtsformen, Satzungen“. Damit blieb auch jede soziale Zielsetzung, die über die von der Förderrichtlinie vorgeschriebenen Veräußerungs- und Umwandlungsbeschränkungen hinausging, „der mehr oder weniger zufälligen Selbstbindung der Gruppen überlassen“ (Hellweg 1985: 22). Er forderte folglich einen „Vorrang für eingetragene Genossenschaften […] und solchen Gruppen, die Bele- gungsbindungen eingehen“ (ebd.: 26). Zwar wurde, wie erwähnt, ab 1996 immerhin der Förderanteil nach Rechts- formen ausdifferenziert, doch die wesentlichen Bedingungen der Selbsthilfeförde- rung blieben bis zu ihrer Abschaffung unverändert. Ihre Bilanz fällt somit ambiva- lent aus: Mit dem Prinzip einer (hohen) einmaligen Zuschussförderung wurde zwar eine Abkehr vom System der Aufwendungssubventionen markiert, doch mit ihren auf 15 Jahren befristeten Sozialbindungen fügte die Selbsthilfeförderung sich in die begrenzt wirkenden ‚Zeitschleifen‘ der ‚Behutsamen Stadterneuerung‘ ein.
Der AKS hatte ursprünglich eine „soziale Bindung […] für 35 Jahre“ gefordert, die schließlich beschlossene Regelung mit Blick auf die ‚damaligen Gruppen‘ – vor dem vermehrten Aufkommen von GbR-Projekten – zunächst jedoch für ‚unproblematisch‘ gehalten (AKS 1985: 57). Schließlich seien bei „den Gruppen, die Eigentumsrechte haben“ auch nach Ende der Sozialbindung „durch die Satzungen in den allermeisten Fällen private Profite […] ausgeschlossen“ (ebd.: 54). 31 Muskelhypothek und Staatsknete 4. NACHWIRKUNGEN UND OFFENE FRAGEN: DER UNVOLLENDETE WANDEL DER GENOSSENSCHAFTLICHEN WOHNUNGSWIRTSCHAFT Die Frage nach Eigentumsformen (oder besser: Zuteilungen von Verfügungsrechten 8 ), mittels derer Wohnraum dauerhaft einer profitorientierten Bewirtschaftung, einschließlich der Möglichkeit der Veräußerung, entzogen werden kann (und die somit das Modell einer hohen Einmalförderung idealerweise ergänzen würden), zog sich als eine Art roter Faden durch die Debatten um die bauliche Selbsthilfe im Beson- deren und die ‚Behutsame Stadterneuerung‘ im Allgemeinen – und stellte zugleich immer wieder einen blinden Fleck dar (vgl. bereits Hellweg/Neusüß 1982). „Vergesellschafteter Besitz, an dem nichts in die eigene Tasche gewirtschaftet werden kann“, so ließ sich die eigentumsrechtliche Zielvorstellung der im AKS zusammengeschlossenen Selbsthilfeprojekte paraphrasieren. Zu deren Verwirk- lichung wurde die eingetragene Genossenschaft gemeinhin „als einzige Rechts- form uneingeschränkt empfohlen“; zugleich wurden der mit der Gründung einer Genossenschaft verbundene Aufwand und die Kosten der regelmäßigen Pflichtprü- fungen als hoch eingeschätzt, weshalb sich einige Gruppen trotz genossenschaft- licher Ausrichtung für die äußere Form eines Vereins oder einer GbR entschieden (Kuckuck/Wohlers 1990c: 14).
Die Adaption genossenschaftlicher Modelle durch die Selbsthilfehäuser und ähnliche Projekte war ein vielschichtiger Prozess. Die traditionellen Wohnungs- baugenossenschaften wurden wegen ihrer Beteiligung am großmaßstäblichen Wohnungsbau der Nachkriegszeit oft kritisch gesehen. Doch gerade auch in der Auseinandersetzung mit der (unterstellten) Entfremdung des älteren Genossen- schaftssektors von den progressiven Impulsen der Wohnungsreformbewegung der Zwischenkriegszeit kam es in den 1980er-Jahren zu einer eigentlichen „Renais- sance der Genossenschaftsidee“ (Novy 1985: 124). Nicht nur in West-Berlin, auch in verschiedenen westdeutschen Städten wurden im Zusammenhang mit dem Erhalt von Altbaubeständen zum ersten Mal seit den 1950er-Jahren wieder neue Wohnungs- genossenschaften gegründet. 9 Diesen Initiativen ging es nicht nur um demokratische Selbstverwaltung, sondern eben auch um ein Eigentumsarrangement, das langfristig „spekulationssicher“ sein sollte (Kuckuck/Wohlers 1990b: 16). Dass genossenschaftliche Wohnungswirt- schaft ein starkes Moment der ‚Dekommodifizierung‘ beinhaltet (vgl. Schipper 2017: 116f.), spielte in den Debatten der 1980er-Jahre angesichts einer sich abzeichnenden stärkeren Vermarktlichung der Wohnungsversorgung in der Bundesrepublik eine zunehmende Rolle. Gleichsam im Windschatten der Diskussion um die schließlich abgeschaffte gesetzliche Wohnungsgemeinnützigkeit schälten sich neue Konzepte selbstgewählter Vermögensbindungen heraus. 10 Mit der Zielsetzung des Marktentzugs verknüpft war – und ist – dabei stets die Frage danach, wem die langfristige Kosten- günstigkeit von genossenschaftlichen Wohnungsbeständen zugutekommt.
Denn die Kehrseite der Tatsache, dass Genossenschaften einmal gebauten oder erworbenen Wohnraum in aller Regel nicht wieder veräußern, liegt in der Tendenz zur Abschlie- ßung: Bestandsmitglieder profitieren vor allem dann von niedrigen Mieten, wenn die jeweilige Genossenschaft nicht weiter wächst, sondern lediglich eine gleichblei- bende Anzahl Wohnungen bewirtschaftet, deren ursprüngliche Grundstücks- und Herstellungskosten nach und nach abbezahlt werden (Birchall 1997: 214). Diesem Szenario eines „Closed Shop“ 11 stellte etwa der Ökonom Klaus Novy die Forderung entgegen, genossenschaftliche Wohnungsversorgung stets als Bündnis 32 bzw. „‚Risikoausgleich‘ zwischen denen, die schon eine Wohnung haben und denen, die noch keine […] haben“ zu konzipieren (Novy 1982a: 52). Demzufolge sollte die Verringerung von Kapitalkosten, die sich aus der zunehmenden Entschuldung von Wohnungsbeständen ergibt, nicht einfach als Mietsenkung bei den Bestandsnut- zer*innen verbleiben, sondern der Erweiterung genossenschaftlich verwalteter Bestände – durch Neubau, Sanierung oder Ankauf – zugutekommen. Im Umfeld der West-Berliner Selbsthilfeprojekte blieben Diskussionen zur Abschließungsproblematik und möglichen Erweiterungsstrategien jedoch eher begrenzt. Der Kritik an ungünstigen (Förder-)Bedingungen folgte keine systemati- sche Auseinandersetzung mit den Organisationsstrukturen der Projekte selbst. „Das Modell würde seinen Sinn möglicherweise darin wiederfinden, wenn sich die Genos- senschaft […] zum Erwerb eines zweiten Hauses […] entschließen könnte, um das vorhandene Wissen und Instrumentarium für die Schaffung neuen günstigen Wohn- raums einzusetzen“, gaben Mitglieder des ersten geförderten Selbsthilfeprojekts in der Forster Straße nach Abschluss der Sanierung zu Protokoll. Doch gebe es „kein Bedürfnis mehr nach Expansion, denn die würde wieder viel Arbeit kosten“.
Vielmehr stehe für sie nun „der kleine überschaubare Rahmen“ und „das nachbarschaftliche Miteinanderwohnen“ im Vordergrund (Kuckuck/Wohlers 1990b: 17). Als explizites Gegenmodell zu Wohnprojekten, die – auch auf genossenschaftli- cher Grundlage – „selbstbezogen vor sich hin dümpeln“ (Rost 2012: 286), begann eine Gruppe von Aktivist*innen Ende der 1980er-Jahre in Freiburg ein Verbundmodell zu konzipieren, das einen Solidartransfer von alten zu neuen Projekten und eine dauer- hafte Dekommodifizierung sicherstellen soll. In dem seit 1993 unter dem Namen Mietshäuser Syndikat firmierenden Netzwerk sind die in der Rechtsform der einge- tragenen Genossenschaft zusammengefassten Funktionen von Personenvereinigung und Unternehmen auf Vereine und Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) verteilt (vgl. dazu Horlitz in diesem Band). Das Modell war unter anderem von Beiträgen von Klaus Novy inspiriert, dem es auch um Genossenschaft „als Prinzip, nicht unbedingt als Rechtsform“ ging (Novy 1986: 12). Bis Ende der 1990er-Jahre war das Mietshäuser Syndikat zunächst ein lokales Freiburger und dann ein regionales baden-württembergisches Phänomen. Nach der Jahrtausendwende schlossen sich die ersten Berliner Hausgemeinschaften an, darunter beispielsweise auch die Bewohner*innen eines Hauses in Prenzlauer Berg, dessen Sanierung zuvor – noch in einem Pachtverhältnis – aus der Selbsthilfe- förderung finanziert worden war. Mittlerweile (Juli 2020) gehören dem Syndikat über 150 Wohnprojekte in 14 Bundesländern an, die rund 3.000 Personen ein Zuhause bieten (Mietshäuser Syndikat 2020). Mit dem habiTAT ist außerdem seit 2014 ein österreichi- sches Pendant im Aufbau.
Auch die konventionellere Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten als Struktur für selbstverwaltete Wohnprojekte jedoch durchaus bewährt, zumal auch diese als Zusammenschluss von relativ autonom organisierten Hausgemeinschaften gestaltet werden kann. 12 Der „Staatsknete“ kommt bei der Entstehung solcher Projekte längst keine so zentrale Rolle mehr zu wie in den Hochzeiten der Berliner Selbsthilfeförderung. Mit dem Aufschwung spezialisierter ‚ethischer‘ Banken vereinfachte sich der Zugang zu Fremdkapital für alternativökonomische Vorhaben deutlich, was diesen vor allem in der mittlerweile lange anhaltenden Niedrigzinsphase zugutegekommen ist. Dabei stellt sich die Frage, ob sich mit größerer Unabhängigkeit von öffentlicher Förderung der politische Gehalt des genossenschaftlichen Wohnens gewissermaßen verun- klart hat. In manchen Fällen mag ein solcher Eindruck quasi semantisch bedingt Tobias Bernet 33 Muskelhypothek und Staatsknete sein, etwa wenn in architekturlastigen Diskursen zu gemeinschaftlichem Wohnen oder Co-Housing kaum zwischen genossenschaftlichen Projekten und individualei- gentumsorientierten Baugemeinschaften unterschieden wird – womit sich dasselbe Differenzierungsproblem zeigt, das schon im Kontext der Selbsthilfeförderung in den 1980er-Jahren beklagt wurde (vgl. oben). Doch es gibt auch handfestere Gründe dafür, dass genossenschaftliche Positionen in den aktuellen wohnungspolitischen Debatten oft zwischen Stuhl und Bank zu fallen scheinen. Zwar werden Genossenschaften als – neben kommunalen Wohnungsge- sellschaften – zweites wichtiges Standbein eines „gemeinwohlorientierten“ Anbie- tersegments betrachtet.
13 Gerade für Berlin lässt sich dessen in den letzten Jahren wieder gestiegene Wertschätzung als schmerzhafte Lektion beschreiben, betrachtet man die Folgen der umfangreichen Privatisierungen landeseigener Wohnungsbe- stände in den 1990er- und 2000er-Jahren. Doch den lobenden Worten folgen nicht ausreichend politische Taten, klagen Genossenschafts-Vertreter*innen: Auch unter der aktuellen rot-rot-grünen Koalition mangle es ihnen insbesondere am Zugang zu bezahlbaren Baugrundstücken (vgl. z. B. Rada 2018). Die Frage, wer zu welchen Bedingungen wo Neubau betreiben soll, zieht aller- dings – im Kontext einer erstarkten Mieter*innenbewegung – oftmals weniger öffent- liche Aufmerksamkeit auf sich als diejenige nach der Entwicklung der Miethöhen und Anbieter*innenstruktur im Bestand. Dies äußert sich in Berlin im Volksbegehren zur Vergesellschaftung großer privater Wohnungsbestände (Deutsche Wohnen & Co. enteignen) ebenso wie im Versuch einer neuerlichen öffentlich-rechtlichen Mietpreis- bindung (durch den sogenannten Mietendeckel; vgl. Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin 2020). Beide Anliegen werfen – wie auch die Vorschläge für eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit auf Bundesebene – letztlich die Frage auf, welche Formen von Wohnungswirtschaft gesellschaftlich als wünschenswert zu betrachten sind und welche nicht. In dieser Debatte könnten Genossenschaften die Idee der kollektiven Selbsthilfe von Mieter*innen offensiv als Alternative und Gegen- modell zum Shareholder Value positionieren, und damit auch den gewichtigen volks- wirtschaftlichen Einwänden gegenüber einer direkten Preisregulierung, die beim letzten Glied einer langen Wertschöpfungskette ansetzt, Glaubwürdigkeit verleihen.
Diese Chance wurde jedoch verpasst; die Mehrheit der großen Wohnungsbaugenos- senschaften bleibt vorerst dem fragwürdigen Bündnis verhaftet, das in Deutsch- land durch die Aufnahme börsennotierter Wohnungskonzerne in die ehemaligen Verbände der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft entstanden ist. Durch diese kuriose Verunklarung der Fronten wird jedoch die Debatte darüber, welche Eigentumsformen dazu geeignet sind, Wohnraum langfristig bezahlbar zu halten, nicht weniger drängend. Dass diese in den 1980er-Jahren mit der Thematik der baulichen Selbsthilfe verknüpft wurde, ist kein Zufall, zumal physische Eingriffe in die Bausubstanz die Frage nach den jeweiligen Verfügungsrechten unmittelbar aufwirft. Dieser Nexus wird auch deshalb weiterhin eine zentrale wohnungspoli- tische Frage darstellen, weil die Notwendigkeit der periodischen Erneuerung von Altbauten sich im Zeichen der Klimakrise absehbar verschärfen wird. 34 1 Von der hier behandelten Förderung der baulichen Selbsthilfe durch Gruppen mit langfristigen Verfügungsrechten über Gebäude ist die in West-Berlin seit 1981 ebenfalls öffentlich geförderte Mietermodernisierung in einzelnen Wohnungen zu unterscheiden. 2 BGB-Gesellschaft war die in den 1980er-Jahren noch verbreitetere Bezeichnung für die heute zumeist als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) bezeichnete, einfache Gesellschaftsform. 3 Die Bilanz des ,Rüberklappens‘ fällt je nach Zeitabschnitt und Blickwinkel unter- schiedlich bzw. insgesamt ambivalent aus. Zu Beginn der 1990er-Jahre flossen noch vergleichsweise umfangreiche öffentliche Gelder in die Ostberliner Stadterneuerung und „der Kompromiss über eine bauliche, soziale und politische ‚Behutsamkeit‘ der Stadt- erneuerung“ beinhaltete „ein politisches Programm, über das der Senat sich trotz dessen rechtlicher Unverbindlichkeit auch in den 1990er Jahren nicht einfach hinwegsetzen konnte“ (Kuhn 2014: 96).
Doch obwohl die vom Senat 1993 beschlossenen „Leitsätze zur Stadterneuerung in Berlin“ (Senat von Berlin 1993) rhetorisch auf die zehn Jahre zuvor für Kreuzberg verabschiedeten „12 Grundsätze für die Stadterneuerung“ (Abgeordneten- haus 1983) Bezug nahmen, wurde damit in ökonomischer Hinsicht de facto „eine neue Sanierungsstrategie konkretisiert“ (Holm 2006: 82). 4 Von rund 400.000 Wohngebäuden in Berlin haben knapp 54.000 ein Baualter bis 1920 (vgl. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2018: 5). 5 Die in unterschiedlicher Intensität seit dem Ersten Weltkrieg bestehende allgemeine Mietpreisbindung für Altbauwohnungen war in der Bundesrepublik ab den 1960er-Jah- ren schrittweise abgebaut worden und bestand zuletzt nur noch in West-Berlin. Der Bundestag beschloss 1987 ihre Abschaffung zum 1. Januar 1988 (vgl. Gesetz zur dauer- haften sozialen Verbesserung der Wohnungssituation im Land Berlin 1987; vgl. dazu Welch Guerra 2018). 6 Diese Förderbedingungen kompensierten insofern gerade in diesem Zeitraum auch den erfolgten Wegfall der allgemeinen Mietpreisbindung im West-Berliner Altbau. 7 ,Östliches Kreuzberg‘ meint hier das Gebiet des früheren Postzustellbezirks SO 36, wobei gerade diese Bezeichnung oft auch nur auf die nördlich und südlich des ehemali- gen Görlitzer Bahnhofs gelegenen Blöcke angewandt wurde, für die 1977 aus kirchlichen Kreisen mit Unterstützung des Senats der Wettbewerb Strategien für Kreuzberg initiiert wurde. Mit diesem sollten neue Wege der Stadterneuerung erprobt werden, nachdem die bis dahin erzielten Ergebnisse der konventionellen Sanierung im direkt westlich an- grenzenden Sanierungsgebiet Kottbusser Tor vor Ort äußerst kritisch betrachtet wurden. Ab 1981 übernahm in diesem jedoch die IBA die Steuerung der Stadterneuerung und machte es zur zentralen Arena der ,behutsamen‘ Ansätze.
Dabei konnte auf wesentlich mehr öffentliche Mittel zurückgegriffen werden als für das ,Strategien-Gebiet‘ zur Ver- fügung standen, das bis zuletzt kein offizielles Sanierungsgebiet war. Somit ergibt sich für das Sanierungsgebiet Kottbusser Tor alleine betrachtet bei Abschluss der förmlichen Sanierung 1993 ein noch höherer Anteil gebundener Altbauwohnungen von rund 50 Pro- zent des Gesamtwohnungsbestands. 8 Zur Begrifflichkeit von Eigentum als „Bündel von Rechten“ und Commons-Modellen in Bezug auf Wohnraum vgl. etwa Marcuse 1994. 9 Wichtige Beispiele hierfür sind z. B. die Genossenschaften Rheinpreußensiedlung in Duisburg, Selbsthilfe Linden in Hannover und Schanze in Hamburg. 10 Vgl. dazu Kuhnert/Leps, 2017: 135–163. Die argumentative Unterfütterung für die 1988 beschlossene Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit verdankte die CDU- FDP-Bundestagsmehrheit vor allem dem Zusammenbruch des mit Abstand größten gemeinnützigen Wohnungsunternehmens, der nicht als Genossenschaft, sondern als gigantischer Kapitalgesellschaft organisierten, gewerkschaftseigenen Neuen Heimat (vgl. Kramper 2012). Im Umfeld der neuen Genossenschaften war demgegenüber argumentiert worden, dass „Markt- und Staatsversagen“ beide ein Problem darstellten (Fester/Kuhnert 1984: 3), und nicht die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit erforderlich wäre, sondern deren grundlegende Reform (Novy 1984). Seit einigen Jahren wird die (Wieder)Einführung einer „Neuen Wohnungsgemeinnützigkeit“ diskutiert, wozu Konzepte aus dem Umfeld der Parteien Die Grünen und Die Linke vorliegen (vgl. Kuhnert/ Tobias Bernet 35 Muskelhypothek und Staatsknete Leps 2017: 261–336; Holm/Horlitz/Jensen 2017). Seitens der Grünen-Bundestags- fraktion gibt es mittlerweile auch einen ausgearbeiteten Gesetzesentwurf (vgl. Deutscher Bundestag 2020).
11 Der Begriff des Closed Shop bezieht sich ursprünglich auf einen nur gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer*innen offenstehenden Betrieb; auf das Problem der genos- senschaftlichen Wohnungsversorgung übertragen wurde er etwa von Novy 1982b: 302. 12 In unterschiedlicher Weise als ,Dachgenossenschaft‘ funktionieren neben den be- reits erwähnten Luisenstadt in Berlin und Schanze in Hamburg beispielsweise auch die Wogeno München eG oder die Selbstverwaltete Ostberliner GenossInnenschaft. 13 Dieser Begriff hat sich in den letzten Jahren in Ermangelung einer gesetzlichen Woh- nungsgemeinnützigkeits-Definition als eine Art – unscharfer – Platzhalter etabliert. QUELLEN Abgeordnetenhaus von Berlin 1983: Grundsätze zur Stadterneuerung im Bereich der Inter- nationalen Bauausstellung. In: Drucksache 9/1113, 22. April, S. 28. Abgeordnetenhaus von Berlin 1993: Siebzehnter Bericht über die Stadterneuerung. In: Drucksache 12/3426, 20. Oktober. Abgeordnetenhaus von Berlin 1994: Achtzehnter Bericht über die Stadterneuerung. In: Drucksache 12/4591, 13. Juni. Abgeordnetenhaus von Berlin 2005: Vierundzwanzigster Bericht über die Stadterneuerung. In: Drucksache 15/3790, 21. März. AKS – Arbeitskreis Berliner Selbsthilfegruppen im Altbau 1984: Erwiderung zum Schrei- ben SenBauWohn an Verein SO 36 zum Stand und Problematik der Selbsthilfegruppen nach dem Entwurf der ModInstRL 84. In: Ders. (Hg.): Arbeitsmaterialien zur Fachtagung „Ruhe im Karton? Zwei Jahre Selbsthilfeförderung“. Berlin, 1984, o. P. Archiv des Fried- richshain-Kreuzberg-Museums, Konvolut von Unterlagen zur Internationalen Bauaus- stellung (IBA) und des Treuhandsanierungsträgers S.T.E.R.N., Mappe 82, Dokument 449. AKS – Arbeitskreis Berliner Selbsthilfegruppen im Altbau 1985: Wie geht es weiter mit der Selbsthilfe?. In: Ders.
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VON ADIS UND AMISCHEN Wer das Video 1 schaut, reibt sich verwundert die Augen: Nach nur zehn Stunden steht dort, wo es vorher nur Grundmauern gab, eine riesige Doppelscheune. Am 13. Mai 2014 wurde sie von den Amish People 2 im Bundesstaat Ohio errichtet, verkleidet und gedeckt. Die Erinnerung an die Millionenmetropole Wuhan drängt sich auf. Dort ließ die chinesische Regierung Anfang Februar 2020 im Kampf gegen das Corona-Virus binnen zehn Tagen ein neues Krankenhaus aus dem Boden stampfen. 3 Im Gegensatz zu Wuhan kam jedoch in Ohio kaum mehr als Muskelkraft zum Einsatz. Im Video flimmern die dortigen zehn Stunden Bauzeit im Zeitraffer über den Bildschirm. Zu sehen sind drei Minuten und dreißig Sekunden Gewusel, in dem alles eine unfass- bare Ordnung hat. Einer der beliebtesten Kommentare dazu lautet: „10 Stunden, um all das zu tun, und unser Stadtrat braucht 3 Jahre, um ein Schlagloch zu reparieren“. Darauf die nicht weniger beliebte Antwort: „Jeder Stadtrat braucht 3 Jahre und ein paar Millionen Dollar“. Tatsächlich scheint hinsichtlich der Effizienz einzig eine zent- ralistische und autoritäre Regierung den oft als vorgestrig belächelten Bauleuten der Doppelscheune das Wasser reichen zu können. Das ist bemerkenswert, doch es bemerkt fast niemand; vermutlich weil die Amische nach eigenen Aussagen „in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt“ 4 sind. Inspirierende Formen des Bauens gibt es allerdings nicht nur in den US-amerika- nischen Siedlungen der Amischen, sondern auch in Europa, Afrika, Lateinamerika, Australien oder Indien – kurz: überall auf der Welt. In den Dörfern der Adis im nord- ostindischen Arunachal Pradesh haben sich über Jahrhunderte bemerkenswerte soziale Strukturen und Praktiken bewährt. Zu ihnen gehört das sogenannte Riglap. „Rig“ ist abgeleitet von „Arik“ und bedeutet „Feld“.
„Lap“, die Kurzform von „Lapnam“, lässt sich übersetzen mit „um Hilfe bitten“. Das klingt zunächst, als ginge es nur um https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_4 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. 44 Hilfe bei der Feldarbeit, tatsächlich aber bezeichnet der Begriff eine Kultur der gegen- seitigen Unterstützung, die immer dann zum Zuge kommt, wenn mehr als eine Person oder ein Haushalt nötig ist, um eine bestimmte Arbeit zu tun. Zum Beispiel Häuser, Scheunen oder Umfassungsmauern für die Felder bauen, um diese vor Überschwem- mungen zu schützen (Mibang 2018). Auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts finden sich Menschen in Baugruppen oder Wohnprojekten zusammen, auch hier kennen wir das ,In-Bauangelegenheiten- um-Hilfe-bitten‘, wenn etwa Wohngemeinschaften oder Familien für konzertierte Aktionen sogenannte ,Bauwochen‘ ausschreiben. Wer Lust und Zeit hat, kommt, wird verköstigt, beherbergt und trägt bei, die Baustelle voranzubringen, die die jeweilige Kernbaugruppe allein überfordern würde. Eine solche Bauwoche ist keine ,Erbrin- gung einer Dienstleistung‘, sie ist auch mehr als Hilfe beim Bau. Sie ist ein soziales und lehrreiches Event. Auf diesen Aspekt kommen wir später zurück. Bislang sollte deutlich geworden sein, dass die Autor*innen dieses Beitrags meinen, dass das Bauen mitgedacht werden muss, wenn wir über die Zukunft des Wohnens nachdenken. Zukunftsfähiges, commonsorientiertes Bauen und Wohnen gehören zusammen. Dabei soll – selbstredend – nicht einem gedankenlosen Kopieren von Strategien der Amischen oder der Adis das Wort geredet werden. Das wäre unsinnig, schließlich haben wir es überall und zu jedem Zeitpunkt mit spezifischen Herausforderungen, Kontexten und Größenordnungen zu tun.
Doch wir können uns mit diesen Beispielen anderen Bauverständnissen nähern. Dabei geht es nicht darum, dass hier Gemein- schaften als Gemeinschaften bauen. Es geht auch nicht zwingend darum, dass sie für Gemeinschaften bauen. Es geht um ein anderes Verständnis des Bauprozesses an sich und damit um andere Rollenverständnisse aller Beteiligten. Kurz: um Commons statt Gemeinschaft. Wenn wir das Bauen auch als Commons verstehen, realisieren sich andere Interaktionsmodi, es wird anders geplant, finanziert und ausgeführt, und es kommen letztlich auch andere Materialien und Technologien (bestenfalls konviviale 5 ) zum Einsatz. Am Vivihouse-Projekt, welches in diesem Band im Kapitel „Kollektiver Selbstbau als Testfeld für neue Produktionsweisen“ (S. 151–164) beschrieben wird, lässt sich dies gut zeigen. 2. EXKURS: COMMONS STATT GEMEINSCHAFTEN? Commons sind weder eine definierbare Ressource, noch eine bestimmte (kollektive) Eigentumsform. Ebenso wenig bezeichnen sie einen bestimmten sozialen Akteur (etwa Gemeinschaften). Alles kann ein Commons werden, wenn Menschen ihre Bedürfnisse ernst nehmen und Wege finden, sie so zu befriedigen, dass alle einbezogen werden. Das selbstbestimmte gemeinsame Handeln, das Commoning, trifft dabei häufig auf den Commons entgegenstehende Bedingungen der Warengesellschaft, was immer wieder zur Reflexion der Organisations-, Kommunikations,- Rechts-, Produktions- formen zwingt, ähnlich wie wir das in diesem Artikel vornehmen. 6 Selbstredend gründen Commons wie auch Gemeinschaften auf etwas Gemeinsamem, doch diese Feststellung ist so unspezifisch wie Brief und Internet gleichermaßen als Kommuni- kationsmittel zu kennzeichnen. Schauen wir genauer hin. Das Gemeinsame von – bloßen – Gemeinschaften gründet in Zwecken. Solche Zwecke sind einzeln schwerer zu erreichen als gemeinsam.
Da sich Gemeinschaften im jewei- ligen gesellschaftlichen Kontext bewegen, agieren sie vor allem als Zweckbündnisse der Einzelnen. In unserer heutigen Gesellschaft ist es überhaupt nicht selbstver- ständlich, dass die Bedürfnisse von Menschen, zum Beispiel nach gutem Wohnraum, Silke Helfrich, Tomislav Knaffl, Stefan Meretz 45 aufgehoben sind oder ihre Befriedigung tatsächlich vorrangiges Ziel der Gesellschaft ist. Die Privatmenschen müssen sich selbst darum kümmern. Sie tun dies, indem die „vereinzelten Einzelnen“, wie Marx (1974: 6) unsere Getrenntheit beschrieb, ihre Bedürfnisse als durchsetzungsfähige Interessen formieren, um ihnen Geltung zu verschaffen. Gemeinschaften, die Privat-Gemeinschaften sind und wiederum alle anderen ausschließen, sind ein Mittel dazu. Der Fokus solcher Gruppen sind die Inte- ressen der beteiligten Einzelnen und nicht die der anderen Menschen oder gar der Gesellschaft. Ist der Gemeinschaftszweck erfüllt, fallen die Einzelnen häufig in ihren isolierten Status zurück. Wenn Sie selbst zu einer Gemeinschaft gehören und jetzt das Gefühl haben, das trifft auf Ihre Gemeinschaft nicht (ganz so hart) zu, dann sind Sie vielleicht auf dem Weg zu einem Commons. Denn Commons sind mehr als äußerlich zusammengehal- tene Zweckgemeinschaften. Es sind Lebensweisen oder besser: Sie können es werden. Denn Commons sind nicht, sie werden. Wie genau das geschieht und welche Qualität sie entfalten, hängt von den Beteiligten und ihren Bedürfnissen ab. Diese einzube- ziehen, ist eine wesentliche Gelingensbedingung für die Stabilität von Commons. Vor allem bei Entscheidungen kommt das zum Tragen. Der Werdenscharakter wiederum macht Commons offen. Alles kann ein Commons werden, wenn wir es so behandeln, auch bloße Zweckgemeinschaften. Die Übergänge sind fließend. Doch das Fließen von Gemeinschaft zu Commons geschieht nicht einfach, sondern ist ein bewusster Prozess.
Wie er aussehen kann, wollen wir im Folgenden für das Bauen und Wohnen zeigen. 3. BAUEN ALS COMMONS UNTER ERSCHWERTEN BEDINGUNGEN Die Bedingungen für die Umsetzung dieser Perspektive – Bauen und Wohnen umfas- send als Commons zu verstehen und zu praktizieren – sind alles andere als rosig. • Überall auf der Welt, besonders im (semi-) urbanen Raum, dominiert eine Wirt- schaftsweise, die in Waren und Warenproduktion denkt und danach handelt. Dieses Denken hat sich auch in unseren Köpfen eingenistet. Es geht von Fragen aus wie: Wo gibt es eine Marktlücke? Wem gelingt es, sie am schnellsten zu füllen? Statt immer wieder zu fragen: Wie schaffen wir selbstbestimmt und vor allem nachhaltig leben- dige Wohnräume? Dieser Warenfokus lässt sich an ganz alltäglichen Dingen beob- achten: am Angebot in Baumärkten – den Zulieferern des individuellen Selbstbaus – genauso wie am Lebenszyklus von Wohnraum (aufbauen – abwohnen – abreißen) oder im Design von Fertighäusern, die dem Durchschnittsgeschmack entsprechen müssen. Letzteres ist der Grund dafür, dass sich die Neubaugebiete um unsere Klein- und Großstädte so ähnlich sind. Am markantesten aber zeigt sich dieser Fokus an den Bodenpreisen. Baugrund und das Bauen haben sich in den letzten Jahrzehnten unter anderem so verteuert, weil Boden als ,Ware wie jede andere‘ angesehen und wie eine solche behandelt wird. Gerade auch wegen steigender Bodenpreise können Menschen am Ende durch Selbstbau proportional weniger einsparen als früher. • Die Ansprüche an modernes Wohnen und damit an Baustoffe und -materia- lien haben sich verändert. Das macht Projekte des individuellen oder kollektiven Eigenbaus aufwändiger und komplexer. Fragen des Komforts und der binnen weniger Jahrzehnte verfestigten Gewohnheiten (wie praktisch ist doch Bauschaum!) spielen hier genauso eine Rolle wie der Wunsch, immer größere Wohnflächen zur Verfügung zu haben.
7 Commons statt Gemeinschaft 46 • Die rechtlichen Bedingungen erfordern oft ein enormes Können, viel Zeit und hohe Investitionen, um letztlich die Zertifikate zu bekommen, die die Einhaltung der Mindeststandards bestätigen. Sie betreffen Fragen des Brandschutzes genauso wie die Statik, die Bauphysik, den Schallschutz oder die Energieeffizienz. Hinzu kommen die Standards, die eingeführt wurden, um die europäischen Energie- und Klimaziele zu erreichen. Sie gehen häufig mit technischen Ansprüchen wie luftdichten Gebäude- hüllen, Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung, Wärmepumpen, Photovoltaik- anlagen oder der Verwendung von recyclebaren Baustoffen einher, was zunehmend (u. U. kostenträchtige) Fachexpertise erfordert. Als wäre also „alternatives“ Bauen nicht herausfordernd genug, bestimmen Marktdominanz, ausdifferenzierte Ansprüche und weitreichende staatliche Auflagen, was jeweils möglich ist. Wenn wir das Bauen und Wohnen als Commoning verstehen, müssen wir damit umgehen. Um diesen Verständnisprozess zu unter- stützen, können wir unser Augenmerk darauf richten, wie Wohnungen, Häuser, ja ganze Stadtteile gemeingeschaffen werden. Wir können zu diesem Zweck geduldig gelingende Commons-Praktiken untersuchen und herausarbeiten, was sie in und trotz ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsam haben. Daraus schöpfen wir die Inspira- tion, die wir für zukunftsfähiges Bauen und Wohnen brauchen. Allgemeiner gesagt: Bei den Amischen, in den Bauwochen oder der Riglap-Kultur finden wir Elemente, die uns helfen, das Bauen neu zu denken. Hierbei ist die wichtigste Lektion zugleich die einfachste: Gemeinsam und selbstorganisiert zu bauen ist eine kulturübergrei- fende Selbstverständlichkeit, die im Prinzip allen ermöglicht, ein würdiges Dach über dem Kopf zu haben, ohne dass dies nur von der Verfügung über Geld und Fachwissen abhängt.
Auf die Menschen selbst und die Qualität des Commoning kommt es an, also darauf, wie Menschen denken und handeln. Einige solcher Qualitäten benennen wir in den folgenden Abschnitten. Damit wollen wir zeigen, was es heißt, die Perspektive der Commons einzunehmen, in Commons-Kategorien zu denken und das, was wir tun und herstellen, als Commons zu begreifen. Es heißt nicht – soviel sei vorwegge- nommen –, dass alle alles teilen und gemeinsam machen müssen und dass kein Platz für Individualität ist. Im Gegenteil. Die Ergebnisse sind oft lebendiger, ,wärmer‘ und individueller. 4. ALLES KÖNNTE ANDERS SEIN Dass sich vieles anders denken und gestalten lässt, können wir an Bauprojekten sehen, die keinen Kredit bei herkömmlichen Banken aufnehmen, nicht für alles (für manches schon!) Fachleute beauftragen und auch nicht alles in Marktpreisen kalku- lieren. Solche Projekte zeigen, dass wir vieles von dem, was wir vermeintlich tun müssen, ganz anders tun können. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich in ihnen Grundmuster, welche gut beschreiben, was es bedeutet, commonsmäßig zu bauen und zu wohnen. Wir skizzieren zunächst fünf solcher Grundmuster: • Einbeziehend und kooperativ entscheiden • Wissen und Know-how großzügig weitergeben • Auftragsvergabe minimieren und selbst beitragen • Direktkredite sammeln und Bankkredite scheuen • Boden und Wohnraum dem Markt entziehen Silke Helfrich, Tomislav Knaffl, Stefan Meretz 47 Diese fünf Grundmuster sind wichtige, freilich nicht erschöpfende Qualitäten, um das Bauen und Wohnen als einen Prozess des Gemeinschaffens verstehen und leben zu können. Wenn wir diese fünf Grundmuster umsetzen, ändert sich vieles. 5.
EINBEZIEHEND UND KOOPERATIV ENTSCHEIDEN Die konkreten Formen kooperativen Handelns – vom Bauprozess bis zum Einzug und zum Wohnen – sind wesentlich davon abhängig, wie weit die Bauenden ein einbeziehendes Selbstverständnis haben und wie sie es realisieren. Wer und was wird alles einbezogen? Geht es nur um einen organisatorischen Rahmen für die billigere Realisierung von Einzelunterkünften (entsprechend der oben skizzierten bloßen Zweckgemeinschaft)? Oder werden die Bedürfnisse der jeweils anderen Betei- ligten mitgedacht, um gemeinsame Formen der Umsetzung zu finden? Wer gehört zu den „anderen Beteiligten“ – sind auch die dabei, die keine Schaufel in die Hand nehmen können? Auch jene, die besondere bauliche Vorkehrungen brauchen, um dort zu wohnen? Jene, die aufgrund von Einschränkungen ihre Stimme gar nicht erst einbringen können? Gar jene, die noch gar nicht geboren sind oder als Geflüchtete später dazukommen werden? Die Konstituierungsphase eines Projekts stellt die Weichen. Je klarer die verschiedenen Bedürfnisse sichtbar gemacht werden, je häufiger konfliktive Situati- onen schon zu Beginn beziehungswahrend (vgl. Helfrich/Bollier 2019: 108) durchlebt werden, kurz: Je intensiver das Commoning zu Beginn ist, desto stabiler die Vertrau- ensbasis für den Bauprozess und das spätere Zusammenwohnen. Vereinbarungen können hier ein wertvolles Instrument sein. In ihnen werden Ziele formuliert, Erfah- rungen verdichtet, Regeln verabredet. Gleichzeitig sollen Vereinbarungen Luft zum Atmen geben, nicht alles lässt sich in Regeln gießen. Gute Vereinbarungen schaffen Vertrauen und machen Entscheidungen später leichter. Sie erlauben es, „sich ausein- anderzusetzen, sich intensiv zu streiten, ohne das Ziel und das Projekt gleich infrage zu stellen“ (Knaffl 2009: 103).
In einbeziehenden Entscheidungsverfahren wird festgelegt, warum wer was erledigt, um Orientierung, Klarheit und Verlässlichkeit im Projektablauf zu gewähr- leisten. Manchmal geht es noch auf der Baustelle darum, zwischen mehreren Möglichkeiten abzuwägen. Hier die eigenen Wünsche in Entscheidungen einbezogen zu wissen, stärkt die Verbindung zum gemeinsamen Projekt. Doch wie funktionieren einbeziehende Entscheidungen? Auf einer Skala der Entscheidungsbeteiligung, von Einzelherrschaft bis Alle- entscheiden-alles gibt es viele gangbare Wege. Gangbar im Sinne der Commons sind Wege, die einbeziehend und ressourcenschonend sind. Es gilt, so viel wie nötig und so wenig wie möglich Energie in die Entscheidungsverfahren zu geben, damit sie nicht zu viel Zeit und Kraft einnehmen und gleichzeitig breit getragen werden. Einbe- ziehend ist die Entscheidung, wenn dabei an die Bedürfnisse global aller Menschen gedacht wird. Einbeziehendes Entscheiden legt nahe, die Entscheidungsfindung methodisch kooperativ zu gestalten. Das heißt, dass während der Informations- und Vorschlagsphase der Entscheidungsfindung alle Beteiligten die Möglichkeit haben, sich gegenseitig zu hören und zu verständigen. Dafür stehen unterschiedliche Methoden zur Verfügung: vom offenen Gespräch ohne oder mit Moderation über Prozesse der Konsensfindung, des systemischen Konsensierens oder den Konsent mit soziokratischer Organisierung bis zur konvergenten Moderation. Hierbei werden „Geduld“ und „Sitzfleisch“ (ebd.) oft herausgefordert, denn einbeziehende Entschei- Commons statt Gemeinschaft 48 dungsprozesse dauern meist länger als Entscheidungen in professionell-hierarchisch geführten Projekten. Dafür sind sie aber auch tragfähiger! Bewährt haben sich Verfahren, die sich an der ,Do-ocracy‘ orientieren.
Auf Basis intensiv erarbeiteter Vereinbarungen und grundsätzlicher Rahmen- und Richtungs- festlegungen entscheiden kleinere Fachgruppen oder auch Einzelpersonen eigenver- antwortlich ,im Tun‘ über die jeweils konkreten Schritte. Diese werden transparent in die Gesamtgruppe rückvermittelt. In regelmäßigen Reflexionsrunden kann geprüft werden, ob sich weiterhin alle einbezogen fühlen oder Korrekturen angebracht sind. Gegenseitiges Vertrauen ist hierfür eine wesentliche Grundlage, das in dem Maße wächst, wie positive Erfahrungen gemacht werden. 6. WISSEN UND KNOW-HOW GROSSZÜGIG WEITERGEBEN Wissen großzügig weitergeben bedeutet, alles Wissen, alle Inhalte, alle digitalen Werk- zeuge, jegliches Design ,freizugeben‘ (Stichwort Open Source) und über das Internet global verfügbar zu machen. Der Designfokus liegt auf modularen, lokal anpassbaren Lösungen. In der Open-Source-Bauszene – vgl. Wikihouse, OSE Microhouse oder Open Source Building Institute (OBI) 8 – ist dies bereits Standard. Die Grundidee ist hier, dass das Fachwissen nicht ,verkauft‘, sondern in erster Linie zur Befähigung anderer eingesetzt wird. So wird das Bauen selbst als individueller und kollektiver Lernpro- zess gestaltbar, was zu einer radikal veränderten Rolle von Architekt*innen führt und das Wissen und Fabrikations-Know-how verallgemeinert. Know-how bedeutet hier ein praktisches Wissen-Wie, welches durch Erklären und Vormachen weitergegeben wird. So werden die großen formalen, ökologischen, technischen und finanziellen Entscheidungen nicht von einer* Architekt*in oder Bauleiter*in vorgegeben, sondern nur verantwortlich durch diese beraten. Im Selbstbau entscheiden die Beteiligten zusammen – bestenfalls gemeinstimmig (Helfrich/Bollier 2019: 129ff.) – und setzen ihre Vorhaben gemeinsam und bedürfnisorientiert um.
Selbstbauende müssen oft tief in die jeweilige Materie einsteigen, sie lernen die Vorgänge zu verstehen und sich zu helfen. Sie werden zu mündigen Kritiker*innen des Bauprozesses. Das „Ding ist, es sich zu erarbeiten“, wie Beteiligte sagen (Knaffl 2009: 107). Dabei kann die Selbst- lernkompetenz sowohl während der Bauvorbereitung mit dem Besorgen von Mate- rial, dem Engagieren von Fachleuten als auch bei den lernbegleitenden Aspekten des Lernwegs, Tempos und Transfers in die Praxis sehr hoch sein. Für Selbstbauende sind der „Wille dazu, sich Kompetenzen aneignen zu wollen“ und das Zutrauen, die eigenen Lernziele zu erreichen, sicherlich das Wesentliche (ebd.: 106). Besonders augenscheinlich sind die Kompetenzen, die sich Beteiligte beim Kommunizieren, rechtlichen und finanzplanerischen Vorgehen, Planen, Koordinieren, Organisieren und Handwerken aneignen (vgl. Knaffl 2009: 104ff). Das wirkt in vielfältiger Weise positiv. In selbstorganisierten Bauprozessen eignen sich Menschen letztlich nicht nur fachliche, sondern auch emotionale, motivatio- nale und soziale Kompetenzen an. Emotionale Kompetenz zeigt sich in der Selbst- aufmerksamkeit, im Einfühlungsvermögen und der Fähigkeit, emotionalen Schaden wiedergutzumachen sowie am Umgang mit negativen Gefühlen (vgl. Steiner 1997: 36). Motivationale Kompetenz aufzubauen bedeutet, umgangssprachlich formuliert, „herauszufinden, welche Tätigkeiten einem liegen und solche Tätigkeiten in sein Handeln möglichst einzubringen“ (Knaffl 2009: 39). In bedürfnisorientierten Baupro- zessen wird das ständig gefordert und dadurch gefördert. Wenn sich Beteiligte eines Bauprojekts in Tätigkeitslisten eintragen, ist es also von Vorteil, die eigenen Vorlieben Silke Helfrich, Tomislav Knaffl, Stefan Meretz 49 zu kennen und zu berücksichtigen.
Das muss nicht dazu führen, dass dann nur noch diese Tätigkeiten ausgeführt werden, denn auch die Wahl von neuen Aufgaben erhöht die diesbezügliche Selbstkenntnis und die Möglichkeit, Aufgaben auf mehrere Schul- tern zu verteilen. 7. AUFTRAGSVERGABE MINIMIEREN UND EIGENE BEITRÄGE EINBRINGEN Auftragsvergabe minimieren bedeutet, Lohnarbeit nur einzusetzen, wenn es unum- gänglich ist. Das trägt dazu bei, die Kreditnotwendigkeiten und damit finanzielle Abhängigkeiten und -risiken zu senken und spricht neben dem ungeheuren Lern- und Selbstermächtigungsaspekt für das gemeinsame Selbermachen – das Do It Together (DIT), um möglichst viele verschiedene fachliche Qualifikationen in einem Projekt zusammenzubringen. Bedürfnisorientierter Selbstbau ist zudem Garant für eine besondere Beziehung zum Gebauten – Selbstgeschaffenes fühlt sich immer anders an. Allerdings verlangsamt sich durch Selbstbau auch der Bauvorgang selbst und Qualitätseinbußen sind möglich. Diese können hingenommen werden, wenn niedrigere Baukosten es auch weniger Finanzkräftigen ermöglichen, hochwertigen Wohnraum für sich zu schaffen. Es geht allerdings bei diesem Grundmuster weder einfach noch nur darum, Lohn- arbeit durch Eigenarbeit zu ersetzen. Das Anliegen ist zum einen, gute Bedingungen für weniger Lohnarbeitsabhängigkeit zu schaffen – die Coronakrise zeigt, wie notwendig dies gesamtgesellschaftlich ist. Commoning verträgt sich folglich sehr gut mit dem Ruf nach allgemeiner Verkürzung der Lohnarbeit, um mehr Zeit für Selbst- sorge, gesellschaftlich relevante Arbeit und eben Commoning zu gewinnen. Die ganze Diskussion weist einen Weg zum Aufbau solidarischer Strukturen, die Kapazitäten und Ressourcen für den Selbstbau freimachen. Zum anderen besteht die Aufgabe auch darin, diese Eigenleistung commonsartig zu organisieren.
Das kann bedeuten, dass die praktischen Baubeiträge nicht ,verrechnet‘ werden, sondern jede*r gibt, was sie/er geben kann, was alles andere als selbstverständlich ist. In der üblichen Waren- und Tauschlogik gedacht, sollen alle ,das Gleiche geben‘ – etwa durch Einrichtung von ,Zeitkonten über die geleistete Arbeit‘. Doch ,das Gleiche geben‘ bedeutet unter Berücksichtigung der Lebenswirklichkeiten der Einzelnen nicht für alle das Gleiche. Wer Kinder hat, verfügt über wesentlich weniger Zeitressourcen als etwa alleinste- hende Personen, und auch die berufliche Eingebundenheit spielt eine Rolle, nicht zu reden vom Alter oder der individuell-körperlichen Leistungsfähigkeit. Hier funk- tioniert die Praxis der Beitragsrunden aus der Solidarischen Landwirtschaft 9 (geben, was jede*r geben kann) wesentlich besser, weil dadurch unterschiedliche Lebensum- stände berücksichtigt werden. 8. DIREKTKREDITE SAMMELN UND BANKKREDITE SCHEUEN Bankkredite scheuen bedeutet, so viel Unabhängigkeit wie möglich vom Markt und von institutionellen Kapitalgeber*innen zu sichern. Es ist eine wichtige Vorausset- zung dafür, so entscheiden und handeln zu können, dass sich die Geldlogik nicht durchsetzt, selbst wenn das Prozesse verzögert. Auch wenn alle Beteiligten tatkräftig beitragen, muss oft ein großer Teil der Leistungen – etwa bestimmte Baustoffe und Tätigkeiten, die mit Gewährleistungspflichten verknüpft sind – über den Markt erworben werden. Die dafür nötige Finanzierung lässt sich mit Ausnahme des Sonder- falls, dass Geld – etwa aus hohen Erbschaften – vom Himmel fällt, in der Regel nicht Commons statt Gemeinschaft 50 ohne Kredite aufbringen. Allerdings gibt es auch hier commonsorientierte Hand- lungsmöglichkeiten und eine Fülle alternativer Finanzierungsformen.
Selbstbauende sind dabei auf eine kluge Kombination derselben angewiesen: Eigene Beiträge, staat- liche Förderungen, Crowdfunding-Kampagnen für Schenkgeld und (zinsfreie oder -arme) Kleinkredite aus privater Hand können zusammengenommen Bankkredite weitgehend ersetzen und helfen, die Abhängigkeit von Kapitalgeber*innen zu redu- zieren. Zwar können auch Kleinkreditgeber*innen ihre Kredite zurückhaben wollen, etwa weil das so vereinbart wurde oder weil sie das Geld selbst benötigen, doch hier besteht die Möglichkeit, Kleinkredite durch neue Kleinkredite von anderen Personen abzulösen ohne die ,Kapitalsubstanz‘ anzutasten. Diese Kreditrotation hat den ange- nehmen Nebeneffekt der ,Kapitalneutralisierung‘, denn das im Projekt verbleibende Kapital ist nun der Markt- und Verwertungslogik entzogen und gleichsam wohltuend stillgestellt. Es kann nicht mehr genutzt werden, um es zu vermehren. 9. BODEN UND WOHNRAUM DEM MARKT ENTZIEHEN Boden und Wohnraum dem Markt entziehen bedeutet, die Eigentumsverhältnisse so zu ändern, dass die Macht des Eigentums und des Kapitals langfristig neutrali- siert wird, sodass aus dem Haben allein keine Entscheidungsmacht und kein Renten- einkommen entstehen. Um diese Idee umzusetzen, sind die konkreten rechtlichen Lösungen oft verschachtelter als die häufig diskutierte Überführung von Individual- in Kollektiveigentum, schließlich kann auch Letzteres durch einen Verkauf wieder an den Markt zurückfallen. Das Mietshäuser Syndikat (vgl. Horlitz in diesem Band) hat diese Problematik gut gelöst und damit die Eigentumslogik zurückgedrängt, die darin besteht, dass Eigentum Ausschluss erzeugt. Es ist ein Pfeiler einer struktu- rellen Logik, in der die Einen ihre Wünsche realisieren, in dem sie gleichzeitig und oft ungesehen anderen Möglichkeiten nehmen, dasselbe zu tun.
Diese Logik der Exklu- sion finden wir auch beim Bauen und Wohnen, und sie gilt – in durchaus graduellen Abstufungen – für alle Eigentumsformen. Auch Kollektiveigentum hebt die exkludie- rende Wirkung von Eigentum nicht auf, kann sie aber – ähnlich wie der Gesetzgeber – beschränken und die kollektive Verfügung (mindestens partiell) in die Hände der Nutzer*innen legen. Einige Beispiele: In Deutschland gibt es selbstverwaltete Baugruppen in verschiedenen Rechtsformen (Wohneigentümergemeinschaft oder GmbH). Sie ermöglichen gemeinschaftliche Prozesse beim Bodenerwerb, während des Bauens und in der Wohnumfeldgestaltung. Allerdings legt die individuelle Ausrichtung auf das ,Eigene‘ (Haus/Wohnung innerhalb des Gesamtprojekts) einem Commo- ning von vornherein enge Grenzen an. Im Konfliktfall heißt es schnell: „Das ist meins, hier entscheide ich“. Kleine Wohngenossenschaften bieten hier ein güns- tigeres Umfeld. Sie sind auf Selbstorganisation des kollektiven Eigentums ausge- richtet („Alles gehört allen, aber niemandem individuell“), das günstigere Bedin- gungen für Commoning schafft. Der Zweck ist jedoch, ausschließlich die eigenen Mitglieder mit Wohnraum zu versorgen. Das kann durchaus bornierte Haltungen hervorbringen, sich einmal mehr nur auf das ,Eigene‘ – das hier das ,Gemein- schaftliche‘ ist – zu begrenzen. 10 Zudem gibt es – auch bei hohen Beschluss- quoren – keine Gewähr, dass kleine Genossenschaften sich nicht auflösen, um das gemeinschaftliche Eigentum zwecks individuellen Gewinns zu verkaufen (ganz zu schweigen von der politischen Zerschlagung von kommunalen Genos- senschaften). Dies zu verhindern, ist Zweck der trickreichen Rechtskonstruktion Silke Helfrich, Tomislav Knaffl, Stefan Meretz 51 des Miethäuser Syndikats.
Zugleich schafft sie es, die vielfältigen Beziehungen, die vom ,Eigentum‘ betroffen sind – zu Menschen aus anderen Projekten, zu künftigen Generationen, zum Boden als Baugrund usw. – abzubilden (Helfrich/Bollier 2018: 236ff.). Der Netzwerkcharakter des Syndikats ermöglicht zudem projektübergrei- fende Formen der Solidarität und Finanzierung. Alle vorgestellten Möglichkeiten, Boden und Wohnraum dem Markt und damit der Logik der Verwertung zu entziehen, haben ihre Grenzen. Eigentum zu vergemein- schaften birgt einen Selbstwiderspruch: Es ist der Versuch, gegen die ausschließende Logik des Eigentums mit den Mitteln des Eigentums vorzugehen. Wer drinnen ist, kann an den Früchten des Projekts teilhaben, schließt jedoch gleichzeitig jene aus, die außen vor bleiben. Dieser Widerspruch lässt sich nur aufheben, wenn das Außen keiner anderen Logik mehr unterworfen ist wie das Innen. Das verweist damit auf eine gesellschaftliche Perspektive, in der sich niemand mehr auf Kosten anderer behaupten muss, um die eigenen (Wohn- und andere) Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. Sutterlütti/Meretz 2018). 10. WAS COMMONING EINFACHER MACHT: VERFÜGEN, VEREINBAREN, KÖNNEN Alle im Bereich des selbstorganisierten Bauens und Wohnens wissen: Commo- ning gelingt nicht immer. Es gibt günstigere und ungünstigere Bedingungen. Zu den ungünstigen Bedingungen gehört das zunehmende Zur-Ware-Werden und die Verteuerung von Baugrund und Baupraxis. In unserem Beitrag zeigen wir Wege, diesen Warenfokus zu überschreiten und durch einen Commonsfokus zu ersetzen. Es sind Wege, die darauf verweisen, wie bedürfnisorientiertes und weitgehend selbst- organisiertes Bauen auch unter ungünstigen Bedingungen gelingen kann.
Zugleich entstehen durch die Entfaltung der fünf beschriebenen Grundmuster neue Bedin- gungen, Commoning einfacher zu machen; etwa das dauerhafte und rechtssichere Verfügen über Grundstück und Gebäude, genauso wie die Verfügung über Geld, Mate- rial und Zeit. Wichtig ist zudem, einbeziehende Vereinbarungen immer wieder neu zu finden oder anzupassen und dafür zu sorgen, dass diese Aufgabe zum selbstverständ- lichen Arbeitsstil und nicht als Extra-Belastung empfunden wird. Und schließlich erleichtert die gekonnte Erledigung anfallender Aufgaben das selbstorganisierte, bedürfnisorientierte Bauen ungemein. Können bezeichnet den Fähigkeitsgrad, eine Aufgabe zu erledigen. Es variiert kaum greifbar zwischen den Beteiligten, entwickelt sich ständig weiter und wächst mit der Erfahrung. Für ein gelingendes Projekt muss am Ende die Summe der notwendigen Aufgaben erledigt worden sein. Die Besonderheit ist nun, dass das dafür zugehörige individuelle oder kollektive Können objektiv schwer einschätzbar ist. Subjektiv sind die Beteiligten allerdings recht gut in der Lage, die (Lern-)Fähigkeiten ihrer Mitstreitenden einzu- schätzen. Solche subjektiven Einschätzungen prägen die Kooperationsbereitschaft hinsichtlich Art und Ausmaß des Engagements sowie der Auswahl von Mitbauenden für bestimmte Aufgaben. Ob eine Person eine Aufgabe angehen will, wird demnach vom Vertrauen der Anderen in ihr Können mitentschieden. Je mehr Vertrauen es gibt, desto leichter entscheidet sie sich für eine Aufgabe. Können ist – und auch das ist anders als in marktvermittelten Bauprozessen – keine notwendige Bedingung, die vor der Bauausführung erfüllt sein muss, denn commonsorientiertes Bauen ermög- licht Lernprozesse auch unterwegs – im Tun.
Commons statt Gemeinschaft 52 11.FAZIT Wir haben versucht zu zeigen, dass Wohnen und Bauen – so wie andere Prozesse auch – anders gedacht und gemacht werden können: als Commons und Commoning statt als Dienstleistung oder gutgemeinte Gemeinschaftsaktion. Das Bauen und Wohnen als Commons zu denken, bereitet den Weg dafür, es mehr als Commoning zu praktizieren. Beides zusammen zieht neue Leitplanken ein, schafft andere Wohnräume, Häuser und Stadtteile sowie andere Bauweisen und andere Formen des Miteinanders – und verweist schließlich auf andere gesellschaftliche Verhältnisse jenseits von Markt und Staat. Der Gestaltungsprozess selbst realisiert sich so, dass alle relevanten Bereiche, Beziehungen und Modi eines Bauprozesses oder Wohnprojekts aus Commons-Per- spektive durchdacht und, wenn möglich, ausgerichtet werden. Was dies bedeuten kann, haben wir am Beispiel von fünf Grundmustern beschrieben. Sie sind nicht als Handlungsvorschrift zu verstehen, bieten aber eine Orientierung, wie wir Commo- ning-Qualitäten in der Praxis verankern können. Wenn beim Bauen auf die Anwen- dung dieser Grundmuster geachtet wird, ändert sich das Bauen selbst. Deshalb ist die Qualität des Commoning entscheidend. Commoning braucht Gemeinschaft, aber Gemeinschaften sind oft Zweckgemeinschaften und diese führen nicht automatisch zum Commoning – so wie kollektives Eigentum nicht Garant dafür ist, dass Land oder Wohnraum dem Markt entzogen wird. Der Begriff begnügt sich nicht mit einem Verweis auf das Gemeineigentum, so wenig wie er gemeinschaft- liches Handeln romantisiert. Er fasst vielmehr die Beziehungs- und (Re-)Produktions- weisen zusammen, die uns helfen, unsere Welt als Gemeinsames zu verstehen und zu gestalten.
Diese Reflexionen dienen dazu, das, was die Amischen und Adis ,halt so machen‘, was ihnen noch als Selbstverständlichkeit gilt (beitragen, konviviale Tech- niken nutzen, sich gegenseitig Häuser bauen, super und effizient in Sachen Selbstbau sein) als Inspiration zu nutzen und zugleich ‚auf eine andere Stufe‘ zu heben. Denn die Schwierigkeit liegt ja darin, dass wir eine andere Bau- und Wohnkultur haben. Wir müssen also da durch – und das Bauen wieder anders denken lernen. Wenn es uns in diesem Prozess gelingt, wo immer möglich Rollen zu verändern, Finanzie- rungen umzubauen, unsere Selbstbaufähigkeiten zu trainieren, andere Wohnformen zu pflegen und Boden dem Markt zu entziehen – dann entziehen wir dem kapitalis- tischen Bauen und nicht-nachhaltigen Wohnen unsere Energie. Darin liegt die Kraft der Commons. 1 https://www.youtube.com/watch?v=AsTB0HnM6WM. 2 Die täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft der (traditionellen) Amische führt ein stark in der Landwirtschaft verwurzeltes Leben und übernimmt neue Techno- logien nur nach sorgfältiger Prüfung ihrer Auswirkungen auf das Leben in der Gemein- schaft. Dieses findet weitgehend abgeschieden von der Außenwelt statt und ist klar vorgegebenen Geschlechterrollen verhaftet. 3 https://www.wiwo.de/politik/ausland/krankenhaus-in-wuhan-ein-krankenhaus-im- eilverfahren-gegen-das-virus-und-fuer-pekings-image/25502432.html. 4 https://amisch.de/amisch/?thread/1066-in-dieser-welt-aber-nicht-von-dieser-welt- zu-sein/. 5 Ein Begriff von Ivan Illich, etwa: lebensdienliche Techniken. 6 Eine gute Einführung in verschiedene Commons-Ansätze und Abgrenzung zu ande- ren Begriffen findet sich auf der Seite des Commons Institut e. V. https://commons-in- stitut.org/2020/wikipedia-commons.
Silke Helfrich, Tomislav Knaffl, Stefan Meretz 53 7 Die Durchschnittswohnflächen pro Person nehmen kontinuierlich zu und erreich- ten in Deutschland 2018 fast 47 m² im Vergleich zu 35 m² noch 1990. https://www. deutschlandinzahlen.de/tab/deutschland/infrastruktur/gebaeude-und-wohnen/wohn- flaeche-je-einwohner In Österreich stieg die Durchschnittswohnfläche pro Person von 2009 von 42,9 m² bis 2019 gleichmäßig auf 45,3 m². https://www.statistik.at/web_de/ statistiken/menschen_und_gesellschaft/wohnen/wohnsituation/081235.html. 8 https://www.wikihouse.cc/, https://www.opensourceecology.org/portfolio/micro house/, https://www.openbuildinginstitute.org/about-what-we-do/. Siehe auch die Open Source Architecture License: https://wiki.p2pfoundation.net/Open_Source_Archi tecture_License. 9 https://www.solidarische-landwirtschaft.org/fileadmin/media/solidarische-landwirt- schaft.org/Mediathek/Aufbau-Solawi/Netzwerk-Solawi-Bieterrunde.pdf. 10 So zeigt sich auch bei selbstorganisierten Genossenschaften die Tendenz, sich mit dem zu bescheiden, was sie einmal ,für sich‘ geschaffen haben. QUELLEN Helfrich, Silke; Bollier, David 2019: Frei, Fair und Lebendig, Die Macht der Commons. Biele- feld: transcript Verlag. Kanning, Uwe Peter 2002: Soziale Kompetenz – Definition, Strukturen und Prozesse. In: Zeitschrift für Psychologie (210/4). Göttingen: Hogrefe. Knaffl, Tomislav 2009: Kompetenzen im Selbstorganisierten Gruppenselbstbau am Bei- spiel dreier Projekte in Stuttgart. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Stuttgart: Universität Stuttgart. Marx, Karl 1974: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Rohentwurf 1857–1858. Berlin: Dietz. Mibang, Tabang 2018: Collective Action and Community Labour Management System among the Adis of Arunachal Pradesh. In: International Journal of Management Stu- dies ISSN (Print) 2249-0302 ISSN 2231–2528.
http://researchersworld.com/ijms/vol5/ issue3_3/Paper_04.pdf. Steiner, Claude 1997: Emotionale Kompetenz. München: Hanser. Sutterlütti, Simon; Meretz, Stefan 2018: Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Uto- pie und Transformation neu nachzudenken. Hamburg: VSA. SILKE HELFRICH Silke Helfrich widmet sich forschend, vernetzend und beratend dem Thema Commons. Sie lebt in einem Haus mit fast 600-jähriger Geschichte und pflegt dort das bauliche Erbe vieler Generationen in traditioneller Weise. Die Mitgründerin des Commons-Insti- tuts und der Commons Strategies Group ist auch international tätig. TOMISLAV KNAFFL Tomislav Knaffl hat in Stuttgart Architektur studiert und seine Abschlussarbeit über Kompetenzen im selbstorganisierten Gruppenselbstbau verfasst. Er ist im Projekt teil- bar in Stuttgart und im Commons-Institut aktiv. STEFAN MERETZ Stefan Meretz lebt in einem Mehrgenerationenwohnprojekt in Bonn. Er ist Gründungs- mitglied des Commons-Instituts, arbeitet im Forschungsprojekt „Die Gesellschaft nach dem Geld“, hat das Buch „Kapitalismus aufheben“ mitverfasst und bloggt auf keimform.de. Commons statt Gemeinschaft 55 https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_5 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. Sabine Nuss Gemeinschaft und ihr Eigentum Bei kaum einem Thema prallen Privateigentum und Konzepte gemeinschaftlichen Eigentums kontroverser aufeinander als beim Wohnen. Das hat vielfältige Gründe. So wurden in den letzten Jahrzehnten immer mehr Wohnungen der Logik des Markts unterstellt und in manchen Städten überstieg die Nachfrage das Angebot. Verdrängung und Mietsteigerungen waren die Folge.
Konflikte zwischen jenen, die auf bezahlbares Wohnen angewiesen sind, und jenen, die dieses Bedürfnis zum Mittel ihrer Altersvorsorge oder zur Renditesteigerung nutzen, polarisieren die Stadtgesellschaften. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der erbittert geführte Streit um die Wohnungsfrage: Soll der Staat eingreifen und neben anderen Regu- lierungsinstrumenten kommunales, genossenschaftliches und selbstverwaltetes Wohnen fördern oder soll der Staat Anreize setzen für privates Bauen, Vermieten bzw. Verkaufen? Unabhängig davon, wie diese Frage im Detail und am Beispiel Wohnen diskutiert wird, steht dahinter mal mehr, mal weniger explizit der Streit darum, welches Eigentum dem Gemeinwohl dienen könne. Gemeineigentum in seinen unterschiedlichsten Formen und Begriffen – staatlich, kommunal, öffent- lich, kollektiv etc. – wird bescheinigt, sozialen Kriterien wie zum Beispiel nied- rigschwelliger Zugang und demokratische Mitbestimmung besser genügen zu können als Privateigentum. Andererseits wird unterstellt, dass in solchen Eigen- tumsformen aufgrund fehlender privater Anreizstrukturen Wirtschaftlichkeit und Effizienz vernachlässigt werden. Vorliegender Artikel möchte dieser weit verbreiteten Entgegensetzung nach- gehen und zeigen, dass privat nicht das jeweils ganz andere von gemeinschaftlich ist. Vielmehr ist Privateigentum ohne Formen gemeinschaftlichen Eigentums gar nicht denkbar. Diese Abhängigkeit ist allerdings nicht ohne Spannung. Sie tendiert dazu, die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenhangs zu gefährden. Gemeinei- gentum wiederum beruht auf der gleichen Rechtsordnung wie Privateigentum, stößt 56 aber mit seinen gesellschaftspolitischen Idealen stets an die Grenzen genau dieser Ordnung. Um diesen Zusammenhang zu durchdringen, bedarf es eines größeren Anlaufs, genauer: einer grundsätzlichen theoretischen Ortsbestimmung.
Das Thema Wohnen dient hierbei an ausgewählten Stellen zwar der Illustration, im Kern des vorliegenden Textes steht jedoch die Frage: Was ist Eigentum? 1. EIGENTUM: DAS RECHT, ANDERE AUSZUSCHLIESSEN Im spontanen Alltagsbewusstsein wird Eigentum zumeist ,verdinglicht‘ verstanden, Eigentum, das ist in dieser Lesart schlicht meine Wohnung, meine Hose, mein Fahrrad. Wenn aber etwas ,meins‘ ist, ist es zugleich nicht ,deins‘. Bereits hier wird deutlich, dass Eigentum keine Sache ist, sondern ein soziales Verhältnis zwischen Menschen bezüglich einer Sache, sei es materiell oder immateriell. Näher betrachtet geht es um Verfügungsmacht. Jene, denen sie zukommt, können frei über etwas verfügen, das heißt, sie haben das Recht, andere vom Zugang dazu auszuschließen und zwar völlig unabhängig davon, ob diese das Gut, zu dem sie Zugang begehren, dringend bräuchten oder nicht. So wird es möglich, dass Obdachlose auf der Straße leben müssen, während daneben Häuser leer stehen. Diese exklusive und abstrakte Verfügungsmacht (unabhängig vom konkreten Inhalt und Bedarf anderer) ist ein Phänomen der Neuzeit (Wesel 1997). Sie ist im bürgerlichen Recht kodifiziert. Die bundesdeutsche Verfassung schreibt mit Artikel 14, Absatz 1 fest, dass das Eigentum und das Erbrecht gewährleistet werden. Wenn also von Eigentum die Rede ist, dann ist damit in aller Regel genau dieses Ausschlussrecht gemeint. Es wird daher häufig synonym mit Privateigentum benutzt. Gemeineigentum meint in dieser Lesart zunächst mal das Gleiche, mit dem Unterschied, dass hier eine Gruppe von Menschen dieses Ausschlussrecht hat und nicht ein Individuum. Dieses im Grundgesetz gewährte Eigentum hat Grenzen. So heißt es in der Verfassung, dass Inhalt und Schranken durch Gesetze bestimmt werden.
Hier ist ein Spannungsverhältnis zwischen Privatperson und Dritten bereits insofern angelegt, als dass den Eigentümer*innen zunächst die unmittelbare absolute Verfügungs- gewalt zukommt, welche dann beschränkt werden kann. Dem Alltagsverständnis von Eigentum sowie der juristischen Ordnung ist nicht anzusehen, welche Mecha- nismen dazu führen, dass die einen über viel und die anderen über wenig verfügen. Beide verbleiben auf einer rein deskriptiven Ebene eines Ausschlussrechts. Damit ist allerdings nur die Oberfläche eines umfassenderen gesellschaftlichen Verhältnisses erfasst. 2. EIGENTUM ALS KLASSENVERHÄLTNIS Mit Marx kann man Eigentum als einen spezifischen Prozess der Aneignung von Natur durch die Menschen verstehen. Dabei sind die Rohstoffe der Natur, die Arbeitsinstru- mente und die Ergebnisse der Bearbeitung von Natur die „objektiven Bedingungen der Produktion“ (Marx 1983, 1857/58: 383ff.). Die je verschiedene Art und Weise, wie sich die Individuen zueinander in Bezug auf diese Bedingungen verhalten, entspricht daher höchst unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen. Ein Vergleich mit vormo- dernen Aneignungsformen hilft, die Spezifik des zeitgenössischen Eigentums besser zu verstehen. Der lange Übergang vom Feudalismus zu einer Gesellschaft, in der Waren- und Marktverhältnisse dominieren und in der bürgerlichen Demokratie eine Sabine Nuss 57 entsprechende politische Form finden, bildete hinsichtlich dessen, was Eigentum ausmacht, eine einschneidende Veränderung. Boden war historisch bis dahin das wichtigste Produktionsmittel. Landbewohner*innen waren persönlich abhängig von weltlichen Grundherren und kirchlicher Obrigkeit. Sie waren über vielfältige überlieferte Rechte, die mit dem bürgerlichen Recht wenig gemein hatten, an eine Scholle gebunden.
Kraft der Zugehörigkeit zu einer Familie, Sippe oder ähnlichen verwandtschaftlichen Zusammenhängen hatten die Menschen Zugang zu Acker und Fischgründen, sie betrieben Landwirtschaft und Viehhaltung. Einen Teil der daraus gewonnenen Lebensmittel mussten sie abgeben und nicht selten auch noch Fronarbeit leisten. 1 Mit der Loslösung der Menschen von ihrem Grund und Boden, vor allem durch ihre gewaltsame Vertreibung (den sogenannten Enclosures), war ihnen die Möglichkeit zum unmittelbaren Selbsterhalt genommen. Dieser Prozess dauerte mehrere Jahrhunderte und vollzog sich in zeitlich und räumlich unter- schiedlichen Phasen (Wood 2015). Viele ihrer Produktionsmittel Enteigneten wurden zu Vagabunden, sie bettelten, klauten, wurden teilweise hart verfolgt. Als später in den wachsenden Städten Fabriken entstanden, unterwarfen sie sich schließlich dem Kapital, auch, um der Repression zu entgehen. Aus dem „Leibei- genen“ oder Grundhörigen wurde der „doppelt freie Arbeiter“, rechtlich frei, seine Arbeitskraft zu verkaufen, und ökonomisch frei von Produktionsmitteln, sodass er seine Arbeitskraft verkaufen musste. 2 Im Zuge dieses doppelten Wandels traten die Menschen in fundamental neue soziale Verhältnisse ein. In einer weitverbreiteten Lesart wird nur die eine Seite der Medaille wahrgenommen: die Befreiung des Individuums aus persönlicher Abhän- gigkeit und sein Dasein als freies und gleiches Subjekt im Rahmen von Rechtsstaat und Demokratie. Was damit übersehen wird: diese spezifische Freiheit und Gleich- heit war überhaupt die Voraussetzung dafür, dass sich ein neues Herrschaftssystem etablieren konnte, das bis heute den sozialen Ungleichheiten zugrunde liegt und in welchem sich Privateigentümer von Produktionsmitteln und die daran Besitzlosen gegenüberstehen. Die Abhängigkeit der Letzteren ist allerdings nicht mehr persön- lich bestimmt, sondern sachlich.
Es ist der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx), dem die Arbeitenden nun unterworfen sind. Sie leisten ebenso Mehrarbeit, wie ihre Vorgänger Fronarbeit leisten mussten, allerdings in Form von Lohnarbeit. 3 Sie produzieren jetzt nicht mehr nur ein Mehrprodukt für den Grund- herren, sondern Wert und Mehrwert für den Kapitaleigner. Indem die Bezahlung der Arbeitskraft als Bezahlung der geleisteten Arbeit erscheint, wird die Mehrarbeit jetzt unsichtbar. Das bürgerliche Recht sichert dieses Klassen- und Ausbeutungsverhältnis gerade dadurch ab, dass die ökonomischen Beziehungen durch Verträge zwischen rechtlich Gleichen abgewickelt werden. Obwohl die Individuen rechtlich gleich und frei sind, steht einer Klasse von Produktionsmittelbesitzer*innen eine andere Klasse gegenüber, die keine Produk- tionsmittel besitzt. Dieses Verständnis von Klasse bewegt sich auf einem hohen Abstraktionsniveau. Es ist noch nichts darüber gesagt, wie sich die Klasse konkret zusammensetzt, das heißt, unter welchen Bedingungen die Menschen arbeiten müssen, zu welchem Lohn, mit welchen Vor- oder Nachteilen in der Konkurrenz, auf welcher Stufe der Karriereleiter und so weiter. Viele werden immer wieder auf die Straße gesetzt, andere kriegen nie einen Job. Ein anderer Teil verbleibt in unbe- zahlten Tätigkeiten, oft patriarchalen Abhängigkeiten. Diese sozialen Ausdifferenzie- rungen sind stets im Wandel, die individuellen Lebensläufe dem krisenhaften Auf und Ab kapitalistischer Marktwirtschaft unterworfen. Gemeinschaft und ihr Eigentum 58 3. GELD IST MACHT IST EIGENTUM Die Ablösung der persönlichen durch die sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse beinhaltet auch, dass die abhängig Arbeitenden sich die Produkte ihrer Arbeit, die vollständig in das Eigentum der Arbeit,geber‘ übergehen, auf einem Markt wieder zurückkaufen müssen.
Dabei bekommen sie immer nur einen Teil des von ihnen produzierten Reichtums, auf dessen Umfang sie wenig Einfluss haben. Dieser Teil hat vor allem dem Erhalt ihrer Arbeitskraft zu dienen, auf welchem historisch verän- derlichen Niveau auch immer. Den Rest eignen sich die Privateigentümer*innen der Produktionsmittel an. Der Markt im Frühmittelalter war ein lokal eingegrenzter Ort, auf dem Über- schüsse im Rahmen von Feilschen oder in Form von Naturalien ausgetauscht wurden. Dominant waren reziproke Tauschbeziehungen, denen keine äquivalenten Werte und entfalteten Warenbeziehungen zugrunde lagen, vielmehr hatten sie ihre Ursache in sozialen Bindungen: „Reziprozität erfordert die Angemessenheit der Gegengabe, nicht aber eine mathematische Gleichwertigkeit“ (Polanyi 1979: 159). Erst allmählich setzte sich ein umfassenderer Tausch Ware gegen Geld durch und wurde schließ- lich zu einem die ganze Gesellschaft und nahezu alle arbeitsteilige Naturaneignung bestimmende Verkehrsform (Bockelmann 2020). Als Boden und Arbeitskraft sich aus ihrem sozialen Zusammenhang lösten oder auch wie oben erwähnt ziemlich gewaltsam voneinander gelöst wurden, wurden die Arbeitenden gezwungen, ihre Arbeitskraft und ihre Arbeitsergebnisse als Ware zu behandeln. Sie bezogen sich wechselseitig aufeinander als freie und gleiche Warenbesitzer. Was sie füreinander seither produzieren, verteilt sich über den Tausch Ware gegen Geld an die Mitglieder der Gesellschaft. Teil dieser neu entstandenen sozialen Beziehungen war die Herausbildung von Geld als allgemeines Äquivalent. Immer mehr Menschen traten als atomisierte, eigen- tumslose Individuen über einen anonymen Markt zueinander in Beziehung. Im Nach- vollzug dieser Entwicklung setzte der Gesetzgeber mit Gewalt ein alle verpflich- tendes, einheitliches Geld durch (Stützle 2020).
Das erlaubte ihm umfassende Kontrolle darüber, wer wie viel Zugriff auf den gesellschaftlich produzierten Reichtum erhält, nicht zuletzt er selbst hatte daran gesteigertes Interesse. Geld wurde zur abstrak- testen Form von Eigentum, Verfügungsgewalt pur, mit einer zentralen Eigenschaft: Die Macht, andere vom Zugang ausschließen zu können. Damit werden Güter künst- lich knapp gehalten, auch wenn genug für alle da wäre. Es erhalten nur jene Zugang dazu, die Geld haben. 4 Im feudalen Grundeigentum waren also soziale Beziehungen eingeschlossen sowohl der Ausbeutung, als auch der rudimentären Fürsorge für die Menschen, die an der Scholle hafteten, ebenso wie Elemente gemeinschaftlichen Wirtschaftens in der Dorfgemeinde. Mit Geld und modernem Eigentum werden alle diese sozialen Beziehungen ausgelöscht: Geld macht alles kommensurabel, weil nur noch die Quantität des Werts zählt. Es ist kein Zufall, dass Geld als allgemeines Äqui- valent und Privateigentum an Produktionsmitteln historisch gleichzeitig entstanden sind. Heute ist es nicht mehr der Fürst, der Grundherr oder die Kirche, die die ihnen Untergeordneten via Fronarbeit zwingt, was sie konsumieren und was sie abzuliefern haben, vielmehr sind es jetzt die Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit, die darüber bestimmen, was die Arbeitenden von dem, was sie produziert haben, für sich selbst einbehalten können und wie viel sie abgeben müssen. Diese Auseinander- setzungen bewegen sich in einem historisch stets umkämpften Korridor und sind Sabine Nuss 59 abhängig von den je herrschenden Kräfteverhältnissen. Würde eine kritische Masse an Arbeitenden allerdings so viel Lohn erhalten, dass sie ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen müssten, wäre das Klassenverhältnis grundsätzlich infrage gestellt. 4.
DIE MASSLOSIGKEIT MODERNEN EIGENTUMS Mit der bis hier beschriebenen Sozialstruktur des Eigentums ist seine Besonderheit noch nicht restlos bestimmt. Es fehlt noch eine zentrale Charakteristik, die in den meisten Bestimmungen des Eigentums entweder gar nicht oder dem Eigentum nur äußerlich wahrgenommen wird. Die herrschenden Klassen in den feudalen, vormo- dernen Gesellschaften eigneten sich Reichtum und Macht in Form von (Natural-) Abgaben, Kriegen und Raub an. Die herrschenden Klassen der modernen Gesell- schaften eignen sich den von den Arbeitenden produzierten Reichtum über einen anderen gesellschaftlichen Mechanismus an: Unter dem Druck der Konkurrenz sind sie getrieben, aus ihrem vorgeschossenen Kapital mittels der Ausbeutung von Mensch und Natur mehr Kapital zu machen (Kapitalakkumulation), bei Strafe des Untergangs. Der dabei erzeugte Profit wird in einen erneuten Produktionsprozess investiert, um noch mehr Profit zu machen, die jedesmalige maximale Verwertung des Kapitals wird zum Selbstzweck. Aus diesem Prozess kann zwar ein luxuriöses Leben finanziert werden, das ist aber nicht das Hauptziel. Motiv ist Profit um des Profits willen. Die damit einhergehende Dynamik ist verantwortlich für die enorme Innovationskraft der kapitalistischen Produktionsweise. Unter dem Kommando dieser Logik haben die arbeitenden Menschen in den letzten 150 Jahren in einer kollektiven Anstrengung ohnegleichen eine nie gekannte Produktivkraft entwickelt. Ihr ist zu verdanken, dass der Güterausstoß verglichen mit all den Jahrhunderten zuvor um ein Vielfaches gestiegen ist und sich extrem ausdifferenziert hat in eine ungeheure Warenvielfalt, sodass Armut in weiten Teilen der Welt zurückgegangen ist.
Diese gesellschaftlich entwickelte Produktivkraft wird allerdings privat ange- eignet, mit dem Wachstum geht daher auch eine enorme Ungleichverteilung einher, sodass massenweise bittere Armut trotz hoch entwickelter Produktivkräfte nach wie vor eine bekannte Erscheinung ist. Diese Produktivkraft birgt noch eine weitere Ambivalenz. Das Wachstum, die unaufhörliche Vermehrung des Kapitals mittels der Umformung von Natur durch Arbeit ist endlos und maßlos. Da Geld abstrakte Verfügungsgewalt über alles konkrete, also stofflich, sinnlich-erfahrbare verkörpert, ist es für die Vermehrung des Kapitals gleichgültig, ob sie mittels der Produktion von Gift, Müll oder Musik spie- lenden Feuerzeugen erfolgt. Auch ist es für die Verwertung von Kapital prinzipiell egal, ob die Arbeitsbedingungen gut oder schlecht sind. Worauf es nur ankommt, ist die Mehrung privater Verfügungsmacht über den gesellschaftlich produzierten Reichtum. Und genau dafür ist die unaufhörliche Kapitalverwertung seine einzige Quelle. Die diesem Zweck dienende Ausbeutung von Natur und Mensch sind dafür nun zwar notwendige Bedingung, andererseits aber müssen sie genau vor diesem Verwertungstrieb geschützt werden, grade, weil er keine Grenze an sich selbst findet, weil er blind, maß- und endlos ist. Seit die Akkumulation von Kapital zur hauptsächlichen Quelle der Einnahmen des heutigen Steuerstaates geworden ist, hat er mit diesem Spannungsverhältnis zu kämpfen. Staatliche Politik entwickelte einerseits zunehmend ein Interesse daran, dass sich das (nationale) Kapital vermehrt, zugleich griff sie immer wieder ein, um die daraus folgenden Schäden zu begrenzen (Polanyi 1997). Das deutsche Grundgesetz Gemeinschaft und ihr Eigentum 60 mit der Gewährung von Privateigentum und der gleichzeitigen Schrankenregelung ist Ausdruck davon. Das Kapital wird damit auch vor seiner eigenen Selbstzerstörung geschützt.
Der Staat hält aber auch, wenn es das Kapital nicht selbst rentabel vorfinanzieren kann, die allgemeinen Verwertungsbedingungen des Kapitals, bzw. die „allgemeinen Bedingungen der Produktion“ (Marx 1983, 1857/58: 437ff.) vor. Das sind beispiels- weise Infrastrukturleistungen wie Verkehrs- und Kommunikationsmittel, Strom, Wasser, Müll, aber auch Grundlagenforschung etc. Dieses Zusammenspiel zwischen Kapital bzw. Privateigentum und staatlichem Eigentum ist vielleicht vergleichbar mit einem Mehrfamilienhaus mit Wohnungen, die unterschiedlichen Privateigentümern gehören. Das Treppenhaus muss für alle zugänglich bleiben, es kann nicht exklusiv nur einem gehören, denn, wenn er andere vom Zugang ausschließen würde, würden die Wohnungen der anderen nutzlos. Das erklärt, warum auch bei Privateigentum an Wohnimmobilien ein gemeinschaftliches Eigentum existiert. Bei Häusern mit Eigen- tumswohnungen mehrerer Eigentümer wird in einer sogenannten Teilungserklärung genau festgelegt, was zum Sondereigentum und was zum Gemeineigentum gehört. Aber auch Straßen, Straßenbeleuchtung, all dies sind Leistungen, ohne die Immobi- lien nutzlos wären und die in der Regel öffentlich finanziert zur Verfügung gestellt werden. Manche gemeinsamen Güter können durch übermäßigen Gebrauch in ihrer Existenz gefährdet werden, dann braucht es Regeln, die eine Übernutzung verhin- dern, damit die Quellen oder Bedingungen der Kapitalverwertung nicht zerstört werden. 5 Staatlich geförderter Wohnungsbau gehört zum Repertoire gesellschaftlicher Befriedung. Auch sozialer Friede ist eine Standortbedingung für das Kapital. Zugleich ist soziale Wohnungspolitik immer auch auf den Arbeitsmarkt zentriert, denn bei gras- sierender Obdachlosigkeit können eventuell dauerhaft Arbeitskräfte verloren gehen, was für den krisenbedingt schwankenden Bedarf in Marktwirtschaften ein Problem wäre.
Kommunen lenkten Arbeitskraft mitunter auch ganz bewusst in bestimmte Gegenden, etwa mit der vorrangigen Vergabe von Wohnungen an Personen, die in der jeweiligen Region besonders gefragte Berufe hatten. 6 Gegenwärtig klagen Arbeitge- ber*innen, dass aufgrund des Wohnungsmangels und der steigenden Mieten Arbeits- kräfte kaum noch zu finden wären. Die allgemeinen Verwertungsbedingungen waren historisch stets umkämpft, auch in der Wohnungspolitik ist ein ständiger Wechsel der Schwerpunktsetzung erfolgt, mal war die Versorgung staatlicherseits erforderlich, mal sollte sie wieder mehr dem Markt überlassen werden. 7 Die spezifisch kapitalistische Handlungsstruktur ist von Konkurrenz und einem von ihr erzeugten endlosen und maßlosen Verwertungstrieb des Kapitals gekennzeichnet. Diese immanente Tendenz setzt sich der*dem Kapita- list*in gegenüber als äußeres Zwangsgesetz durch. Selbst wenn sie/er es nicht will, sie/er muss, um in der Konkurrenz mithalten zu können, ihren/seinen Profit maxi- mieren. Als solches sind die fungierenden Kapitalist*innen stets auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten. Sind diese knapp, gerät auch Staatstätigkeit in den Blick. So kritisierte beispielsweise der Bundesverband der Deutschen Industrie Anfang der 1950er-Jahre explizit, dass staatliches Unternehmertum einer Enteignung der Privat- wirtschaft gleichkomme (Handschuhmacher 2018: 51). Seinerzeit wurden einige große Staatsunternehmen privatisiert. Seit den 1980er-Jahren folgte dann eine Art Offen- sive, weite Teile der Daseinsvorsorge wurden der Profitmaximierung unterworfen. Der Staat ist ein entscheidender Akteur, der bestimmt, wie viele Bereiche der gesellschaftlichen Produktion den privaten Akteur*innen zur exklusiven Reich- Sabine Nuss 61 tumsmehrung überlassen werden.
Er ist es darüber hinaus, der überhaupt erst jene Gesetze aufstellt, unter denen sich die Menschen als Warenproduzent*innen zuei- nander verhalten können. Das Ergebnis dieses Verhaltens erscheint dann abstrakt als ,der Markt‘. Zu diesen Gesetzen gehört vor allem die Sicherung des Eigentums, die eine exklusive Verfügungsgewalt Einzelner gegenüber der Gesellschaft recht- lich ermöglicht. Das Wettbewerbsrecht fixiert die Bedingungen, unter denen die Privateigentümer*innen zueinander in Konkurrenz treten und unabgestimmt produzieren. Das Geld- und Währungsmonopol wiederum legt die Bedingungen fest, unter denen die Mitglieder der Gesellschaft sich die produzierten Waren nur aneignen können. Alternative Währungen werden daher lange skeptisch beäugt, bis sie schließlich verboten oder integriert werden. Der Staat setzt daher nicht einfach nur den Rahmen. Der Staat ermöglicht den Markt, indem er Gesetze formuliert, in denen sich die Menschen im Produktions- und Konsumtionsprozess in bestimmten sozialen Beziehungen zueinander verhalten und aufeinander beziehen. Staatswesen ohne Markt kennt man aus der Geschichte, Markt ohne Staat aber gibt es nicht. Die oft von interessierter Seite vorgetragene Position, dass Privateigentum besser sei als Gemeineigentum oder Markt besser als Staat, blendet das in aller Regel aus. 5. DIE AUSWEITUNG DER KAMPFZONE Weder die Frage, wer Eigentümer ist, noch die Frage, wie viele Personen es sind, ist wirklich hinreichend zum Verständnis unterschiedlicher Eigentumsformen. Entscheidend ist die Frage: Wie verhalten sich die Menschen zueinander bezüg- lich der Aneignung von Natur, in welchen sozialen (Macht-)Beziehungen stehen sie sich bei der Produktion von Gütern oder der Bereitstellung von Dienstleistungen jeweils gegenüber?
Wohngemeinschaften, die in Selbstverwaltung ein Pachthaus bewirtschaften, haben zumindest die Möglichkeit und die Freiheit, einem ,Unter- nehmenszweck‘ zu folgen, der den tatsächlich vorhandenen Bedarf der Nutzer*innen ins Zentrum stellt und ihn an den vorhandenen Ressourcen misst, die zur Bedürf- nisbefriedigung aufgewendet werden müssen. Die Verfügungsmacht über das Haus wird geteilt, die Beziehungen sind symmetrisch, die Befriedigung der Bedürfnisse muss daher demokratisch untereinander ausgehandelt werden. Nun können auch bei Privateigentum mehrere Personen die Verfügungsmacht über eine Immobilie oder andere Produktionsmittel haben, zum Beispiel im Falle von Aktiengesellschaften, bei der die Ausschüttung von Dividenden mehreren Eigentümer*innen, den Aktio- när*innen, zukommt. Hier sind die Beziehungen zwischen Eigentümer*innen und Nutzer*innen allerdings asymmetrisch. Im ersten Fall können die Bewohner*innen ihre gemeinsame Verfügungsgewalt über Grund und Boden so einsetzen, dass sie gemeinsam darüber entscheiden, wie hoch ihre Mieten in dem darauf befindlichen Haus sein sollen, wie viel sie an Rück- lagen ansparen wollen, was sie instand setzen wollen, was modernisieren. Ein privater Eigentümer, der aus ihren Mieten zusätzlich noch Rendite abschöpfen möchte und seine ganze Bewirtschaftungsstrategie ihrer Steigerung unterordnet, fällt hier weg. Bewohner*innen von selbstverwalteten Hausprojekten können sich daher diesen Teil ihres Abzugs vom Lohn sparen und können darüber hinaus soziale Ungleich- heit durch interne Umverteilung kompensieren. Solche Wohnformen erfüllen daher häufig die Funktion von Not- und Solidargemeinschaften. Dem gegenüber stehen große und kleine private Immobilienkonzerne, die Wohnungen ausschließlich zur Renditesteigerung vermieten und deren Zweck es Gemeinschaft und ihr Eigentum 62 ist, ihr investiertes Kapital möglichst maximal zu verwerten.
Diesen Zweck können allerdings auch kommunale Wohnungsanbieter oder kirchliche Träger verfolgen. Es kommt nicht so sehr auf den juristischen Träger des jeweiligen Objekts an, sondern auf den Zweck, der damit verfolgt wird. Wenn Mieten zum Zweck der Renditestei- gerung erhöht werden, fällt von dem sowieso von vorneherein auf den Erhalt der Arbeitskraft begrenzten Lohn oder Transfereinkommen nochmal ein Teil weg und kommt jenen zugute, die die Verfügungsmacht über Grund und Boden zur Profitma- ximierung einsetzen. Es gibt vor dem Hintergrund der hier beschriebenen Sozial- struktur des Eigentums zwischen den beiden Polen Hausprojekt in gemeinnütziger Trägerschaft und großer Immobilienkonzern an der Börse noch weitere asymmet- rische Machtbeziehungen zwischen Mietparteien und Eigentümer*innen. Wohnen Lohnabhängige zur Miete in der Immobilie eines börsennotierten Konzerns, ist das Verhältnis zwischen ihnen und der*dem Vermieter*in eine Verlängerung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit. Dieser kann sich auch in ein und dieselbe Person verlagern, wenn eine Mieterin einen Teil ihres Lohns in eine kapitalgedeckte Rentenversicherung investiert und der entsprechende Versicherungsfonds dieses Geld anlegt in dem Immobilienkonzern, der zufällig ihr Vermieter ist und ihre Miete erhöht, zur Renditesteigerung der Anlage. Geht es um die Gewerbemiete von Selbst- ständigen oder Unternehmen, haben wir es mit einem Verteilungskonflikt zwischen Kapitalfraktionen zu tun oder zwischen Kapital und „kleinem Meister“ (Marx), Klein- betriebe, die noch nicht als Kapitalist*innen zählen, Mieterhöhungen führen hier schnell in die Pleite.
Selbstgenutztes Wohneigentum ist wiederum ein Verhältnis der Eigentümer*innen zu sich selbst, daher keine Machtbeziehung und daher nicht der maximalen Kapitalverwertung unterworfen, es sei denn, die Wohnung wird irgend- wann mit genau jener Absicht wieder verkauft. Eine Machtasymmetrie gibt es auch zwischen den Eigentümer*innen weniger oder gar nur einer einzigen Wohnung, die mit dem Zweck der Altersvorsorge vermietet wird. Hier findet in der Regel eine Spal- tung innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen statt, indem die einen den Lohn der anderen abschöpfen. Man kann diese unterschiedlichen asymmetrischen Beziehungen auch als ,Erpressungsverhältnisse‘ charakterisieren, die auf der exklusiven Verfügungsmacht über Boden basieren. Diese sind dabei nicht immerzu gleich, sondern können sich im Ausmaß der Machtkonzentration auf der einen Seite und des Machtverlusts auf der anderen Seite wandeln, auch die Akteur*innen als Träger der Macht können sich ändern. In den letzten vier Jahrzehnten sind Privatisierungen und die Zunahme sozi- aler Ungleichheit, die Entstehung eines Niedriglohnsektors, die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse Hand in Hand gegangen. Zugleich hat das nationale und inter- nationale Kapital zunehmend Immobilien als sichere Anlagesphäre entdeckt. Diese Gemengelage hat die Kräfteverhältnisse neu sortiert, die Machtbeziehungen asym- metrischer werden lassen. Dass es niedrige Einkommen gibt und ein immer höherer Anteil der Einkommen oder Sozialtransfers in die Miete gesteckt werden muss, wird in der öffentlichen Auseinandersetzung häufig als offensichtlich unvermeidliche, natürliche Entwicklung hingenommen, entsprechend werden diese gesellschaft- lichen Verwerfungen als wohnungspolitisch zu verwaltendes Problem behandelt, nicht aber als ein wesentlich grundsätzlicheres Problem gesellschaftlicher Entwick- lung.
Je mehr Wohnungen nun solchen ungleichen Machtbeziehungen unterstellt werden, und je zersplitterter sie sind, desto individualisierter sind die Kämpfe, desto ohnmächtiger die Einzelnen, desto giftiger die stadtpolitische Debatte um die Decke- lung von Mieten. Der Mensch ist nicht von Natur aus des Menschen Wolf, wie Hobbes Sabine Nuss 63 das „Homo homini lupus“ dachte, vielmehr wird die Feindschaft durch bestimmte soziale Strukturen erst erzeugt oder eben verhindert. Es ist daher richtig, für soziale und sichere Wohnformen zu kämpfen, das setzt voraus, dass die, die darin wohnen, auch die Verfügungsmacht darüber haben oder aber, dass die Verfügungsmacht deren Wohl zum Zweck hat und nicht ihre Machtlosig- keit zum Mittel der eigenen Bereicherung nutzt. Man sollte sich allerdings der Ambi- valenzen solcher Kämpfe stets bewusst sein. Sofern der Staat die Verfügungsmacht über die von ihm finanzierten Ressourcen hat, gibt es auch in diesem Falle Machtun- gleichgewichte, außerdem ist der Staat auf Wettbewerb und Akkumulation des Kapi- tals angewiesen, da stehen öffentliche Güter stets in der Gefahr, wieder privatisiert zu werden oder latent unterfinanziert zu sein. Aber auch andere, staatsfernere Formen von Gemeineigentum wie selbstverwaltetes und genossenschaftliches Wohnen etc. bleiben in einer kapitalistischen Umwelt stets prekär. Die Bewohner*innen stehen als Teil der abhängigen Klasse nicht außerhalb der Welt. Es braucht Zeit für selbstverwal- tetes Wohnen, das muss abgerungen werden von der Lohnarbeitszeit, es braucht Rück- lagen, die sind Abzug vom systematisch begrenzten Lohn, es braucht Kredit für etwaige Investitionen, dessen Tilgung steht und fällt mit der Sicherheit von Job und Einkommen. Darüber hinaus fangen solche Solidargemeinschaften häufig Menschen auf, die die marktwirtschaftliche Auslese aussortiert hat.
Unter Bedingungen von Unsicherheit und Ressourcenknappheit kann das eine Gemeinschaft an Grenzen bringen. Sollen Projekte sozialen Wohnens jenseits von Staat und Markt dauerhaft Bestand haben, braucht es eine nachhaltige, vor allen Dingen gesamtgesellschaftliche Verände- rung der sozialen Beziehungen zwischen den Individuen, über Wohngemeinschaften hinaus. Soziale, gemeinschaftliche Wohnformen, die auf den Bedarf und nicht auf Profit orientiert sind, haben für ihre Bewohner*innen im Kapitalismus viele Vorteile zu bieten. Sie sind aber nicht schon die Lösung, sondern – stets prekäre – Orte des Lernens. Denn wie eine Gesellschaft die durch einen anonymen Markt vermittelte Ökonomie privater Aneignung neu zu ordnen hätte, ist alles andere als klar. Daher bedarf es einer Auswei- tung der Kampfzone, es braucht Übung, Praxis, begleitende kritische Reflexion, aber vor allem: Selbstvertrauen in die gesellschaftlichen Kompetenzen, Produktion und Konsumtion selbst gestalten zu können, nicht nur beim Wohnen. 1 Diese Leistungen waren fein ausdifferenziert, beispielhaft sei hier auf eine Analyse des Sollinventars der Abtei Prüm von 893 verwiesen (Kuchenbuch 2016). 2 Vgl. „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation“, (Marx 2013: 741ff). 3 Der Begriff „Lohnarbeit“ schließt hier alle Formen ein, in denen ein Lohn bezahlt wird, unabhängig von der rechtlichen Ausgestaltung, das heißt auch Werk- oder Honorarvertragsarbeit. 4 Besonders sichtbar ist das bei digitalen Gütern, die im Überfluss jedem zugänglich wären, da sie ohne Qualitätsverlust per Knopfdruck vervielfacht werden können. Auf- grund rechtlicher und technischer Schranken ist der Zugang nur mittels Geld möglich. Diese gesellschaftlich produzierte Knappheit wird bei materiellen Gütern in der Regel als natürliche Knappheit wahrgenommen.
5 Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom kam zur Schlussfolgerung, dass solche Gemein- schaftsgüter jenseits von Markt und Staat geschützt werden können und zeigte dies im Rahmen umfangreicher Feldforschung auf (Ostrom 1999). 6 Ausführlicher zum Wandel des Verhältnisses Staat und Privat bezogen auf Woh- nungspolitik, siehe Brangsch 2007. 7 Ebd. Gemeinschaft und ihr Eigentum 64 QUELLEN Bockelmann, Eske 2020: Das Geld. Was es ist, das uns beherrscht. Berlin: Matthes & Seitz. Brangsch, Lutz 2007: Wohnen und Stadtentwicklung unter sozialen Gesichtspunk- ten. Der Weg der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/Peking. https://ifg.rosalux.de/ files/2020/06/Wohnen-und-Stadtentwicklung-unter-sozialen-Gesichtspunktenmod. pdf. Handschuhmacher, Thomas 2018: Was soll und kann der Staat noch leisten? Eine politi- sche Geschichte der Privatisierung in der Bundesrepublik 1949–1989. Göttingen: Van- denhoeck & Ruprecht. Kuchenbuch, Ludolf 2016: Mehr-Werk mittels Zwangsmobilität. Das Sollinventar der Abtei Prüm von 893 über ihre Domäne Rhein-Gönheim. In: Historische Anthropologie, 24 (2), 166–191. Marx, Karl 1983 (1857/58): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (MEW 42). Berlin: Dietz Verlag. Marx, Karl 2013 (1867): Das Kapital, Band 1 (MEW 23). Berlin: Dietz Verlag. Nuss, Sabine 2019: Keine Enteignung ist auch keine Lösung. Berlin: Karl Dietz Verlag. Ostrom, Elinor 1999: Die Verfassung der Allmende: Jenseits von Staat und Markt, Tübingen: Mohr Siebeck. Polanyi, Karl 1979: Ökonomie und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Polanyi, Karl 1997: The Great Transformation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Stützle, Ingo 2020: „Blut- und schmutztriefend“. Der diskrete Charme der Staatsgewalt: Ge- nese und Geltung von Eigentum und Geld. In: Prokla, 50 (2), 219-237. Wesel, Uwe 1997: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maas- tricht. München: C. H. Beck.
Wood Meiksins, Ellen 2015: Der Ursprung des Kapitalismus. Hamburg: Laika. SABINE NUSS Sabine Nuss ist Politologin, Publizistin und Geschäftsführerin des Karl Dietz Verlags Berlin. Sie promovierte zu Fragen des geistigen Eigentums im digitalen Kapitalismus. Jüngste Bucherscheinung: „Keine Enteignung ist auch keine Lösung. Die große Wieder- aneignung und das vergiftete Versprechen des Privateigentums“, Berlin 2019. Zuletzt erschien von ihr der Essay „Privateigentum: Schein und Sein“ in der APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte, 41/2020), hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung. Ihr Wohnort im Netz: nuss.in-berlin.de Sabine Nuss 65 67 https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_6 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. Elisabeth Voß Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen als Solidarisches Wirtschaften – wie kann das gelingen? 1. EINLEITUNG Spätestens seit der Finanzkrise 2008, allerspätestens seit die Klimakatastrophe unübersehbar geworden ist, wurde für immer mehr Menschen deutlich, dass die herrschende kapitalistische Wirtschaftsweise mit einer sozial und ökologisch ausge- richteten Gesellschaft unvereinbar ist. Im Sinne eines Verständnisses von Wirtschaft als Prozess, in dem Menschen aus natürlichen Ressourcen in vielen Arbeitsschritten das Lebensnotwendige herstellen, gehe ich so weit zu behaupten, dass die zerstöreri- sche Ausbeutung und profitgetriebene Verwertung von Mensch und Natur, die syste- matisch in patriarchal und kapitalistisch ausgestalteten Produktionsweisen angelegt ist, mit Wirtschaft nichts zu tun hat. Kann dies nicht stattdessen als verbrecherisches Handeln verstanden werden, millionenfach begangen an denen, auf deren Kosten dieses Ausbeutungssystem expandiert (Voß 2015b)? Die Corona-Krise ist ein Ausdruck dieses destruktiven Wirtschaftssystems.
Die Pandemie ist nicht plötzlich aus dem Nichts gekommen, sondern hat ihre Ursa- chen in der industriellen Landwirtschaft und Viehzucht, sowie in der Abholzung von Urwäldern. Durch die Globalisierung können sich, wie der Evolutionsbiologe Rob Wallace in einem Interview sagt, die Erreger dann innerhalb kürzester Zeit weltweit verbreiten (Pabst 2020). Plötzlich sind schnelle Veränderungen möglich, jedoch zeigt der Shutdown von Teilbereichen der Wirtschaft – wie auch schon aufgezwungene Austeritätsprogramme, beispielsweise gegenüber Griechenland vor wenigen Jahren – dass ein plötzlicher Wachstumsrückgang aus sozialer Sicht problematisch ist. Umso deutlicher wird die Notwendigkeit, geplant und grundle- gend umzusteuern. Eingebettet in eine globale Perspektive stelle ich im Folgenden Solidarische Ökonomien als theoretische und praktische Ansätze anderen Wirtschaftens dar. Am 68 Beispiel selbstverwalteter Wohnprojekte skizziere ich deren solidarischen Gehalt anhand konkreter Fragestellungen. 2. SOLIDARISCH WIRTSCHAFTEN 2.1. WAS UNTER SOLIDARISCHEN ÖKONOMIEN VERSTANDEN WERDEN KANN Das Begriffspaar Solidarische Ökonomie benennt nicht eine Variante von Wirtschaft, die etwas ,besser‘ im Sinne von ökologischer, sozialer oder demokratischer ist als kapitalistische, profitgetriebene Wirtschaftsweisen, sondern eine ganz andere Wirt- schaft. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass es nicht um Geldvermehrung geht, sondern um wirtschaftliche Selbsthilfe im Sinne des Genossenschaftsgedankens der freiwilligen, gleichberechtigten Kooperation (coop o. J.). Ich spreche von Solidarischen Ökonomien in der Mehrzahl, weil sie in vielen verschiedenen Ausprägungen existieren. Diese folgen jedoch alle einer Logik, die im Sozialforum-Slogan „people before profits“ (siehe Abb.
1) einprägsam benannt ist: Nicht Profitmaximierung, Marktkonkurrenz und daraus resultierendes zerstöreri- sches Wachstum, sondern die Erfüllung konkreter Bedürfnisse steht im Mittelpunkt dieses wirtschaftlichen Handelns. Diese Solidarische Wirtschaft ist gekennzeichnet durch demokratische Selbstorganisation und Selbstbestimmung. In Kollektivbetrieben oder Fabriken, die von den Arbeitenden übernommen wurden, schaffen oder sichern Beschäftigte ihre Arbeitsplätze im eigenen Unter- nehmen. Zunehmend kooperieren auch Soloselbstständige. Konsumgenossenschaft- liche Zusammenschlüsse, Food Coops oder Solidarische Landwirtschaften versorgen ihre Mitglieder, so wie Wohnungsbaugenossenschaften Wohnungen für ihre Mitglieder errichten usw. Unternehmungen und Projekte solidarischen Wirtschaf- tens gibt es in nahezu sämtlichen Wirtschaftsbereichen (Voß 2015a). Genossenschaften werden mitunter als „Kinder der Not“ bezeichnet, weil sie der Versorgung dienen, wenn Bedürfnisse am Markt nicht erfüllt werden können. Solche gemeinschaftliche wirtschaftliche Selbsthilfe dient in Krisen oder Notsituationen dem Überleben. In Regionen jenseits des Weltmarkts bleibt ohnehin nur die Selbst- versorgung, was beispielsweise in Afrika als „People’s Economy“ bezeichnet wird (Chipakupaku 2008). Weltweit wird die notwendige Arbeit großteils jenseits klassi- scher Erwerbsarbeit und oft von Frauen und Mädchen geleistet. Diese sind überwie- gend zuständig für reproduktive Tätigkeiten wie Ernährung, Versorgung und Pflege von Kindern, Kranken und älteren Menschen, sowohl in der Familie als auch in ihren Gemeinschaften (Oxfam 2020). Diese Care-Arbeit kann – unabhängig davon, wie formalisiert oder informell sie organisiert ist – als Kernbereich Solidarischen Wirt- schaftens verstanden werden.
Wichtig für das Gelingen der meist lokalen Versorgung ist die Kontrolle über die Nutzung der Ressourcen durch diejenigen, die diese bewirt- schaften – ganz im Sinne der Commons-Forschung (Ostrom 2011). Der chilenische Ökonom Luis Razeto Migliaro untersuchte in den 1970er/80er- Jahren, wie es Marginalisierten in Krisenzeiten gelang, die Versorgung ihrer Fami- lien und Gemeinschaften mit dem Lebensnotwendigen sicherzustellen. Er entdeckte einen bis dahin unbekannten Produktionsfaktor, den er „Faktor C“ nannte, weil im Spanischen viele Begriffe für das solidarische Aufeinanderbezogensein mit C beginnen, zum Beispiel Cooperacion (Zusammenarbeit), Comunidad (Gemeinschaft) Elisabeth Voß 69 oder Colectividad (Kollektivität) (Eder 2009). Die Erfahrungen aus genossenschaftlich organisierten solidarisch wirtschaftenden Gruppen hierzulande bestätigen dies. Wo die treibende Kraft nicht das Geld und dessen Vermehrung ist, spielen die sozialen Beziehungen eine entscheidende Rolle, auch für das ökonomische Gelingen. Eine gelebte Kultur der Kooperation (Voß 2012a) kann bei der Bewältigung finanzieller Probleme hilfreich sein, umgekehrt kann ihr Fehlen ein kollektives Vorhaben zum Scheitern bringen. Dieses andere Wirtschaften wird aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben und es gibt keine Instanz, die legitimiert wäre oder die Macht hätte, eine allgemein- gültige Definition festzulegen. Die jeweils Beteiligten an dieser Wirtschaft „von unten“ entscheiden selbst, wie sie das, was sie tun, verstehen. In Deutschland wurde der Begriff durch den Kongress „Wie wollen wir Wirtschaften? Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus“ bekannt, den ein breites Bündnis von Akteur*innen im November 2006 an der Berliner Humboldt Universität durchführte (Giegold/Embs- hoff 2008).
Wer Solidarisches Wirtschaften beschreibt, sollte das eigene Verständnis offenlegen, ohne paternalistischen Definitionsanspruch (Voß 2011). 1 Je bekannter ein solcher Begriff wird, desto mehr besteht das Risiko, dass er zum inhaltsleeren Label oder PR-Argument verkommt, kritische Wachsamkeit ist also geboten. 2 Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen als Solidarisches Wirtschaften – wie kann das gelingen? 2.2. TRANSFORMATORISCHE POTENZIALE SOLIDARISCHEN WIRTSCHAFTENS Solidarisches Wirtschaften findet hierzulande inmitten marktwirtschaftlicher Konkurrenz statt. Kollektivbetriebe müssen sich am Markt behaupten. Selbst wenn eine Gruppe gemeinschaftlich für die eigenen Mitglieder Wohnraum schafft, der Abb. 1: Sozialforum-Slogan „People before profits“. Foto: Oliver Voß, CC BY-SA. 70 nicht am Markt angeboten wird, so unterliegt doch auch diese Selbstversorgung mit Wohnraum dem Marktvergleich. Die Kosten für Herstellung und laufenden Betrieb sind abhängig von Marktpreisen, sie müssen von den Beteiligten gemeinsam getragen werden. Wenn dieser Wohnraum bedeutend teurer würde als vergleichbarer Wohn- raum am Markt, dann kann der Zusatznutzen der Gemeinschaft vielleicht eine gewisse Preisspanne ausgleichen, diese ist aber nicht beliebig nach oben dehnbar. Trotz ihrer direkten oder indirekten Abhängigkeit vom Markt sind diese Betriebe und Projekte Solidarischen Wirtschaftens konkrete Utopien, ein Vorschein des Morgen im Heute. Sie können als Keimformen verstanden werden, in denen neue Praktiken des sozialen Austauschs erprobt werden, beispielsweise in der Arbeit und Entschei- dungsfindung, beim Teilen des Ertrags oder in der Gestaltung des sozialen Mitein- ander. Diese wirtschaftliche Selbsthilfe ist meist vom Genossenschaftsgedanken geprägt.
Kennzeichnend ist das Identitätsprinzip, das heißt, dass Positionen, die sich am Markt üblicherweise antagonistisch gegenüberstehen, in einem Unternehmen und auch in jeder einzelnen Person vereint sind. Diese demokratische Selbstorganisation geht weit über gewerkschaftliche Mitbe- stimmung oder finanzielle Beteiligung der Beschäftigten an einem Unternehmen hinaus. Für die Bedürfnisse und nicht für Profite zu wirtschaften, bedeutet weit mehr als nur die Frage, ob Gewinne privat angeeignet werden, denn diese Nicht-Gewinn- orientierung bewirkt eine grundlegend andere Gestaltung der wirtschaftlichen Prozesse (siehe Tab. 1). Insofern handelt es sich um eine gänzlich andere Wirtschafts- weise, wenngleich auch genossenschaftliche Unternehmungen keineswegs davor geschützt sind, sich an kapitalistische Gepflogenheiten anzupassen. 3 Weitere Merkmale sind Potenziale und Möglichkeiten, die in unterschiedlich starkem Maß, und nicht in jedem Fall gelebt werden. Solidarische Gegenseitigkeits- beziehungen sind – zumindest im Idealfall – durch freiwillige Kooperation gekenn- zeichnet, nicht durch Konkurrenz oder Macht. Die sozialen Beziehungen und auch die wirtschaftlichen Prozesse sind horizontal organisiert. Beim Geben und Nehmen wird nicht vorrangig gemessen, gewogen und gegeneinander aufgerechnet, sondern eher geben alle was sie können und bekommen was sie benötigen. Dabei werden die gesellschaftlich bedingten unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten von grund- sätzlich Gleichberechtigten berücksichtigt. Im Unterschied zu herkömmlichen Erfah- rungen von oft gewaltsamer Ausbeutung und Entfremdung vom Produktionsprozess und vom Produkt, von den Kolleg*innen, von der eigenen Arbeit und damit letztlich auch von sich selbst, ermöglichen solche selbstorganisierten Wirtschaftsprozesse die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Würde.
Solche Solidarität unterscheidet sich grundsätzlich von Wohltätigkeit, bei der die Rollen der Gebenden und Nehmenden klar verteilt und diese Hierarchien festgeschrieben sind. Die Wirtschaftswelt ist vielfältig, es existieren nicht nur entweder kapitalistische oder solidarische Unternehmen, sondern eine Bandbreite mit fließenden Übergängen. Beispielsweise gibt es auch in gewinnorientierten Unternehmen kollektive Selbstor- ganisation und Solidarität der Beschäftigten, in selbstverwalteten Projekten können sich informelle Hierarchien herausbilden. Darum sollten Solidarische Ökonomien nicht idealisiert, sondern kritisch-solidarisch reflektiert werden. Letztlich kommt es darauf an, ob der Prozess des Wirtschaftens eher auf eine patriarchal-ausbeuterische Unterwerfung von Mensch und Natur hinausläuft, oder ob er zumindest tendenziell einer feministisch-solidarischen Care-Perspektive im Sinne einer Sorge für ein gutes Leben für alle folgt. Elisabeth Voß 71 Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen als Solidarisches Wirtschaften – wie kann das gelingen? 2.3. VIER SÄULEN SOLIDARISCHEN WIRTSCHAFTENS Über die Betrachtung solidarischer Unternehmensformen hinaus kann Solidarische Ökonomie auch als umfassendes Konzept einer anderen Wirtschaftsweise verstanden werden. Kleinere oder größere Unternehmungen der gemeinschaftlichen wirt- schaftlichen Selbsthilfe im Sinne des Genossenschaftsgedankens verstehe ich als Solidarische Ökonomie im engeren Sinn und bezeichne sie als erste Säule Solidari- schen Wirtschaftens. Allerdings können und wollen sich nicht alle Menschen genos- senschaftlich organisieren, und es wäre auch nicht in jedem Fall sinnvoll. Solidari- sche Ökonomie im weiteren Sinne umfasst daher die Versorgung von Allen mit dem Lebensnotwendigen als zweite Säule. Dafür sind öffentliche Unternehmen erforder- lich, die im Sinne einer Vergesellschaftung demokratisch organisiert sind.
Eine umfassende solidarökonomische Perspektive zielt darauf, die gesamte Wirt- schaft an Bedürfnissen auszurichten statt an Gewinnmaximierung, und sie umfas- send zu demokratisieren. Unter den Bedingungen des Privateigentums an Produkti- onsmitteln und Immobilien wird eine solche Demokratisierung der Wirtschaft jedoch kaum möglich sein. Darum gehören nach meinem Verständnis auch die Kämpfe gegen Privatisierungen bzw. für die Rekommunalisierung öffentlicher Infrastrukturen zu Solidarischem Wirtschaften, ebenso wie die Abwehr von Sozialabbau und Prekarisie- rung. Diese politischen Kämpfe verstehe ich als dritte Säule einer umfassenden wirt- schaftlichen Transformation. Die vierte Säule ist eine globale Perspektive, denn eine Beschränkung Solidarischer Ökonomien auf ein Land widerspräche deren grundsätz- licher Ausrichtung und wäre in einer globalisierten Welt auch kaum möglich. 4 2.4. GEMEINSCHAFTLICHE VERSORGUNG MIT WOHNRAUM ALS EIN BEREICH SOLIDARISCHEN WIRTSCHAFTENS In einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt sind die Bewohner*innen gleichzeitig gemeinsame Eigentümer*innen und Nutzer*innen der Immobilie. Mindestens zwei Not- oder zumindest Mangelsituationen können als Motive für die Zunahme von Projekten der gemeinschaftlichen genossenschaftlichen Wohnungsversorgung benannt werden: Zum einen der Mangel an Wohnraum in Ballungsgebieten, der zu teuer, wenig familienfreundlich oder gar nicht zu finden ist. Zum anderen nimmt auch der Wunsch nach gemeinschaftlichen Wohnformen zu, um der drohenden Vereinsamung entgegen zu wirken, vor allem im Alter. Nachbarschaftliche Unter- stützung bei der Alltagsbewältigung spielt ebenfalls eine Rolle, auch für Menschen mit Kindern. Der Wunsch, mit anderen wohnen zu wollen, entspringt jedoch nicht nur einem Mangel, sondern ebenso der Freude am Zusammensein mit anderen und der Hoffnung auf ein gelingendes Miteinander.
Die vier Säulen Solidarischen Wirtschaftens (siehe Abb. 2) werden von Haus- oder Siedlungsgemeinschaften in unterschiedlichem Maße umgesetzt. Die erste Säule wirtschaftlicher Selbsthilfe ist durch die Versorgung der Mitglieder mit Wohnraum gegeben. Manche Projekte stellen darüber hinaus Räume zur Nahversorgung mit Konsumgütern oder sozialen Leistungen sowie für nachbarschaftliche Zusammen- künfte zur Verfügung. Die gemeinschaftliche Selbsthilfe reicht dabei über den Kreis der Bewohner*innen hinaus und trägt zur Versorgung für alle bei. Die zweite Säule der öffentlichen Grundversorgung kann direkt berührt sein, wenn es sich um die genossenschaftliche Nutzung von Immobilien in öffentlicher Hand oder Kapitalistische Marktwirtschaft Solidarische Ökonomie Ziel Profitmaximierung Bedürfniserfüllung Zielerreichung Tauschwertrealisierung am Markt Gebrauchswertrealisierung durch gemeinschaftliche wirtschaftliche Selbsthilfe Prinzip Konkurrenz Kooperation Soziale Organisation Hierarchisch Demokratisch Soziale Interaktion Macht und Gewalt (von ideologisch bis militärisch) Freiwillige Selbstorganisation Wirtschaftliche Struktur Top Down: Ausbeutung Horizontal: Gegenseitigkeit Wirtschaftlicher Austausch Äquivalenttausch Beitragen nach Fähigkeiten und Bedürfnissen Erfahrung Entfremdung Selbstwirksamkeit Naturverhältnis Extraktivistisch Nachhaltig Weltverständnis Patriarchal-ausbeuterische Unterwerfung von Mensch und Natur Feministisch-solidarische Care-Perspektive eines guten Lebens für Alle Tab. 1: Grundlegende Unterschiede zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und Solidarischen Ökonomien. Abb. 2: Die vier Säulen Solidarischen Wirtschaftens. Grafik: Elisabeth Voß (2019: 20), CC BY-SA. 72 Elisabeth Voß 73 auf öffentlichen Grundstücken handelt. 5 Der Erwerb bisher öffentlicher Immobilien durch genossenschaftliche Projekte ist ein Spezialfall, der kritischer Betrachtung bedarf.
Viele schon länger bestehende Wohnprojekte sind aus sozialen Bewegungen und Hausbesetzungen entstanden, 6 insofern kann auch die dritte Säule der sozi- alen Kämpfe eine Rolle spielen. Die vierte Säule der globalen Perspektive spielt dort hinein, wo globalsolidarische Praxen wie beispielsweise Solizimmer für Ille- galisierte oder überhaupt Wohnraum für Geflüchtete zur Verfügung gestellt wird, oder wo Ressourcen- und Klimaschutz bei Bau und Bewirtschaftung berücksich- tigt werden. Darüber hinaus können weitere Bereiche Solidarischen Wirtschaftens angedockt sein, beispielsweise wenn Bewohner*innen kollektive Unternehmen oder Projekte betreiben. Die genannten Aspekte sollen nicht im Sinne einer Kategorisierung oder gar Bewertung von Wohnprojekten nach Kriterien von mehr oder weniger Solidarität missverstanden werden. Jedes Vorhaben ist anders, sowohl von der Zusammensetzung und den Möglichkeiten der Bewohner*innen her, als auch von den Entstehungs- und Rahmenbedingungen. Ein Vergleich oder ein In-Konkurrenz-Setzen würde den Blick darauf eher verschleiern. Es lohnt sich jedoch, genau hinzuschauen und die jeweiligen Besonderheiten in den Bereichen Soziales, Ökologie, Demokratie und Menschenrechte zu erkennen und vor allem auch selbstkritisch einzuschätzen, wie es beispielsweise die Gemeinwohlökonomie mit ihrer Gemeinwohl-Bilanzierung versucht. 7 3. WIE KANN SOLIDARISCHES BAUEN UND WOHNEN GELINGEN? Im Folgenden geht es um die gemeinschaftliche Sicherung oder Schaffung von Wohnraum im Sinne des Genossenschaftsgedankens (unabhängig von der Rechts- form), unter besonderer Berücksichtigung des Solidaritäts-Aspekts. Nicht betrachtet werden hier reine Wohngemeinschaften sowie Baugemeinschaften, die den Mitglie- dern den individuellen Erwerb von Wohnungseigentum ermöglichen. 3.1. GEMEINSCHAFTEN IN ZEIT UND RAUM Wohnprojekte sind auf Dauer angelegt, das liegt in der Natur der Sache.
Viele Gruppen treffen rechtsverbindliche Festlegungen, die ihre kollektive oder neutralisierte Eigen- tumsform, oft auch die gemeinschaftliche Nutzung und vielleicht auch die Bereitstel- lung von Räumen für die Nachbarschaft absichern und festschreiben. Damit sollen auch spätere Generationen an die ursprünglichen solidarischen Ziele gebunden werden, selbst wenn diese den Wunsch hätten, privates Eigentum zu bilden. Darüber hinaus wird bei gemeinschaftlichen Bauprojekten oft auf einen schonenden Umgang mit Ressourcen geachtet, sowohl auf die Verwendung umweltfreundlicher Materia- lien beim Bauen als auch auf Energieeinsparung in der laufenden Nutzung im Sinne nachhaltigen Wirtschaftens. Die (zukünftigen) Bewohner*innen bewegen sich innerhalb des Projekts in zeit- räumlichen Bezügen. Zeit ist eine wesentliche, vielleicht sogar die entscheidende Ressource beim gemeinschaftlichen Bauen und Wohnen. Ohne erheblichen Einsatz von Zeit sind solche Projekte nicht möglich. In begrenztem Umfang lassen sich Zeit und Geld austauschen (s. u.). Wenn jedoch kaum eigene Zeit von den Bewohner*innen eingebracht wird, sondern stattdessen die Entwicklungsleistungen nahezu voll- ständig eingekauft werden, kann ein Vorhaben seinen selbstorganisierten Charakter verlieren. Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen als Solidarisches Wirtschaften – wie kann das gelingen? 74 Große Unterschiede gibt es in Wohnprojekten bei dem Verhältnis zwischen privater und gemeinschaftlicher Nutzung. Wieviel Raum steht den einzelnen Bewohner*innen privat zu, und wie viel nutzen sie gemeinsam? Wieviel Zeit verbringen sie in ihrem privaten Wohnraum, und wie viel Alltag gestalten sie miteinander? Die Frage, wieviel Zeit und Raum innerhalb des Projekts geteilt wird, stellt sich ähnlich auch im Verhältnis einer Gruppe zu ihrer Nachbarschaft.
Dieser Aspekt des Teilens braucht viel Aufmerksamkeit und erfordert einen ehrli- chen Umgang nicht nur untereinander, sondern auch jeder Person sich selbst gegen- über. Anspruch und Wirklichkeit sind nicht immer leicht in Deckung zu bringen, da spielen Erfahrungen und Ängste ebenso eine Rolle wie politische oder moralische Überzeugungen. Ebenso wichtig ist es festzulegen, welche Entscheidungsspielräume die Handelnden haben, und bei welchen Fragen andere oder alle einbezogen werden müssen. Klare Vereinbarungen können helfen, sich nicht ständig unter Druck zu fühlen noch mehr tun zu müssen, aber umgekehrt auch nicht zu grollen, wenn andere sich weniger einbringen. Dabei sollte nicht aus dem Blick verloren werden, dass es bei all den wichtigen Dingen, die zu erledigen sind, auch immer darum geht, dass alle dabei bleiben und das gemeinsame Vorhaben auch als ihr eigenes empfinden. 3.2. ZUR SOLIDARISCHEN GRUPPE WERDEN An einem Bauprojekt sind viele beteiligt, nicht nur die Gruppe, die einmal in dem Haus wohnen möchte, sondern auch die Menschen, die ihnen dies ermöglichen, indem sie die Häuser planen, die Baustoffe herstellen, das Gebäude mit allen Installationen errichten und den Bauablauf überwachen. Wer es ernst meint mit Solidarischem Wirt- schaften, setzt sich bewusst mit dem Spannungsfeld zwischen den eigenen, vielleicht begrenzten finanziellen Möglichkeiten und den Auswirkungen von Einsparungen auf andere auseinander. Bei der Auswahl von Materialien, Baufirmen und Dienstleis- ter*innen spielen dann für die Entscheidungen nicht nur Umweltaspekte, sondern auch Arbeitsbedingungen und soziale Absicherung der Arbeitenden eine Rolle. Große Herausforderungen an die Solidarität untereinander stellen die oft unter- schiedlichen finanziellen Möglichkeiten der Beteiligten dar. Je teurer ein Vorhaben, desto schwieriger wird es mit der Solidarität.
Viele gemeinschaftliche Bauvorhaben sind allein durch die finanziellen Anforderungen für viele Interessierte nicht geeignet. Für Gruppen, die den Anspruch haben, sozial oder inklusiv zu sein, ist es schwierig, Leute einzubeziehen, die nur wenig Geld einbringen können. So sind diejenigen, die weder über ausreichende eigene Mittel verfügen noch sich die erforderlichen Beträge aus der Familie oder dem Freundeskreis beschaffen können, oft ausgeschlossen. In der Regel herrscht das Äquivalenzprinzip, das heißt, dass alles gemessen und gegeneinander aufgerechnet werden kann. Je nach individuell genutzter Fläche muss ein bestimmter Geldbetrag eingebracht werden. Wenn diejenigen, die wenig Geld haben, sich mit weniger Platz begnügen, dann wird im Zusammenleben die unterschiedliche finanzielle Leistungsfähigkeit der Gruppenmitglieder deut- lich sichtbar. Anstelle des Äquivalenztauschs ist auch das Prinzip „Beitragen statt Tauschen“ möglich (Redaktionsgrüppchen 2015: 12). Anders als in der Marktwirt- schaft üblich bringen alle das ein, was sie können, und bekommen was sie brauchen. Das Nutzungsentgelt bestimmt sich dann nicht nach der Wohnfläche, sondern nach den finanziellen Möglichkeiten. Elisabeth Voß 75 Zwischen den beiden Polen des marktwirtschaftlichen Äquivalenztausch- prinzips und dem Beitragensprinzip nach Fähigkeiten und Bedürfnissen sind viele Abstufungen möglich, beispielsweise Kostenbeteiligung nach Selbsteinschätzung im Rahmen definierter Mindest- oder Höchstbeteiligungen. Es gibt keine richtigen oder falschen Lösungen, sondern es kommt darauf an, Wege zu finden, die nicht mit zu vielen politischen oder moralischen Ansprüchen beladen werden, sondern den Möglichkeiten und Bedürfnissen, und vor allem dem Gerechtigkeitsgefühl aller Beteiligten entsprechen. Jedes gemeinschaftliche Wohnprojekt braucht eine geeignete Rechtsform und rechtssichere vertragliche Grundlagen.
Wenn diese formalen Fragen am Beginn der Projektentwicklung stehen, zeigt die Erfahrung aus persönlicher Beratungstätigkeit, dass formales Denken und Argumentieren den Gruppenprozess dominieren kann, was es erschwert, aus den individuellen Wünschen etwas Gemeinsames zu entwi- ckeln. Mitunter werden formale Fragen auch vorgeschoben, um einen Konflikt um unterschiedliche Vorstellungen nicht austragen zu müssen. Wenn es beispielsweise darum geht, wie mit unterschiedlichen finanziellen oder zeitlichen Möglichkeiten umgegangen werden soll, oder mit dem Ein- bzw. Ausstieg von Gruppenmitgliedern, dann hilft es wenig, sich in die Feinheiten juristischer Gestaltungsmöglichkeiten zu vertiefen, sondern die einfache Frage lautet: Wie möchten wir das handhaben, was empfinden wir als gerecht? Erst wenn all dies klar festgelegt ist, dann ist der Moment, diesem Gewollten das passende Rechtskleid anzuschneidern (Voß 2017). 3.3. KULTUR DER KOOPERATION In einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt sind es die Menschen, die das Vorhaben tragen. Es geht also nicht nur darum, was besprochen und entschieden wird, sondern ebenso darum, wie, auf welche Art und Weise diese Aushandlungsprozesse verlaufen. Zeit und wertschätzende Aufmerksamkeit für das Äußern von Feedback sind deswegen von großer Bedeutung. Konflikte gehören zum Miteinander und sollten ausdrücklich eingeladen werden, denn unausgesprochene Unzufriedenheit gärt unter der Oberfläche weiter, kann sachliche Zusammenarbeit behindern und irgendwann destruktiv aufbrechen, oder die Betroffenen resignieren, ziehen sich zurück oder verlassen sogar das Projekt. Menschen sind verschieden, jedoch fällt es trotz aller Ansprüche, vielleicht sogar authentischer Wünsche nach Diversität und Horizontalität oft gar nicht so leicht, Unterschiede nicht nur auszuhalten, sondern auch wertzuschätzen.
So gibt es in fast allen Gruppen Leute, die vorangehen, mehr Ideen haben oder einfach schneller sind, und andere, die vorsichtiger sind, gründlicher überlegen und sich lieber anschließen. Beide Energien und Verhaltensweisen, sowohl das aktiv auf Veränderung Zielende als auch das passiv Bewahrende – und die vielen Schattierungen dazwischen – sind wichtig für eine Gruppe. So lange alle mit ihrer Rolle zufrieden sind, machen solche Unterschiede keine Probleme. Schwierig wird es, wenn sich zum Beispiel die einen ausgenutzt fühlen, weil sie mehr machen als andere, und die anderen den Eindruck haben, übergangen und an den Rand gedrängt zu werden. Beim Gespräch darüber besteht die große Kunst darin, einen Ausgleich zu finden, der allen gerecht wird, ohne einzelne Positionen oder gar diejenigen, die sie vertreten, abzuwerten. Dann können konkrete Vereinba- rungen getroffen werden, um solche Unzufriedenheiten zukünftig zu vermeiden oder ihnen frühzeitig entgegenzuwirken. Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen als Solidarisches Wirtschaften – wie kann das gelingen? 76 Für das Gelingen eines gemeinsamen Bauvorhabens kommt es auf das Mitein- ander an. Ein Scheitern ist nicht nur menschlich schmerzlich, sondern kann auch erhebliche finanzielle Schäden nach sich ziehen. Es kann hilfreich sein, sich klarzu- machen, dass gesellschaftlich übliche Dominanzen aufgrund sozialer oder ethnischer Herkunft, Geschlecht, Leistungsfähigkeit etc. trotz bestem Wollen auch in selbstorga- nisierte Gruppen hineinwirken. Jeder Mensch ist anders und als Grundregel sollte gelten, dass es ein unbe- dingtes Recht auf Selbstdefinition gibt, dass also keine*r Aussagen über andere machen kann. Eigentlich selbstverständlich, denn wer kann schon in einen anderen Menschen hineinschauen und etwas über dessen Bedürfnisse oder Motive aussagen?
Jede*r kann lediglich die je eigenen Beobachtungen beschreiben und – sofern das gewünscht ist – Auskunft geben über die eigenen Fantasien über andere. 8 Je gemeinschaftlicher ein Wohnprojekt angelegt ist, desto wichtiger ist es, achtsam mit dem sensiblen Verhältnis von Nähe und Distanz umzugehen, das zeigt sich immer wieder in der Beratung. Wenn sich alle bemühen, ihre eigenen Grenzen (körperlich, zeitlich, emotional …) wahrzunehmen und zu kommunizieren, dann fällt es auch leichter, die Grenzen der anderen zu respektieren. In hierarchischen und konkurrenzbasierten Gesellschaften ist Angst ein Grundgefühl, das gefügig und ausbeutbar macht. Umso wichtiger ist es, sich in selbstorganisierten Projekten um eine angstfreie Atmosphäre zu bemühen und den Mitgliedern zuzugestehen, dass sie nicht perfekt sein müssen, dass sie Fehler machen dürfen und dass Schwäche und Fehlbarkeit zum Menschsein dazu gehört. Eine solche Haltung erleichtert es, Fehler anzusprechen, die Verantwortung dafür zu übernehmen und gemeinsam zu überlegen, wie eventuelle Schäden behoben werden können (wobei eine gute Versi- cherung hilfreich sein kann). Auch zu hohe Erwartungen können das Zusammenleben belasten. Oft wird konzeptionell die gegenseitige Unterstützung betont, jedoch lassen sich Beziehungen nicht planen. Allgemeine Anforderungen, die meist wenig konkret sind, können im Alltag moralischen Druck erzeugen. Es kann helfen, Enttäuschungen zu vermeiden, die Ansprüche nicht zu hoch zu hängen, Vertrauen in die sozialen Prozesse zu haben und offen zu sein für das, was sich im Zusammenleben entwickelt. Ebenso wie die herrschende Wirtschaft werden auch solidarökonomische Struk- turen und Diskurse von Männern dominiert. Die Herstellung von Geschlechtergerech- tigkeit ist eine der großen Herausforderungen Solidarischer Ökonomien (Voß 2012b).
Wohnprojekte neigen dabei eher zu einer ausgeglicheneren Mischung, und je mehr ältere Menschen dabei sind, desto weiblicher wird meist die Mitgliedschaft, wie die Erfahrungen aus eigener Beratungstätigkeit und bei Vernetzungszusammenkünften zeigen. Fragen von Bau oder Finanzierung sind jedoch häufig eine Männerdomäne. Weil in selbstorganisierten Projekten in der Regel alle gemeinsam entscheiden und auch für die Ergebnisse ihrer Entscheidungen geradestehen müssen, ist es wichtig, wirklich zu verstehen, worum es geht, was die Konsequenzen einer Entscheidung sind, welche Risiken damit verbunden sind und welche Alternativen es gibt. Es ist wichtig, sich möglichst frühzeitig darauf zu verständigen, wie Entschei- dungen getroffen werden. Wird offen oder verdeckt abgestimmt, gilt Mehrheit – und wenn ja welche – oder Konsens? In manchen Projekten werden neuere Verfahren wie Soziokratie oder Systemisches Konsensieren angewendet. Vielleicht müssen in größeren Projekten nicht immer alle über alles entscheiden, sondern Untergruppen können genau definierte Entscheidungskompetenzen bekommen. Die Entscheidungsverfahren können auch je nach Art oder Tragweite einer Elisabeth Voß 77 Entscheidung unterschiedlich geregelt sein, wenn klar ist, wann welche Regelung gilt. Es gibt in Gruppen oft ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis, das jedoch gefähr- lich sein kann. Kritische Nachfragen und das Austragen von Konflikten gehören zum gelingenden Miteinander. Mit gegenseitiger Wertschätzung für unterschiedliche Perspektiven und einer wohlwollenden Grundhaltung kann es gelingen, die Köpfe zusammenzustecken, gemeinsame Fragen zu formulieren und sich auf kreative Such- prozesse einzulassen, statt auf der eigenen Auffassung zu beharren. Gemeinsame Lösungen entstehen selten aus einem Entweder-oder, sondern eher aus dem Sowohl- als-auch.
Vor allem ist eine Kultur der Kooperation kein Zustand, der erreicht und festge- schrieben werden kann, sondern stellt eine tägliche Herausforderung dar, die immer aufs Neue gestaltet und gelebt wird (Voß 2012). 3.4. SOLIDARISCHE FINANZIERUNG Nur selten haben alle Beteiligten gleich viel Geld. Es fällt oft nicht leicht, über Geld zu sprechen, jedoch sollten vor allem finanzielle Unterschiede nicht tabuisiert werden. Der einfachste Weg, finanzielle Ungleichheiten auszugleichen, ist das Verschenken: Wer mehr Geld hat als nötig, könnte es bedingungslos hergeben und damit anderen, die kein oder wenig Geld haben, das Mitmachen ermöglichen. In der Regel werden jedoch finanzielle Mittel mit der Erwartung eingebracht, sie spätestens bei einem eventuellen Auszug wieder mitzunehmen. Auch unter dieser Bedingung können die finanziellen Verpflichtungen innerhalb der Gruppe entspre- chend der finanziellen Leistungsfähigkeit verteilt werden und nicht nach dem genutzten Raum, also eher nach dem Beitragens- als nach dem Äquivalenztausch- prinzip. Für die Anfangsinvestitionen können zum Beispiel Genossenschaften ein Solidarvermögen anlegen, in das Mitglieder zusätzlich zu den wohnungsbezogenen Einlagen freiwillig weitere Gelder einzahlen. Oder es gelingt, Geld von externen Personen einzuwerben. Damit kann eine bessere soziale Mischung möglich werden und es können sich auch am Wohnungs- markt stärker Benachteiligte beteiligen. Allerdings sind dafür mitunter weitere Maßnahmen erforderlich, denn Geld ist eine wesentliche, aber bei weitem nicht die einzige Barriere. Das Mietshäuser Syndikat stellt von vornherein keine finanziellen Anforderungen an die Beteiligten, sondern bringt das Eigenkapital durch sogenannte Direktkredite auf, die allerdings von den Gruppenmitgliedern eingeworben werden müssen.
9 Externen kann die finanzielle Beteiligung an einem Wohnprojekt mit einer Verzin- sung schmackhaft gemacht werden. Projektmitgliedern ihre Einlagen zu verzinsen, wäre im Grunde widersinnig, weil die Zinsen aus dem Nutzungsentgelt finanziert werden müssen, das diese Mitglieder selbst bezahlen. Bei ungleichen Einlagen müssten diejenigen mit weniger Geld auf Dauer die anderen, die ihr Geld dem Projekt zur Verfügung stellen, bezahlen. Zudem widerspricht die Verzinsung von Geldver- mögen grundsätzlich dem Genossenschaftsgedanken und auch der Idee Solidarischen Wirtschaftens, denn es geht ja nicht darum, aus Geld mehr Geld zu machen, sondern Bedürfnisse zu erfüllen. Andererseits: Warum nicht lieber den eigenen Leuten Zinsen zahlen als einer Bank? Selbstbau oder auch eine andere Tätigkeit für das Projekt kann mitunter fehlendes Geld ersetzen, sollte jedoch vom Umfang her nicht überschätzt werden. Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen als Solidarisches Wirtschaften – wie kann das gelingen? 78 Da ein gemeinschaftliches Bauvorhaben ohnehin großen zeitlichen Einsatz von den Beteiligten erfordert, muss auch sehr klar definiert sein, welche Arbeit bezahlt wird und welche nicht, damit es nicht zu Unzufriedenheiten kommt. Es kann auch nicht selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass diejenigen mit weniger Geld automatisch mehr Zeit zur Verfügung haben. Wichtig ist ebenfalls zu besprechen, was überhaupt als Arbeit für das Projekt verstanden wird, denn das ist keineswegs selbstverständlich, sondern eine Frage der Vereinbarung. Zählt jede Tätigkeit gleich, egal ob am Bau, in der Planung, Buch- haltung oder beim Einwerben von Geldern, beim Essenkochen, in der Kinderbe- treuung, beim Putzen und dem Anlegen von Gemeinschaftsbeeten? Beteiligen sich alle freiwillig in dem Maße wie sie können, oder gibt es eine verpflichtende Anzahl von Stunden, die jede*r leisten muss?
In der Euphorie des Beginnens spielen solche Fragen oft keine Rolle, es überwiegt die Freude am Miteinander und alle beteiligen sich gerne. Aber irgendwann fühlen sich vielleicht manche überlastet, andere haben das Gefühl, übergangen zu werden. Ähnliche Fragen stellen sich bei der Gestaltung der gemeinsamen Bewirtschaf- tung der Immobilie: Welcher Beitrag an Zeit und Geld wird von den Mitgliedern erwartet? Die regelmäßige finanzielle Beteiligung, das Nutzungsentgelt – das der Miete im kapitalistischen Unterordnungsverhältnis entspricht – muss hier nur die Kosten decken und keinen Profit abwerfen. Dieser Vorteil macht sich jedoch finanziell meist erst auf längere Sicht bemerkbar. Es obliegt der Entscheidung der Gruppe, wie sie die laufenden Kosten für Finan- zierung, Instandhaltung und Verwaltung untereinander verteilen möchte: Klas- sisch nach Quadratmetern, eventuell noch angepasst an Lage und Ausstattung der Wohnung, oder nach eigenen Kriterien – und wenn ja, nach welchen? Soll die finan- zielle Leistungsfähigkeit eine Rolle spielen, und wenn ja, wie soll die festgestellt werden? Soll es Nachlässe geben für Arbeit, die eingebracht wird? Denn auch die Selbstverwaltung stellt eine große Verantwortung dar, die hohen zeitlichen Einsatz erfordert. 4. SOLIDARISCHE PERSPEKTIVEN FÜR GEMEINSCHAFTLICHES BAUEN UND WOHNEN Der Wunsch nach gemeinschaftlichem Wohnen nimmt zu und erhält auch politi- sche Aufmerksamkeit. So führte beispielsweise das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) von 2012 bis 2014 ein Forschungsprojekt Neues Wohnen – Gemeinschaftliche Wohnformen bei Genossenschaften durch. Es erscheinen immer mehr Publikationen zum Thema, das Mietshäuser Syndikat hat großen Zulauf und ihm gehören mittlerweile rund 160 Wohnprojekte an. Jedoch können oder wollen sich nicht alle in erheblichem Maße selbst organisieren und verwalten.
Möglichkeiten der sozialen Selbstorganisation, ohne auch gleich Bau und Finanzierung selbst stemmen zu müssen, bieten beispielsweise größere Genossenschaften oder öffentliche Wohnungsunternehmen, die Hausprojektgruppen unter ihrem Dach aufnehmen. Die Wohnungsfrage in die eigene Hand zu nehmen kann als ein Aspekt der notwendigen sozial-ökologischen Transformation und einer Solidarischen Ökonomie im Sinne einer umfassenden Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verstanden werden. Insofern ist die öffentliche Hand gefragt, solche Bauvorhaben zu unterstützen. Elisabeth Voß 79 Politik und wohnungspolitische Initiativen verwenden häufig den Begriff ,Gemeinwohl‘. Dieser wird als (scheinbar) machtneutraler Gegenpol zu egoistischen Partialinteressen verwendet, beinhaltet jedoch die Gefahr, antagonistische Inter- essen unsichtbar werden zu lassen. Er suggeriert, es könne konfliktfreie Lösungen geben, die für alle ,gut‘ sind (Voß 2019: 21) und diskreditiert ungewollt das Einstehen für die eigenen Interessen im Sinne gewerkschaftlicher Kämpfe und genossen- schaftlicher Mitgliederförderung. Letztlich ist es jedoch eine Frage der Macht, ob es beispielsweise gelingt, mit steuerpolitischen und eigentumsrechtlichen Maßnahmen das Grundrecht auf Wohnen den Profiteur*innen des Marktes zu entreißen. Solidarische Ökonomien haben ein transformatorisches Potenzial, aber um dieses zu entfalten, ist – statt einer Kuschelrhetorik vom großen ,Wir‘ – Konfliktbereitschaft wichtig, ebenso wie ein offener und aktiver Umgang mit ihrem Doppelcharakter als tendenziell systemstabilisierende Nothilfe-Reparaturbetriebe und gleichzeitig Keim- formen einer anderen Welt (Voß 2012b). Gemeinschaftliches Wohnen für Viele braucht sowohl Selbstorganisation und Selbstbestimmung beim Wohnen als auch in gesellschaftlichen Auseinanderset- zungen und sozialen Kämpfen.
In beidem können die Akteur*innen Erfahrungen von Selbstwirksamkeit machen und damit schrittweise die Entfremdung durch markt- wirtschaftliche Unterordnungsverhältnisse überwinden. Die Projekte docken an die Bedürfnisse immer breiterer Bevölkerungskreise an. Damit haben sie das Potenzial, als Beispiele Solidarischen Wirtschaftens weit über die direkt Beteiligten hinaus in die Gesellschaft hineinzuwirken. 1 Insofern handelt es sich auch beim vorliegenden Beitrag um eine Perspektive auf Solidarische Ökonomien aus Sicht der Autorin – die auch am Kongress 2006 beteiligt war – ohne Anspruch auf objektive Allgemeingültigkeit. 2 Selbst die NPD nennt Solidarisches Wirtschaften als politisches Ziel im Rahmen ihres Konzepts einer „Raumorientierten Volkswirtschaft“. 3 Das „Oppenheimersche Transformationsgesetz“ behauptet sogar, Produktivgenos- senschaften würden sich zwangsläufig in kapitalistische Unternehmen umwandeln oder untergehen, was jedoch umstritten ist (Krätke 2012: 104f). 4 Für Juni 2020 war zur transnationalen Vernetzung ein Weltsozialforum Transfor- matorische Ökonomien in Barcelona geplant. Aufgrund der Corona-Pandemie konnte es nur online stattfinden. In einem Internationalen Manifest für Solidarische Ökonomie erklären Wissenschaftler*innen aus aller Welt, dass die Wirtschaft, die für die Zukunft notwendig sei, bereits existiere. Für ihren Ausbau sei „eine neue Generation öffentlichen Handelns erforderlich“ (Addor u. a. 2020: 3). 5 Genossenschaftlich und öffentlich (nicht unbedingt gleichbedeutend mit staatlich) sind keine Gegensätze, sondern es gibt fließende Übergänge. Zum Beispiel haben Com- munity Land Trusts und ähnliche Konstruktionen genossenschaftliche und öffentliche Aspekte (Horlitz 2018, Voß 2018). Siehe dazu auch den Text von Horlitz in diesem Band.
6 Zum Beispiel „Berlin besetzt“: https://www.berlin-besetzt.de/ 7 Als erste größere Wohnungsgenossenschaft hat die Genossenschaft Möckernkiez in Berlin die Gemeinwohlökonomie (GWÖ) eingeführt (Möckernkiez 2020, Felber 2018). 8 In der Kommune-Bewegung wurde dies in der „Radikalen Therapie“ eingeübt (Hillar/ Frick 1996). 9 Siehe dazu den Text von Horlitz in diesem Band. Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen als Solidarisches Wirtschaften – wie kann das gelingen? 80 Elisabeth Voß QUELLEN Addor, Felipe u. a. 2020: International manifesto for solidarityeconomy. http://www.so- cioeco.org/bdf_fiche-document-7251_es.html. Chipakupaku, Norman 2008: People’s economy in Afrika. In: Giegold, Embshoff, S. 136–139. coop – International Co-operative Alliance (o. J.): Cooperative identity, values & principles. https://www.ica.coop/en/cooperatives/cooperative-identity. Eder, Hans 2009: Die Effizienz der Solidarität. In: Südwind Magazin #02/2009, S. 40. https:// www.suedwind-magazin.at/die-effizienz-der-solidaritaet. Felber, Christian 2018: Die Gemeinwohlökonomie. München: Piper Verlag (aktualisiert und erweitert). Giegold, Sven; Embshoff, Dagmar (Hg.) 2008: Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus. Hamburg: VSA Verlag. https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_ Giegold_ua_Solidarische_Oekonomie_komplett.pdf. Hillar, Thomas; Frick, Daniela 1996: Radikale Therapie – von Groll-, Schmuse- und Ge- spinsterunde. In: Kollektiv KommuneBuch: Das KommuneBuch – Alltag zwischen Wi- derstand, Anpassung und gelebter Utopie. Göttingen: Verlag Die Werkstatt, S. 276–289. https://www.kommuja.de/schriftstuecke/kommunebuch-1996. Horlitz, Sabine 2018: Community Land Trusts – Nachbarschaftliche Selbstverwaltung ge- gen Bodenspekulation und Verdrängung. In: Der Rabe Ralf – Die Berliner Umweltzeitung, 206, S. 21.
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Sie kann sich für die vielen Keimformen anderen Wirtschaftens begeistern und schätzt gleichzeitig eine kritische Perspektive, gerade bei der Beschäftigung mit den Themen und Projekten, die ihr besonders am Herzen liegen. www.elisabeth-voss.de 83 https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_7 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. Barbara Emmenegger, Meike Müller Engagement und Gestaltungsfreiheiten in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen Generell gehen wir einfach an Genossenschaftsveranstaltungen so von Zeit zu Zeit, weil wir finden, ja doch Genossenschaft, da hat man auch eine Verpflichtung ein Stück weit. Aber es ist nicht wirklich Freude oder so. ― Familie BEP Die Strukturen von Zusammenleben haben uns schon immer interessiert, wie auch Fragen, wo wir als Individuum Einfluss nehmen können. Die Genossenschaft ist ein guter Motor einerseits, Ideen zu verwirklichen und andererseits Partizipa- tion zu ermöglichen. ― Ehepaar Kalkbreite 1. VOM GLÜCK, IN EINER GENOSSENSCHAFT WOHNEN ZU KÖNNEN Viele Bewohner*innen von Wohnbaugenossenschaften bezeichnen sich als glück- lich, in einer Genossenschaft zu wohnen. Sie sind sich des Potenzials von Genossen- schaften bewusst, ein Gegengewicht zur Spekulation auf dem Wohnungsmarkt zu bilden. So eines der Ergebnisse aus der Nachbarschaftsstudie, die in diesem Artikel vorgestellt wird. Die Idee der Genossenschaft fußt unter anderem auf den Werten von Selbsthilfe und Solidarität. Entsprechend lebt eine Genossenschaft vom Engagement ihrer Genossenschafter*innen, sei es die Mitarbeit in offiziellen Gremien, eine spon- tane Nachbarschaftshilfe oder das Organisieren von geselligen Veranstaltungen.
Die Genossenschafter*innen engagieren sich aus unterschiedlichen Gründen, zum Beispiel aus einem Verpflichtungsgefühl oder aufgrund eines persönlichen und poli- tischen Selbstverständnisses. Solche Unterschiede und ihre möglichen Ursachen beleuchten wir in diesem Artikel. 84 Die Stadt Zürich hat eine lange Tradition im genossenschaftlichen und gemein- nützigen Wohnungsbau. Die Förderung des kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbaus nach dem Vorbild des „Roten Wiens“ führte ab 1928 zu einem Boom bei den städtischen Genossenschaftssiedlungen. Während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war eine zweite Gründungswelle zu verzeichnen (Schmid: 4). In den Boom- jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bewegte sich wenig auf dem Markt der Wohnbau- genossenschaften. Erst im Zuge der Wohnungsnot ab den 1990er-Jahren formierten sich – vor allem in Zürich – erste neue Genossenschaften. Vorreiterinnen waren hier in Zürich die Genossenschaft Kraftwerk1 oder die Genossenschaft Karthago. 1 Eine regelrechte Renaissance erlebt der gemeinnützige Wohnungsbau nun wiederum seit Anfang dieses Jahrhunderts. 2011 hat die Stadt Zürich in einer Volksabstimmung den Grundsatzartikel in der Gemeindeordnung gutgeheißen, wonach der Anteil an Mietwohnungen in der Stadt Zürich im Besitz von gemeinnützigen Bauträgern von damals rund einem Viertel auf ein Drittel im Jahr 2050 erhöht werden soll. Was genau als gemeinnützige Wohnung gilt, darüber gibt es keine Einigkeit. 2 So variiert der Anteil gemeinnütziger Wohnungen in der Stadt Zürich je nach Art des Zählens. Seitens der Statistik des Bundes sind es im Jahr 2018 19,3 Prozent. 3 Die Statistik der Stadt Zürich weist 2019 einen Anteil von 24,8 Prozent gemeinnütziger Wohnungen aus (Statistik Stadt Zürich, Wohnungsbestand).
Der Anteil an genossenschaftlichen Wohnungen liegt gemessen an allen Wohnungen in Zürich bei 18,1 Prozent (ebd.), das ist zusammen mit der Stadt Biel der höchste Anteil in Schweizer Städten (Vgl. Schmid 2005: 31). Neben einem rein quantitativen Wachstum werden in den letzten Jahren zusehends auch qualitative Veränderungen bei den Wohnbaugenossenschaften sichtbar. So wird nach einer Phase der baulichen und betrieblichen Professionalisie- rung, gerade durch Anregung der vielen neu entstandenen, eher progressiven Wohn- baugenossenschaften, die für ein neues selbstbestimmtes Wohnen einstehen, der Fokus stärker auf das Soziale und auf niederschwellige partizipative Prozesse gelegt. In diesem Artikel gehen wir diesem Fokus auf das selbstbestimmtere, partizi- pativ organisierte Wohnen in Wohnbaugenossenschaften nach. Uns interessiert, was die Bewohner*innen von Wohnbaugenossenschaften motiviert, sich zu engagieren, welche unterschiedlichen Formen von Engagement sich zeigen und unter welchen Bedingungen Gefühle von Mitverantwortung oder eher Verpflichtung entstehen. Wir untersuchen, welche Rollen dabei formelle und informelle Möglichkeiten der Aushandlung und der Mitbestimmung haben und welchen Einfluss dabei die Größe der Organisation – und in diesem Zusammenhang die Identifikation mit der Genos- senschaft – hat. Vorgestellt wird hierzu die zentrale Bedeutung sogenannter Möglich- keitsräume. Wir zeigen auf, inwieweit Partizipation mit gemeinschaftsfördernder Architektur verankert ist und in welchem Wandel sich die Wohnbaugenossenschaften befinden. Wir gehen diesen Fragen anhand zweier unterschiedlicher Wohnbaugenossen- schaften in Zürich nach. Die Daten stammen aus unserem Forschungsprojekt Nach- barschaften in genossenschaftlichen Siedlungen als Zusammenspiel von gelebtem Alltag, genossenschaftlichen Strukturen und gebautem Umfeld (Emmenegger u. a. 2017).
4 In diesem Projekt haben wir je eine Siedlung vier unterschiedlicher Wohnbaugenossen- schaften in Zürich und Winterthur untersucht. Für diesen Artikel vergleichen wir die Ergebnisse der großen, traditionsreichen Wohnbaugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP) und der kleineren Genossenschaft Kalkbreite und beleuchten einzelne Erkenntnisse dieser beiden qualitativ angelegten Fallstudien. Die Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP) ist mit ihrem Gründungsjahr 1910 eine der ältesten Barbara Emmenegger, Meike Müller 85 Wohnbaugenossenschaften der Stadt Zürich. Die 2007 gegründete Baugenossenschaft Kalkbreite gehört zu den jüngeren gemeinnützigen Wohnbauträgern der Stadt. 2. BEP, DIE ALTE TRADITIONSREICHE – KALKBREITE, DIE JUNGE WILDE Die beiden Züricher Wohnbaugenossenschaften unterscheiden sich aufgrund ihrer Geschichte in ihrem Selbstverständnis. Wir stellen im folgenden Kapitel ein paar Kennzahlen zu den beiden Organisationen kurz vor, um sie besser verorten zu können. Die Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP) ist die älteste Arbei- ter*innengenossenschaft der Schweiz. Zu ihren Gründungsmitgliedern zählten verschiedene Mitarbeitende der Schweizerischen Bundesbahnen und ab 1918 auch Mitarbeitende der Post. 1913–15 wurde die erste Pioniersiedlung (Joss 2013) der BEP im Stadtzürcher Industriequartier erbaut. Auf dieser Siedlung, die 2005/06 kurz nach den Wirren der offenen Drogenszene im Quartier wiederum in pionierhafter Weise als ,Familienwohnen‘ totalsaniert und neu vermietet wurde, liegt das Hauptaugen- merk der Fallstudie. Mit Blick auf Formen des sozialen Austauschs und der Unterstüt- zung – die Neuzugezogenen leben teilweise jenseits der formalen Genossenschafts- strukturen – erscheint das Thema Engagement gerade in der untersuchten Siedlung in neuem Licht und bildet den Schwerpunkt dieser Fallstudie.
Zum Zeitpunkt der Untersuchung zählte die Siedlung rund 330 Bewohner*innen. Gegenwärtig zählt die BEP mit ihren rund 1.700 Wohnungen in 27 Siedlungen zu den größten gemeinnützigen Wohnbauträgern in der Stadt Zürich. Die BEP ist eine Mieter*innengenossenschaft, damit sind die Mieter*innen die Mitglieder der Genos- senschaft, nicht etwa wie in anderen Modellen Bauherren oder öffentliche Körper- schaften. Das oberste Organ der Genossenschaft ist, wie rechtlich vorgeschrieben, die Generalversammlung. Sie tagt einmal im Jahr. Bei dringenden Geschäften wie Land- oder Immobilienerwerb, die schnell abgewickelt werden müssen, kann eine außerordentliche Generalversammlung einberufen werden. Der neunköpfige Vorstand ist nebenamtlich tätig, die Geschäftsstelle zählt rund 30 Mitarbeitende. Die Siedlungskommissionen fungieren als Bindeglieder zwischen Bewohner*innen und Vorstand oder Geschäftsstelle. Die BEP ist damit nach wie vor sehr traditionell in formalen Strukturen organisiert (BEP 2010). Mit dem für alle Genossenschafter*innen nutzbaren BEP-Atelier (BEP o. D.) oder einem Gartenprojekt stellt die BEP allerdings Möglichkeitsräume zur Verfügung, die die Verbindung von individuellem und genossenschaftlichem Engagement verknüpfen und ein hohes Maß an Mit- und Selbstbestimmung ermöglichen. Das BEP-Atelier bietet hierbei allen Bewohner*innen der Genossenschaft die Möglichkeit, den Raum in Anspruch zu nehmen und sich gegenseitig und kostenlos Fähigkeiten und spezifisches Wissen zur Verfügung zu stellen. Interessierte können gleichsam Programme anbieten, wie auch vom Angebot profitieren. Das Gartenprojekt ermöglicht seit 2013 Bewohner*innen der BEP-Siedlungen Letten und Wasserwerk das gemeinsame Gärtnern, nachdem in einem offenen Partizipationsprozess nahe der Siedlungen auf einer bis dato unbenutzten, überwucherten Fläche ein Gemein- schaftsgarten konzipiert wurde.
Beide Projekte verlangen zwar Ressourcen seitens der Genossenschaft, können aber auch als gelungene Beispiele für sozialräumliche Investitionen angesehen werden, bei denen eine Verbindung von individuellen und gesamtgenossenschaftlichen Bedürfnissen geglückt ist. Ebenfalls in Zürich entwarfen unter dem Titel Ein neues Stück Stadt im Jahr 2006 Quartierbewohner*innen und Fachleute die Vision einer nachhaltigen und innova- Engagement und Gestaltungsfreiheiten in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen 86 tiven Bebauung des Tramdepots Kalkbreite mitten in der Stadt. Ein Jahr später ist aus der Gruppe die breit abgestützte und gut vernetzte Genossenschaft Kalkbreite geworden. Die Vision wurde in vielen partizipativen Prozessen zu einem Projekt verdichtet (vgl. Genossenschaft Kalkbreite o. D.). 2014 wurde das erste Projekt, der Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite, mit rund 250 Bewohner*innen eröffnet. Dieses neue Stück Stadt soll Visionen von neuen Formen des Wohnens, Zusammenlebens und Arbeitens ermöglichen. So liegt denn auch der Fokus dieser Fallstudie auf der Frage, wie sich der Übergang von der ,Vision Kalkbreite‘ zum Alltag gestaltet. Zurzeit steht mit dem Zollhaus die zweite Siedlung der Genossenschaft Kalkbreite im Bau. Die 56 Wohnungen des Zollhauses sollen im dritten Quartal 2020 bezogen werden (siehe auch die Diskussion „Gemeinschaftlich Wohnen“ mit Nina Schneider von der Genossenschaft Kalkbreite in diesem Band). Auch die Kalkbreite ist eine Mieter*innengenossenschaft. Die Generalversamm- lung (GV) ist auch hier das höchste Entscheidungsgremium der Genossenschaft, welche einmal jährlich tagt. Der siebenköpfige Vorstand ist nebenamtlich tätig. Die Geschäftsstelle hat aktuell rund 19 Mitarbeitende.
Neben dem eher trägen Gremium der GV hat die Kalkbreite eine weitere Mitbestimmungsebene eingeführt, die agiler ist, auch minderjährige Bewohner*innen einbezieht und in ihren Statuten verankert ist. Dieser sogenannte ,Gemeinrat‘ ist ein monatlich tagendes Entscheidungs- und Planungsforum. Er ist offen für alle Mieter*innen in der Siedlung Kalkbreite, Kinder und Erwachsene, Bewohner*innen wie auch Gewerbetreibende. Der Gemeinrat ermöglicht, sich über soziale, kulturelle und politische Initiativen, Budget-, Bau- und Unterhaltsfragen zu informieren, mitzuentscheiden oder eigene Projekte zu lancieren. Entscheidungen werden im Konsensprinzip gefällt (Genossenschaft Kalk- breite 2015). Die Siedlung Kalkbreite verfügt über zahlreiche Möglichkeiten der Mitwirkung und des Engagements, sei es in Form von physischen Räumen, formalen Struk- turen und Gremien oder informellen, spontanen und punktuellen Möglichkeiten, welche der Eigenregie der Bewohner*innen unterliegen und Gestaltungsfreiheiten zulassen. 3. VIELFÄLTIGES ENGAGEMENT UND GESTALTUNGSFREIHEITEN Nach dieser kurzen Einführung in die Strukturen der beiden Wohnbaugenossen- schaften tauchen wir in den nächsten Kapiteln tiefer in das Thema des Engagements ein. Wir beleuchten unterschiedliche Formen von Engagement der Bewohner*innen und deren Ursachen. Basis dafür sind die Interviews, die im Rahmen des Forschungs- projekts Nachbarschaften in genossenschaftlichen Siedlungen durchgeführt wurden. Wohnbaugenossenschaften ermöglichen durch die Erstellung von bezahlbarem städtischem Wohnraum ein Gegengewicht zur Spekulation auf dem Wohnungsmarkt. Diese Überzeugung ist uns im Rahmen der Haushaltsinterviews mit den Bewoh- ner*innen der genossenschaftlichen Siedlungen immer wieder vor Augen geführt worden.
Dieses Bewusstsein über die strukturellen Bedingungen im Wohnungsmarkt zeigt sich bei den beiden Genossenschaftstypen der Kalkbreite und der BEP in unter- schiedlichen Ausprägungen. Bei den Bewohner*innen der traditionsreichen BEP lässt es sich vor allem als ,Dankbarkeit des Erhaltenen‘ erkennen. Man ist sehr froh, eine Genossenschaftswohnung erhalten zu haben und fühlt sich dort gut aufgehoben. Die Wahrnehmung des Wohnens in der BEP als Privileg dient als Motor für poten- zielles Engagement. Die Teilnahme an Genossenschaftsanlässen (z. B. General- oder Barbara Emmenegger, Meike Müller 87 Siedlungsversammlung) wird als (erwartete) Gegenleistung an die Genossenschaft interpretiert. Das motivierte Handeln basiert auf Verpflichtungsgefühlen und ist damit wenig selbstbestimmt. Etwas anders verhält es sich in der Kalkbreite-Siedlung: Hier ist in Interviews mit den Bewohner*innen weniger eine explizite Dankbarkeit oder ein Verpflichtungs- gefühl gegenüber der Genossenschaft auszumachen. Vielmehr wird das ‚Glück über das Erreichte‘ thematisiert. Der hier zu beobachtende Spezialfall – nämlich, dass die Bewohner*innen bisweilen selbst die Vision der Kalkbreite mitgetragen haben – macht sich deutlich bemerkbar. So äußern sich viele der interviewten Bewohner*innen der Kalkbreite eher glücklich darüber, ein innovatives Projekt mit neuen Wohnformen mitentwickelt zu haben als dass der Erhalt der Wohnung mit Dankbarkeit und Demut beschrieben wird. Dementsprechend wird Engagement von den Interviewten in der Kalkbreite nicht als Verpflichtung, sondern vielmehr als Chance verstanden, denn die Vision Kalkbreite deckt sich weitestgehend mit ihrer persönlichen Überzeugung und ihren Idealen und Werten vom neuen sozialen Wohnen.
Herauskristallisiert haben sich also Formen von intrinsischer und extrinsischer Motivation für das Engagement, die in einen Zusammenhang von unterschiedlichen Graden der Möglichkeiten der Selbstbestimmung gestellt werden können. Edward L. Deci und Richard M. Ryan (2000) haben in den 1990er-Jahren die Theorie über Motivation ausdifferenziert. Mit ihrer Selbstbestimmungstheorie postu- lieren sie unterschiedliche qualitative Ausprägungen des motivierten Handelns. Sie ordnen motivierte Handlungen auf einem Kontinuum zwischen Selbstbestimmtheit und Kontrolliertheit an, das heißt, zwischen frei gewählten oder aufgezwungenen Handlungen. Dies führt sie zur Unterscheidung von intrinsischer und extrinsischer Motivation. Intrinsische Motivation definieren sie als interessenbestimmte Hand- lungen, diese „beinhalten Neugier, Exploration, Spontaneität und Interesse an den unmittelbaren Gegebenheiten der Umwelt. (…) Extrinsische Motivation wird dagegen in Verhaltensweisen sichtbar, die mit instrumenteller Absicht durchgeführt werden, um eine von der Handlung separierbare Konsequenz zu erlangen.“ (Deci/Ryan 1993: 225). Das Genossenschaftsmodell bietet Möglichkeiten, Handlungen an eigenen subjek- tiven Werten und Idealen auszurichten. Eine solche intrinsisch verankerte Motiva- tion ließ sich – trotz Unterschieden – sowohl bei den Bewohner*innen der Kalkbreite als auch bei jenen der BEP-Siedlungen beobachten. Die Kalkbreite hat mit ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer Vision und ihrem Umsetzungsprozess viele Interessierte mit hoher intrinsischer Motivation für sich gewinnen können – Menschen, die im Projekt Kalkbreite eine Möglichkeit sehen, ihre eigenen Werte und Vorstellungen vom nachbarschaftlichen Miteinander umzu- setzen.
Knapp zwei Jahre nach Einzug in die Kalkbreite, zum Zeitpunkt der Interviews für das Forschungsprojekt, profitiert das Zusammenleben nach wie vor von dieser Energie. Das Prinzip der demokratischen Selbstorganisation inklusive der nötigen Aneignungs- und Aushandlungsprozesse ist hierbei explizit erwünscht und wird, wie auch die Möglichkeit, sich auf unterschiedlichen Ebenen zu engagieren, als beson- ders bereichernd empfunden. Mit dieser Wertevorstellung geht aber auch eine hohe Erwartungshaltung an das Wohn- bzw. Nachbarschafts- und damit verbunden auch an das Beteiligungsverhalten der anderen Bewohner*innen einher. Die intrinsische Motivation als Quelle für Engagement ist auch bei den Bewoh- ner*innen der BEP vorhanden. Zum Teil erscheint sie jedoch subtiler, denn hier basiert das interne Selbstverständnis einerseits auf Idealen, die oftmals an traditionellen Engagement und Gestaltungsfreiheiten in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen 88 Werten ausgerichtet sind. Alsbald koppelt es sich auch mit traditionellem, linkem parteipolitischem Engagement und damit auch in formalen Strukturen und Gremien. Oder aber die Motivation sich zu engagieren zeigt sich im sozialen Nahraum, auf der Ebene der Siedlung, die eine Identifikation einfacher zulässt. Das Entstehen eines Gefühls von Mitverantwortung, von Interesse, sich für das Zusammenleben, die Nachbarschaft, die Siedlung oder die Genossenschaft im Allge- meinen zu engagieren, ist abhängig von verschiedenen Faktoren und facettenreich. Es entsteht, so wird aus den Interviews mit den Bewohner*innen der beiden Wohn- baugenossenschaften deutlich, wenn Gestaltungsfreiheiten vorhanden sind. Eine intrinsische Motivation von Bewohner*innen unterstützt dann das Engagement sicherlich zusätzlich, falls die eigenen Werte und Normvorstellungen auf fruchtbaren Boden in der Organisation fallen.
Deci und Ryan leiten in ihrer Selbstbestimmungstheorie her, dass intrinsische Motivation aus der Befriedigung der Basisbedürfnisse Autonomie erleben, Kompe- tenz erleben und soziale Eingebundenheit resultiert (Rohlfs 2011: 98). Bei der jungen, aktiven Kalkbreite zeigt sich, dass die intrinsische Motivation der Bewohner*innen mit den Möglichkeiten der Selbstorganisation als einem Wert des Zusammenle- bens korreliert. Autonomie und Kompetenz in partizipativen Ansätzen wie auch die soziale Eingebundenheit in der Siedlung und im Zusammenleben unterstützen also die intrinsische Motivation. Bei der traditionsreichen Genossenschaft zeigt sich bei einigen der eingefleischten Genossenschafter*innen ein Gefühl der Mitverantwortung in der Unterstützung der klaren genossenschaftlichen Strukturen. Dies, wie in den Interviews ersicht- lich, zum Teil aus Verpflichtungsgefühlen, zum Teil jedoch auch aufgrund hoher Identifikation mit der Genossenschaft. Gleichzeitig versuchen andere wiederum, in kleinen Formaten, im sozialen Nahraum selbstorganisierte Möglichkeiten von Enga- gement aufzubauen (z. B. in Form von gemeinsamem Gärtnern und Bespielen und Möblieren des Innenhofs, Organisation von Siedlungsanlässen oder -festen, spon- tanen Nachbarschaftshilfen, gegenseitigem Kinderhüten o. Ä.) – an den formalen Strukturen der Wohnbaugenossenschaft vorbei. Dies gelingt, wo ein kleiner Freiraum ausgemacht werden kann und Gestaltungsfreiheiten als Möglichkeitsräume erobert werden – sehr wohl auch im Kampf gegen die Organisation. Diese Ausprägungen des motivierten Handelns orientieren sich ebenfalls, wie bei der Kalkbreite, am eigenen Selbstkonzept und spiegeln die Identifikation mit der Genossenschaft oder dem sozi- alen Nahraum wider. Die geringere Kultur an Selbstbestimmung und Partizipation bindet dann aber die Kräfte oft im Widerstand gegen die Organisation oder in der Resignation.
Ob Bewohner*innen bereit sind, sich für das Wohnhaus, die Siedlung oder die Wohnbaugenossenschaft zu engagieren, hängt jedoch von weiteren – sich teilweise beeinflussenden – Faktoren ab. Da spielen zum Beispiel die persönliche Betroffenheit, das thematische Interesse sowie die Lebensphase der Bewohner*innen und der Sied- lung respektive der Organisation entscheidende Rollen, sich für das Zusammenleben in Nachbarschaft und Genossenschaft zu engagieren. Wird die eigene Siedlung saniert, der Siedlungshof neu gestaltet oder der Gemein- schaftsraum neu organisiert, wird ein weiterer Beweggrund für Engagement sichtbar: die persönliche Betroffenheit. Sie zeigt sich auf informeller Ebene, wie zum Beispiel an der Entstehung einer Hofgruppe, die sich um dessen Umgestaltung kümmert, oder auf formaler Ebene, wie bei der breiten Teilnahme an der Siedlungsversammlung, wenn es um die Sanierung der eigenen Siedlung geht. Barbara Emmenegger, Meike Müller 89 Viele Bewohner*innen sind bereit, sich themenmotiviert und umfeldnah zu enga- gieren, nah am Alltag und dem konkreten eigenen Wohn- und Lebensumfeld. Im Gegensatz zur intrinsischen Motivation zeigt sich das Engagement der persönlichen Betroffenheit oder des thematischen Interesses eher punktuell, auf ein spezifisches Thema im nahen Umfeld bezogen und zeitlich begrenzt. Diese Formen des Engage- ments sind in beiden Genossenschaftstypen zu beobachten. Es können temporär auch formale Gremien wie die Siedlungskommission für die persönlichen Interessen eingespannt werden. Die persönliche Betroffenheit spielt oft mit der Lebensphase zusammen. Je nach Lebensphase werden unterschiedliche Ansprüche an die Angebote gestellt, die es einem ermöglichen, sich zu engagieren.
So ist beispielsweise mit der Lebensphase der Erwerbstätigkeit oder der Familien- und Kinderphase ein hoher Anspruch an Zeitsouveränität verbunden: Engagement soll punktuell, flexibel und selbstbestimmt möglich sein. Die Kalkbreite bietet mit ihren unterschiedlichen bespielbaren Räum- lichkeiten und themenbezogenen Arbeitsgruppen eine Fülle solch flexibler Angebote, was ermöglicht, dass Engagement lebensphasen-übergreifend stattfindet. Mit dem BEP-Atelier und dem Gartenprojekt lassen sich aber auch bei dieser Genossenschaft zwei Beispiele multifunktionaler Räume feststellen, die verschiedene Interessen von Personen in unterschiedlicher Lebensphasen aufgreifen. Diese bieten den Bewoh- ner*innen Flexibilität in der Ausgestaltung des Engagements. Nichtsdestotrotz werden die genossenschaftlichen Strukturen von den Bewoh- ner*innen der BEP-Siedlungen jedoch oft als zu starr und unattraktiv aufgefasst. Die traditionsreichen Strukturen der älteren Wohnbaugenossenschaften werden als wenig motivierend gesehen, sich zu engagieren. Nicht nur die Lebensphase der Bewohner*innen, sondern somit auch diejenige der Wohnbaugenossenschaft selbst hat Einfluss auf das Interesse, sich zu engagieren. 4. IDENTIFIKATION UND ENGAGEMENT Mit dem Vergleich der beiden Zürcher Wohnbaugenossenschaften, die sich in Alter und Größe stark unterscheiden, kann in Bezug auf Engagement eine weitere Ebene ins Spiel gebracht werden, nämlich diejenige der Identifikation. Mit welchen räumlichen, sozi- alen oder strukturellen Ebenen identifizieren sich die Bewohner*innen der Siedlungen? Erfolgt z. B. eine Identifikation auf eher kleinräumiger Ebene wie der des Hauses oder der Siedlung der Genossenschaft, in der sie leben, oder identifizieren sich die Bewoh- ner*innen eher mit der ganzen Genossenschaft als Organisation oder auch mit dem Stadtquartier, in dem sie leben?
Die Frage nach den räumlichen und organisationalen Identifikationsebenen ist relevant, da bei der Kalkbreite zum Zeitpunkt der Erhebung die Genossenschaft mit der einen Siedlung Kalkbreite identisch ist, die BEP jedoch in Zürich und Umgebung 26 Siedlungen besitzt, und damit eine viel größere Organisa- tionsstruktur hat als die Kalkbreite. Aufgefallen ist denn auch in unserer Untersuchung, dass sich in größeren Genossenschaften verschiedene, sich teilweise überlappende Identifikationsebenen der Bewohner*innen bilden. Oftmals wird von den Interviewten der großen Genossenschaften die Organisation als zu groß und zu abstrakt wahrge- nommen, um sich damit zu identifizieren und sich dafür zu engagieren. Stattdessen werden kleinere und der eigenen Alltagswirklichkeit näherstehende Ebenen wie die Siedlung, das Haus oder das direkte persönliche Wohnumfeld als Identifikationsräume erlebt und im Rahmen des persönlichen Engagements genutzt. Dieses wird von den Bewohner*innen durchaus im Sinne des Genossenschaftsgedankens interpretiert. Als Engagement und Gestaltungsfreiheiten in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen 90 Chance erwähnten die Bewohner*innen der Siedlungen dabei die Möglichkeit unter- schiedlicher Netzwerke und unterschiedlicher Formen von Engagement. Die großen traditionsreichen Wohnbaugenossenschaften reagieren auf diese Verschiebung der Identifikationsebene von der Genossenschaft als Organisation hin zur einzelnen Siedlung breit gefächert. Einige befürchten nicht nur den Verlust des Genossenschaftsgedankens, das heißt des Zusammenhalts und der Solidarität, sondern auch den Verlust von Kontrolle. Mitverantwortung und Möglichkeiten der Selbstorganisation kleinerer Organisationseinheiten oszillieren hier zwischen der Idee des Genossenschaftsgedankens und der formellen Organisationsstruktur der traditionellen Wohnbaugenossenschaft.
Andere – auch traditionelle Organisationen – sehen hingegen im umfeldbezogenen Engagement die Basis für den Aufbau von tragfähigen Nachbarschaften. Der Einfluss progressiver, innovativer Genossen- schaften wie jener der Kalkbreite auf die Organisationsstrukturen der traditionsrei- chen Genossenschaften ist spürbar, finden doch bei Letzteren auch vermehrt Diskus- sionen über ihre Werte- und Normensysteme statt. 5. MÖGLICHKEITSRÄUME – NEUE SOZIALE RÄUME Lebendige Nachbarschaften verlangen nach einer Öffnung für neue, ergänzende Formen von Engagement, die sich an Interessen, Themen und Projekten verschie- dener Zielgruppen orientieren und unterschiedliche Grade an Selbstorganisa- tion zulassen. Wir nennen diese Freiräume Möglichkeitsräume. Möglichkeitsräume fördern Engagement und Initiativen der Bewohner*innen insbesondere dann, wenn sie soziale und räumliche Gestaltungsfreiheiten zulassen und Kontakte sich entfalten können. Das heißt, wenn die Mitverantwortung auf Gestaltungsmöglichkeiten und Selbstorganisation aufbauen kann. Möglichkeitsräume manifestieren sich auf unterschiedlichen Ebenen. Es sind zum einen physische Räume. In der Kalkbreite sind das multifunktional nutzbare Gemein- schaftsräume wie die Cafeteria und das Foyer oder aber die sogenannten Boxen und Schöpfe – eine Eigenheit der Kalkbreite in Form von weiteren Gemeinschaftsflächen im Innen- und Außenbereich, deren Nutzungen von der Genossenschaft nicht vorde- finiert, sondern die von den Bewohner*innen bespielt und immer wieder neu defi- niert werden sollen. Bei der BEP sind es das BEP-Atelier, der Gemeinschaftsgarten, drei Siedlungslo- kale und ein Gemeinschaftsraum, auf alle 26 Siedlungen verteilt. Es sind Räume, die bespielt und gestaltet werden können.
Über diese physischen Räume hinaus sind Möglichkeitsräume zum anderen aber auch Räume der Mitbestimmung wie Gremien, lose Zusammenschlüsse, geeignete Mitwirkungsangebote, durch die das Leben in der Siedlung und die Entwicklung der Genossenschaft mitgestaltet werden können. Möglichkeitsräume sind des Weiteren offene Elemente, die – und dies macht sie vor dem Hintergrund veränderter Formen von Engagement so wichtig – Gestal- tungsfreiheiten zulassen. Damit unterliegt die Ausgestaltung des Engagements in diesen Möglichkeitsräumen der Eigenregie der Bewohner*innen entlang eigener Bedürfnisse oder Interessen und ist möglichst vereinbar mit ihrem Alltag und den einsetzbaren Ressourcen. Möglichkeitsräume basieren auf Offenheit und Komplexität, und ihre Unbe- stimmtheit verlangt nach Aushandlung. Es sind diese spontanen und punktuellen Gestaltungsfreiheiten und die Gelegenheiten der Aushandlung untereinander, welche Möglichkeitsräume bieten und Engagement unterstützen. Insofern sind Möglich- Barbara Emmenegger, Meike Müller 91 keitsräume auch Interaktionen. Interaktionen, die das Leben in der Siedlung viel- fältig machen. Möglichkeitsräume sind damit soziale Räume, die Freiheiten in der Gestaltung des Zusammenlebens und Mitsprache in den organisationalen Gremien zulassen und sich im Zusammenspiel von strukturellen und organisationalen Bedin- gungen, dem gebauten Umfeld und dem gelebten Alltag konstituieren. Die Genossenschaft Kalkbreite kultiviert diese Möglichkeitsräume. Man nehme als Beispiel die monatliche Versammlung des Gemeinrats, dieser steht allen Bewoh- ner*innen und Gewerbetreibenden der Kalkbreite offen. Der Gemeinrat hat unter anderem Kompetenzen in der Vergabe von gemeinschaftlich genutzten Räumen. Es gilt das Prinzip: Wer da ist, bestimmt mit. Der Gemeinrat ist als Gremium ein Möglich- keitsraum. Er trifft sich in der Cafeteria.
Die Cafeteria ist ein weiterer Möglichkeits- raum. An der einen Sitzung stellt eine Gruppe von Kindern – die Zwerghasengruppe, wiederum ein weiterer Möglichkeitsraum – mutig vor dem Plenum ihr Anliegen vor, nämlich einen der Schöpfe (Möglichkeitsraum) für ihre Zwerghasen beanspruchen zu wollen. Der Gemeinrat diskutiert das Anliegen, weitere Nutzungsansprüche an den Schopf werden ausgehandelt. Durch das Organisieren und Bespielen der Möglichkeitsräume und das Aushan- deln in denselben kann weiteres Engagement angekurbelt werden. Durch das Aushan- deln und das Engagement entstehen Kontakte, die wiederum die Chance erhöhen, sich in neuen Konstellationen, an anderen Orten und in anderer Form gemeinsam zu engagieren. Am Beispiel der Cafeteria zeigt sich jedoch exemplarisch, zu welchen Span- nungsverhältnissen die Gestaltungsfreiheit und damit teilweise nicht klar defi- nierte Aufgaben auch führen können. So wird in vielen Kalkbreite-Interviews die nicht immer gelingende Reinigung der Cafeteria, welche eigentlich von den Bewoh- ner*innen organisiert werden sollte, thematisiert. Einige wünschen sich mehr Steu- erung (und auch Finanzierung) der Reinigungsarbeiten durch die Genossenschaft, während andere auf die Eigeninitiative der Bewohner*innen verweisen. Diese physischen, mentalen und strukturellen Räume lassen die Möglichkeit für Engagement und Mitwirkung zu. Zudem regen sie generell auch den Möglichkeits- sinn an. Sie regen an, weiterzudenken, zu assoziieren, was noch nicht ist, zu denken (Vgl. Bulk 2017: 244). Möglichkeitsräume können so zu gelebten sozialen Räumen des Genossenschaftsgedankens werden. 6. DAS SOZIALE, DIE PARTIZIPATION UND DIE ARCHITEKTUR Einem sozialräumlichen Ansatz folgend konstituiert sich Raum im Zusammenspiel von gebauter Struktur, gelebtem Raum und wahrgenommenem Raum.
Demnach wird Raum immer sozial produziert und gilt als sozialer, gesellschaftlicher Raum. Für Martina Löws Raumtheorie (2001) bildet dieser Ansatz den maßgeblichen Ansatzpunkt. Sie geht der Frage nach, wie sich die Materialität der Räume und die mentale Konstruktion von Räumen verknüpfen lassen, verfolgt einen handlungsthe- oretischen Ansatz und versucht die Dualität von Handlung und Struktur auf Raum zu übertragen. Von verschiedenen Sozial- und Kulturwissenschaftler*innen werden unterschiedliche, bestehende sozialräumliche Denktraditionen und Perspektiven der Raumvorstellung verknüpft und weiterentwickelt. Häufig wird dabei auf Lefèb- vres (marxistisch geprägten) Raumbegriff zurückgegriffen (vgl. Löw 2001; Rolshoven 2003). Aufbauend auf Levebvres Raumtriade, wo gelebter, gebauter und wahrgenom- mener Raum in einem dialektischen Verhältnis zu einander stehen, entwickelt Rols- hoven (2003) ein Konzept dynamischer Verbindungen. Engagement und Gestaltungsfreiheiten in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen 92 Nicht der Raum an sich, sondern die räumlichen Praxen, das sich im Raum Bewegen und Wahrnehmen sind relevant für die Betrachtungen von Raum (vgl. Lefebvre 1991). Diesen theoretischen Ansätzen zum sozialen Raum folgend sind Mitwirkungsprozesse der Bewohner*innen in den Planungs- und Realisierungspro- zessen wichtige Grundlage für die Aneignung von gebauten Räumen. Solche Partizi- pation eröffnet Möglichkeitsräume, sich zu engagieren und bildet eine Basis für eine gemeinschaftsfördernde Gestaltung und Architektur. Der Paradigmenwechsel hin zu einem stärker partizipativ ausgerichteten Planungsprozess ist bereits bei einigen der Wohnbaugenossenschaften auf der Agenda und löst denn auch Veränderungen in den Abläufen aus.
Der Paradigmenwechsel trifft jedoch bei den älteren, traditionellen Genossenschaften eher noch auf Skepsis, während junge, progressive Wohnbauge- nossenschaften hier bereits gut funktionierende Ansätze entwickelt haben. Ein weiterer Paradigmenwechsel findet in Bezug auf den stärkeren Fokus auf das Soziale statt. Neben der betrieblichen und baulichen Professionalisierung der Wohn- baugenossenschaften aufgrund ihres quantitativen Wachstums sind das Soziale und die Fragen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens in den letzten Jahrzehnten des Wohnbaugenossenschaftsbooms oft ins Hintertreffen geraten. Nun gilt es, den Fokus der Professionalisierung stärker auf das Soziale zu legen, um auch das qualitative Wachstum zu stützen. Konkret heißt das, die organisationsinternen Abteilungen für Soziales und Kultur zu stärken und integral in die Planungsprozesse einzubinden. Der Fokus auf das Soziale bedeutet auch, sozialräumliche Investitionen mitzudenken und mitzuplanen, Soziokultur als Handlungsfeld zu positionieren, um damit Mitwir- kungsverfahren anzuregen und zu unterstützen, soziale Ein- und Ausschlüsse zu reflektieren oder Integration zu fördern. Dies ermöglicht im Sinne des erwünschten Genossenschaftsgedankens, dass sich integrierende Vergemeinschaftungsmöglich- keiten entfalten können. Neben dieser Prozessebene zeigt sich auch auf der architektonischen Ebene, wie wichtig eine gemeinschaftsfördernde Gestaltung für das Zusammenleben ist. Multifunktionale Gemeinschaftsräume oder kollektiv und multifunktional genutzte Räume wie Treppenhäuser, Außenräume, Eingangshallen und Briefkastenanlagen oder Waschsalons können als niederschwellige Begegnungsräume konzipiert werden und Nutzungsüberlagerungen sowie spontane Interaktionen und damit auch Überraschungen zulassen. Sie tragen damit erheblich zur Bildung von tragfä- higen Nachbarschaften und dem sozialen Kapital der Siedlung bei.
Das Zusammen- spiel von öffentlichen, halböffentlichen und privaten Räumen innerhalb einer Sied- lung schließlich betrifft die Ebene der Gestaltung. Es sind hier die Übergänge von privaten zu öffentlichen Räumen wie Laubengänge oder attraktive Treppenhäuser, Nischen für unterschiedliche Altersgruppen im Außenraum der Siedlung, die in den Haushaltsinterviews positiv als gemeinschaftsfördernd angesprochen werden. Fehlende soziale und räumliche Durchlässigkeit, fehlende Zwischenräume, die einen Übergang von privat und öffentlich erschweren wie auch nicht nutzbare Außen- räume, die kaum Aneignungen zulassen und damit Kontakte und Interaktionen eher verhindern als unterstützen, werden von den Bewohner*innen im Gegenzug stark kritisiert. Im gebauten Umfeld manifestiert sich auch oft die persönliche Betroffenheit der Bewohner*innen. Die Betroffenheit kann sich in Form von spezifischem Engage- ment für das Umfeld zeigen oder auch in Resignation, wenn kein Gestaltungsspiel- raum vorhanden ist. Der starke Zusammenhang baulich-gestalterischer und sozialer Aspekte hat sich auf verschiedenen Ebenen gezeigt. So verlangt auch gut durchdachte Barbara Emmenegger, Meike Müller 93 gemeinschaftsfördernde Architektur und Gestaltung immer wieder soziale Interven- tionen, um ihrem Anspruch gerecht zu werden, seien dies Aushandlungsprozesse über den Gestaltungsspielraum in kollektiv genutzten Räumen oder die aktive Anbin- dung neuer baulicher Strukturen durch Nutzungen, die den Zentrumscharakter und damit die Begegnungsmöglichkeiten unterstützen. 7. WOHNBAUGENOSSENSCHAFTEN IM WANDEL Formen von Engagement im sozialen Nahraum oder für die Organisation verändern sich analog dem gesellschaftlichen Wandel.
Die Emanzipation der Frauen und die damit verbundene Herausbildung neuer Lebens- und Arbeitsformen zum Beispiel oder Individualisierung und neue Lebensgewohnheiten beeinflussen stetig auch das zivilgesellschaftliche Engagement, das Zusammenleben und die Nachbarschaften wie auch das Bedürfnis nach Gestaltungsfreiheit und Selbstorganisation im sozial- räumlichen Umfeld. Genauso wie in der Schweiz ein Rückgang der Vereinseinbin- dung zu beobachten ist (Freitag 2014: 242), zeigt sich auch bei den traditionsreichen Wohnbaugenossenschaften ein zunehmendes Desinteresse an formalen Strukturen und Gremien. Denn vorhandene formale und fixe Mitwirkungsangebote (z. B. Gene- ralversammlung, Arbeit in Siedlungskommissionen) sind in den Alltag vieler Bewoh- ner*innen nicht integrierbar oder werden teilweise als wenig sinnstiftend, gewinn- bringend oder einladend empfunden. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass sich die Bewohner*innen weniger enga- gieren würden. Es erfolgt vielmehr eine Verschiebung beziehungsweise eine Ausdif- ferenzierung von Engagement. Wir sind im Laufe der Erhebungen vielen kleinen und wichtigen nachbarschaftlichen Gesten begegnet. Neben formellem Engagement in offiziellen Gremien gibt es punktuelles, informelles Engagement. Von den Siedlungs- bewohner*innen werden beide Formen – informelles sowie formelles Engagement – als Möglichkeit genannt, sich zu engagieren, dies je nach Hintergrund oder Zeit- souveränität mit unterschiedlichen Präferenzen. Als interessant hat sich dabei die Frage nach dem Verhältnis von Siedlungsbe- wohner*innen und der Genossenschaft als Organisation herausgestellt. Gezeigt hat sich, dass zwischen dem nachbarschaftlichen Engagement auf Ebene Haus oder Siedlung und dem Engagement für die Genossenschaft als Organisation ein Konkur- renzverhältnis entstehen kann.
Neue Formen von Engagement, die sich eher punk- tuell, interessengeleitet und im Nahraum manifestieren, laufen Gefahr, im genossen- schaftlichen Kontext als zu individualistisch bewertet zu werden. Trotz dieser Vorbehalte gegenüber dem Wandel befinden sich viele der Wohn- baugenossenschaften, seien es ältere, traditionsreiche oder junge progressive Orga- nisationen, in einem Prozess der Veränderung. Der Wandel wird jedoch zuweilen behutsam angegangen. Dies, wie die Analyse zeigt, weil der Kultur- und Wertewandel nicht nur bei Geschäftsstellen und Vorständen, sondern auch bei alteingesessenen Genossenschafter*innen nicht immer auf Gegenliebe stößt und Zeit braucht. Der Anspruch einer vermehrt demokratischen Aushandlungskultur, die erlaubt, neue Perspektiven baulicher Strukturen oder vielfältiger Formen des Zusammenle- bens, des Arbeitens und Wohnens, der Teilhabe und Solidarität zu entwickeln, trifft gleichzeitig auf die Befürchtung vor dem Verlust traditioneller genossenschaftlicher Werte. Dieses Spannungsfeld, in dem sich die Wohnbaugenossenschaften momentan bewegen, gilt es aufzugreifen und durch soziale Prozesse von Aushandlung und Kooperation neue Formen von Engagement und damit nachbarschaftlichem Zusam- Engagement und Gestaltungsfreiheiten in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen 94 menleben zu ermöglichen. Die jüngeren Wohnbaugenossenschaften befinden sich derweil eher in einem Konsolidierungsprozess, bei dem es darum geht, den Schritt von der Vision in den Alltag dergestalt zu bewältigen, dass ein Rückgang der anfäng- lich hohen und intensiven intrinsischen Motivation der Bewohner*innen aufgefangen werden kann und Mitwirkungsgefäße wie Möglichkeitsräume neu reflektiert und angepasst werden können.
Mit dem Wachstum und der stetigen organisationalen Professionalisierung besteht die Gefahr, dass die Wohnbaugenossenschaften ihre Bewohner*innen im Alltag als Mieter*innen definieren und nicht mehr als ihre Genossenschafter*innen. Erst wenn die Generalversammlung ruft, werden die Bewohner*innen wieder als Genossenschafter*innen angesprochen. Damit werden die Ansprüche des Genossen- schaftsgedankens seitens der Organisation bis zu einem gewissen Grad durch Zent- ralisierung und Professionalisierung selbst ausgehöhlt. Gelingt es, diese sich verändernden Formen von Engagement und gelebter Nach- barschaft in den Siedlungen nicht als Konkurrenz, sondern auch als den Genossen- schaftsgedanken stützend zu aktivieren, und wird der Genossenschaftsgedanke nicht als museale Idee antiquiert, sondern von allen Ebenen und mit Hilfe sozialräumlicher Investitionen und der Schärfung des Möglichkeitssinnes über Möglichkeitsräume reflektiert, ist die Angst vor dem Verlust seiner Werte unbegründet. Oft scheinen die Alltagsgeschäfte die Zeit für eine vertiefte Auseinandersetzung aufzufressen. Dort jedoch, wo diese Diskussionen um Wertewandel geführt werden, Organisationsstrukturen sich in einem Umbruch befinden, kann von den Vorteilen neuer Formen des Engagements und damit von tragfähigen Nachbarschaften profi- tiert werden. 1 Siehe die entsprechenden Webseiten im Quellenverzeichnis. 2 Vgl. Kälin (2020). 3 Bundesamt für Wohnungswesen BWO. Zahlen zum gemeinnützigen Wohnungsbau 2018. 4 Siehe auch: https://www.hslu.ch/nachbarschaften-genossenschaften. QUELLEN BEP Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals Zürich 2010: Von der Wasch- küchenordnung zum Kickboardsalat. 100 Jahre BEP Baugenossenschaft des Eidgenös- sischen Personals. Baden: hier + jetzt. BEP Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals Zürich o.J.: Zusammenleben. https://www.bep-zuerich.ch/zusammenleben.
Bulk, Julia 2017: Neue Orte der Utopie. Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeit- genössischen Künstlergruppen. Bielefeld: transcript Deci, Edward L., Ryan Richard M. 1993: Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik. Jahrgang 39/Heft 2. S. 223-238. Deci, Edward L., Ryan Richard M. 2000: The “what” and “why” of goal pursuits: Human needs and the self-determination of behavior. In: Psychological Inquiry Heft 11 . S. 96–111. Emmenegger, Barbara; Fanghänel Ilja; Müller, Meike 2017: Nachbarschaften in genos- senschaftlichen Siedlungen als Zusammenspiel von gelebtem Alltag, genossenschaft- lichen Strukturen und gebautem Umfeld – Ein Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit. KTI Forschungsbericht. Luzern: Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Barbara Emmenegger, Meike Müller 95 Freitag, Markus 2014: Das Soziale Kapital der Schweiz. Zürich: Verlag Neue Züricher Zeitung. Genossenschaft Kalkbreite (Hg.) 2015: Kalkbreite. Ein neues Stück Stadt. Zürich: Genos- senschaft Kalkbreite. Genossenschaft Kalkbreite o.J.: Kalkbreite. https://www.kalkbreite.net/kalkbreite/. Genossenschaft Kraftwerk1 o.J.: Über uns. https://www.kraftwerk1.ch/genossenschaft/ ueber-uns/. Genossenschaft Karthago o.J.: Über uns. https://www.karthago.ch/ueber-uns/. Joss, Anna 2013: Der Pionierbau – Die Kolonie Industrie I (1915). In: Marie Antoinette Glaser und ETH Wohnforum – ETH Case (Hg.). Vom guten Wohnen. Vier Zürcher Hausbiogra- fien von 1915 bis zur Gegenwart. Sulgen: Niggli, S. 54–91. Kälin, Adi 2020: Was gemeinnützige Wohnungen sind, definieren alle völlig anders. In: Neue Zürcher Zeitung, 16.01.2020. https://www.wbg-zh.ch/wp-content/up- loads/2020/01/200116_nzzonline_drittelsziel_erreicht-1.pdf. Lefebvre, Henri 1991/1974: The production of Space. Oxford: Blackwell. Löw, Martina 2001: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. Suhrkamp.
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Cilia Lichtenberg Das Erbbaurecht als Beitrag zum gemeinschaftlichen Wohnbau in Deutschland Die Preise für Grund und Boden und in der Folge auch die Kosten für Immobilien und Miete sind in Deutschland innerhalb der letzten Jahrzehnte stark angestiegen und stellen insbesondere die Stadtbevölkerung vor eine steigende Wohnkostenbelastung. Die steigenden Kosten für Boden verdeutlicht Heribert Prantl 2019 in der Süddeutschen Zeitung: Seit 1962 sind die Baulandpreise um 2.300 Prozent gestiegen. Diese Preisstei- gerungen bilden jedoch nur die durchschnittlichen Preise in Deutschland ab – sowohl in Städten als auch auf dem günstigeren Land. In der Stadt München hingegen stiegen die Preise für Bauland seit 1950 um ganze 39.400 Prozent (Prantl 2019). Und auch eine Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt-, und Raumforschung (BBSR) von 2017 zeigte auf, dass die aktuellen Baulandpreise in Deutschland den größten Kostentreiber beim Wohnungsbau darstellen und folglich die Entstehung von leistbarem Wohnungsbau behindern (BBSR 2017: 5). Untere Einkommensgruppen, darunter sind auch gemein- schaftliche sowie selbstorganisierte Wohngruppen anzusiedeln, können sich dadurch nur sehr erschwert mit leistbarem Wohnraum versorgen. Die steigenden Boden- und Wohnungspreise in den letzten Jahren führten dazu, dass der Umgang mit Grund und Boden im deutschen Planungssystem wieder Eingang in die Diskussion gefunden hat. Dabei wird das Erbbaurecht als eine Lösung diskutiert, Einfluss auf die steigenden Boden- und Wohnungspreise zu nehmen. Das Erbbaurechtsgesetz trennt Boden und Gebäude und ermöglicht durch die regelmä- ßige Zahlung eines Erbbauzinses die befristete Überlassung des Bodens, um darauf ein Haus zu bauen oder zu besitzen. Vom Erbbaurecht können alle Grundeigentü- mer*innen Gebrauch machen, traditionell wird es jedoch besonders von Kommunen und Kirchen genutzt (Lichtenberg 2020).
Eingebracht in die Diskussion wurde das Erbbaurecht ab Mitte der 2010er-Jahre, beispielsweise durch die Roadmap Bodenpolitik – Bodenpolitische Agenda 2020– 2030, die 2017 vom Deutschen Institut für Urbanistik (difu) und dem Bundesverband 100 für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. (vhw) mit vielen Partner*innen veröffentlicht wurde. Darin fordern sie die Kommunen auf, eine aktive Bodenpolitik umzusetzen, um ihre verloren gegangenen Steuerungsmöglichkeiten zurückzugewinnen. Boden- bevorratung und Zwischenerwerb mit Hilfe des Erbbaurechts stellen eine weitere Kernforderung dar (difu/vhw 2017). Gleichzeitig erschien die PlanerIn, die Zeitschrift der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung (SRL), die sich mit der „Boden- nutzung“ beschäftigte und ebenfalls stärkere Nutzung von Erbbaurechten forderte (SRL 2017). Und auch Initiativen wie der Münchner Aufruf für eine andere Bodenpolitik forderten 2017 ein soziales Bodenrecht und die ausschließliche Vergabe öffentlichen Grundbesitzes im Erbbaurecht ein (Münchner Aufruf 2017: 2). Im Folgenden soll daher die Frage geklärt werden, welchen Beitrag das Erbbau- recht für gemeinschaftlichen und selbstorganisierten Wohnbau leisten kann. Vor diesem Hintergrund wird zunächst die Entstehungsgeschichte des Erbbaurechts in Deutschland angeschaut und untersucht, inwieweit die ursprüngliche Idee noch heute gültig ist. Daraufhin werden die grundlegende Funktionsweise sowie die Möglichkeiten des Erbbaurechtsvertrags diskutiert sowie die Herausforderungen in der Praxis betrachtet. Daran schließt sich die Frage an, inwieweit gemeinschaft- liche und selbstorganisierte Gruppen vom Erbbaurecht profitieren können und vor welchen speziellen Herausforderungen sie stehen. Dabei wird exemplarisch ein Blick nach Leipzig geworfen. 1.
DIE GESCHICHTE DES ERBBAURECHTS IN DEUTSCHLAND Das Instrument des Erbbaurechts ist älter als unser Rechtssystem, es hat seine Ursprünge im Römischen Recht und in verschiedenen Instrumenten des Mittelalters, wie der städtischen Bodenleihe und der ländlichen Erbpacht. Zu Zeiten dieser Instru- mente war Grund und Boden jedoch noch unverkäuflich und nicht Gegenstand von Privateigentum (Dieterich/Dieterich 1997: 66). Stattdessen war der Boden im Besitz, nicht aber im Eigentum von Grundherren als Vertreter der katholischen Kirche (Bernoulli 1949: 24), bis das enorme Städtewachstum im 18. und 19. Jahrhundert zur Beschleunigung der Bebauung und zum Ausverkauf des Stadtbodens führte (ebd.: 44). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie nach dem Ersten Weltkrieg führten zerstörte Gebäude und der Wohnraumbedarf Kriegsgeflüchteter zu starken Bodenpreissteigerungen, die zu hohen Grundstückspreisen und folglich auch zu stei- genden Mietpreisen führten. Das hatte öffentliche Diskussionen über den Umgang mit Grund und Boden und die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum für breite Bevölkerungsgruppen zur Folge (Novy-Huy/Dellgrün 2010: 49). Die Bodenfrage rückte in den Mittelpunkt der sozial- und wohnungswirtschaftlichen Überlegungen und wurde als wichtige Voraussetzung für die Bekämpfung von Armut angesehen (Wätz- mann 2013). Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich zahlreiche Personen mit der Problematik des Bodens und schufen eine Grundlage für das heutige Erbbaurechts- gesetz. Henry George setzte sich in seinem Werk Fortschritt und Armut 1897 mit der steuerlichen Abschöpfung des Bodenwertzuwachses auseinander. Sein Schüler Adolf Damaschke forderte mit dem von ihm gegründeten Bund deutscher Bodenreformer eine Besteuerung sowie Verpachtung von Boden, die in der Verfassung verankert werden sollte.
Zudem verlangte er öffentliche Wiederkaufsrechte und eine öffentliche Bodenvorratspolitik (Novy-Huy/Dellgrün 2010: 49; Dransfeld 2015: 5). Die Forderungen nach Bodenreformen führten dazu, dass das Erbbaurecht 1900 als „Bau- und Kellerrecht“ erstmals rudimentär in den §§ 1012–1017 des Bürgerlichen Cilia Lichtenberg 101 Gesetzbuchs festgeschrieben wurde. Es löste damit die mittelalterlichen Instrumente, wie die Erbpacht 1 oder die Bodenleihe, ab. Es wurde, verglichen mit beispielsweise einer flächendeckenden Besteuerung des Bodens, jedoch nur eine der konservati- veren Forderungen der Bodenreformer gesetzlich festgehalten. Und da es in seiner ersten gesetzlichen Formulierung als „ungenügend und unsicher“ (vgl. Velić 2011: 6) angesehen wurde, stand es Anfang des 20. Jahrhunderts erneut zur Diskussion und fiel bereits 1912 wieder aus dem BGB heraus (ebd.). Nach dem Ersten Weltkrieg führten erneute Diskussionen um Boden zu einer Novellierung und zur Erlassung der „Erbbaurechtsverordnung“ (ErbbauVO). Diese Verordnung mit Gesetzesrang trat am 22. Januar 1919 in Kraft und änderte auch das Ansehen des Erbbaurechts. Die Verordnung ist bis auf wenige Veränderungen bis heute gültig und wurde 2007 in „Erbbaurechtsgesetz“ (ErbbauRG) umbenannt. Die ErbbauVO regelte ab 1919 umfassend die befristete Überlassung von Grund und Boden und wurde als Instrument zur Lösung wohnungspolitischer Probleme sowie zur Abschöpfung von Bodenwertsteigerung angesehen, wie aus der Vorbemerkung der Verordnung hervorging: „Die Bodenreform erkannte im Erbbaurecht ein Hauptmittel zur Verwirklichung ihres praktischen Ideals, dass nämlich der Gemeinschaft auch die aus ihrem Wachsen hervorgehende Bodenwertsteigerung zugewendet werden müsse. […] Gerade die herrschende Wohnungsnot war und ist der Hauptfaktor, durch den das Erbbaurecht mehr zur Geltung kommt.“ (Novy-Huy/Dellgrün 2010: 50).
Das Erbbaurecht stellte insbesondere in den Nachkriegsjahren beider Weltkriege günstigen Boden für gemeinnützige Wohnungsunternehmen und Genossenschaften zur Wohnbebauung bereit (Novy-Huy/Dellgrün 2010). Für die „minderbemittelten Bevölkerungskreise“ (§ 27, § 32 ErbbauRG), die Formulierung für untere Einkommens- gruppen von 1919, regelt das Gesetz Mindestanforderungen, die die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen für sich nutzen konnten. Es verdeutlicht, dass das deutsche Erbbaurechtsgesetz ursprünglich die Wohnbedürfnisse insbesondere der unteren Einkommensgruppen befriedigen sollte und auch konnte (ebd.). Durch die Ursprünge des Erbbaurechts im Römischen Recht gibt es in den meisten europäischen Ländern sowie ehemalig von Europa kolonialisierten Ländern vergleichbare Instrumente. Diese ähneln einander stark, jedoch verfügt nur Deutsch- land über Schutzklauseln für Wohnbebauung sowie eine eingeschränkte Anpassung der Erbbauzinsen. Das deutsche Erbbaurecht ist zudem stärker „verrechtlicht“, was sich in umfassenderen Verträgen widerspiegelt (Lichtenberg 2020). Die Schweiz nutzt das Baurecht insbesondere für ihren gemeinnützigen Wohnungsbau, in Österreich macht bisher vorrangig die Kirche davon Gebrauch (Christoph 2019: 211). 2. DIE FUNKTIONSWEISE DES DEUTSCHEN ERBBAURECHTS Das Erbbaurechtsgesetz ermöglicht die befristete Überlassung eines Grundstücks durch die juristische Trennung von Gebäude und Boden entgegen § 94 Abs. 1 Bürger- liches Gesetzbuch (BGB), der besagt, dass ein Grundstück und das sich darauf befin- dende Gebäude zu einer rechtlichen Einheit werden. Das Erbbaurecht ermöglicht dadurch Gebäude als selbstgenutztes Wohneigentum, Mietwohnungsbau oder auch für Gewerbe zu besitzen, ohne Eigentümer*in des Grundstücks zu sein, aber für die Dauer des Erbbaurechtsvertrags alle Rechte von Eigentümer*innen zu erlangen.
Für die Dauer des Erbbaurechtsvertrags haben die Erbbauberechtigten (auch Erbbau- rechtsnehmenden) die Sachherrschaft über das Grundstück, weshalb es auch als Das Erbbaurecht als Beitrag zum gemeinschaftlichen Wohnbau in Deutschland 102 „eigentumsgleiches Recht“ (Velić 2011: 16) bezeichnet wird (ebd.). Das Erbbaurecht wird durch die Vereinbarung eines Erbbaurechtsvertrags und die Eintragung ins Erbbaugrundbuch begründet. Die Vertragsfreiheit ermöglicht es dabei, die Zinsen, die Dauer und auch die Nutzung individuell vertraglich zu verein- baren. Der Vertrag kann beispielsweise eine spezifische Nutzung oder Zielgruppe festgelegen, eine Bebauungspflicht oder Vertragsstrafen festschreiben sowie eine Entschädigungssumme bei Beendigung des Vertrags festlegen (§§ 26 ErbbauRG). Diese Festschreibung der Nutzung im Erbbaurechtsvertrag stellt einen zentralen Vorteil gegenüber dem Kaufvertrag dar, in dem lediglich für eine befristete Zeit Auflagen erteilt werden können, wie beispielsweise in städtebaulichen Verträgen. Insbesondere für soziale Vorgaben wie Antispekulationsklauseln und Verpflichtung zum Angebot von preiswertem Wohnraum kann diese Nutzungsfestschreibung für die gesamte Laufzeit des Erbbaurechts ausgenutzt werden. Davon machen teils Kommunen, aber insbesondere private Stiftungen Gebrauch (Kriese 2019: 179f.). Der Erbbauzins stellt eine weitere wichtige Stellschraube dar und ist zugleich ein Knackpunkt des Erbbaurechts: es gibt unzählige Gerichtsentscheidungen zur komplexen Erhöhung, Senkung und Anpassung des Zinses. Als Bemessungsgrundlage dient dabei in der Praxis der Bodenwert bei Bestellung des Erbbaurechts, gesetz- lich ist die Kopplung an den aktuellen Bodenwert jedoch nicht festgeschrieben (§ 9 ErbbauRG). Die Erbbauzinsen können während der Vertragslaufzeit erhöht werden. Bis 1974 war es noch möglich, den Erbbauzins an den aktuellen Bodenwert anzupassen.
Doch aufgrund starker Bodenpreissteigerungen in den 1970er-Jahren und demzufolge stark steigender Erbbauzinsen wurden die Anpassungsmöglichkeiten verändert. Seit 1974 regelt der § 9a, dass der Erbbauzins alle drei Jahre an die „allgemeinen wirt- schaftlichen Verhältnisse“ (§ 9a ErbbauRG) angepasst werden darf (Lindner 2019: 171). Diese „allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse“ werden auf Grundlage des Lebenshaltungskostenindexes sowie der Bruttoarbeitslöhne ausgewählter Arbeit- nehmer*innen berechnet (ebd.). Dadurch steigen die Erbbauzinsen deutlich geringer, als wenn diese an die aktuellen Bodenwerte angepasst werden dürften. Auch wenn die „allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse“ nicht die realen Nettolohn- sowie Rentenentwicklungen abbilden, vergünstigt diese Berechnung die Kosten für die Nutzung des Bodens für Erbbauberechtigte langfristig und verringert im Gegenzug die Einnahmen der Grundstückseigentümer*innen. Dieser verzögerte Erbbauzins wird als ,schleppender‘ oder ,hinkender‘ Zins bezeichnet. Je länger der Erbbaurechts- vertrag läuft, desto stärker kommt dieser geldwerte Vorteil für die Erbbaunehmenden zum Tragen (Thiel 2018: 1195). Die Höhe der vereinbarten Erbbauzinsen unterscheiden sich in der Praxis stark. Sie liegen nach einer Umfrage des Deutschen Verbands für Wohnungswesen, Städ- tebau und Raumordnung bei Kommunen zwischen einem und sieben Prozent, je nach Ausgabejahr, Nutzung und Laufzeit des Vertrags (Deutscher Verband 2019: 17). Laut einer Studie des Deutschen Erbbaurechtverbands lag der durchschnittliche Prozent- satz für Wohnimmobilien 2017 bei 3,1 Prozent. Öffentliche Erbbaurechtsgebende, die häufig an Auflagen gebunden sind, vergaben Erbbauzinsen von vier bis fünf Prozent (Deutscher Erbbaurechtsverband 2018). Vereinzelte Kommunen vergeben vergüns- tigte Erbbauzinsen von rund zwei Prozent für soziale Wohnzwecke, wie Hamburg oder Frankfurt.
In der Vergangenheit ausgegebene Erbbauzinsen sind in der Regel höher, der zugrundeliegende Bodenwert jedoch deutlich geringer. Andersherum gesagt sind die Cilia Lichtenberg 103 zugrunde liegenden Bodenwerte mit der Zeit deutlich gestiegen, die Erbbauzinsraten wurden jedoch immer niedriger. Und trotz gesunkener Kapitalmarktzinsen, 2 die seit 2004 dauerhaft unter einem Prozent liegen, sind die Erbbauzinsen noch vergleichs- weise hoch (Deutscher Verband 2020: 17). Auch Thiel und Löhr diskutieren einen „marktgerechten Erbbauzins“. Dieser sollte ihrer Meinung nach unter dem Kapital- marktzins beziehungsweise Hypothekenzins 3 liegen und damit „wesentlich tiefer“ (Löhr 2017: 28) als aktuell von vielen Kommunen und Kirchen ausgegeben (Löhr 2017; Thiel 2018). Denn ein durchschnittlicher Erbbauzins von vier bis fünf Prozent, wie er von vielen Kommunen ausgegeben wird, kann nicht als marktgerecht bezeichnet werden, wenn die Finanzierung eines Grundstückskaufs über die Bank für weniger als die Hälfte realisierbar ist (Thiel 2018: 1195). 3. HERAUSFORDERUNGEN IN DER ERBBAURECHTS-PRAXIS Eine praktische Herausforderung stellen die Beendigung und die Verlängerung von Erbbaurechten dar, denn nach Vertragsablauf kann der Erbbauzins im Rahmen eines Neuvertrags wieder an den aktuellen Bodenwert angepasst werden. Durch die stetig steigenden Bodenwerte kann das zu enormen Preissteigerungen für die Erbbau- rechtsnehmenden führen. Durch den hinkenden Erbbauzins während der Vertrags- laufzeit kann das Erbbaurecht zwar die Bodenpreise für die Erbbaurechtsnehmenden drücken – nach der Laufzeit können sich die allgemeinen Bodenwerte jedoch durch die Anpassung an die aktuellen Grundstückspreise wieder im neuen Erbbauzins widerspiegeln (Deutscher Verband 2019: 40).
Wird das Erbbaurecht bei Vertragsablauf nicht verlängert, so erhalten die Erbbaurechtsnehmenden in der Regel eine Entschädigung für ihre Gebäude und das Grundstück fällt mitsamt Gebäuden an die Grundeigentümer*innen zurück, die das Grundstück dann verkaufen oder im Erbbaurecht einer neuen Nutzung zuführen können. Das Erbbaurechtsgesetz legt keine Entschädigungssumme fest, lediglich für „minderbemittelte Bevölkerungsgruppen“ müssen mindestens zwei Drittel des Verkehrswertes entschädigt werden (§ 33 (2) ErbbauRG), das trifft beispielsweise bei sozialer Wohnraumförderung zu. In der Regel werden im Erbbaurechtsvertrag zwei Drittel bis der volle Verkehrswert vertraglich zugesichert (Bock/Nagel 2019: 184). Im Rahmen des Heimfalls – also des Rückfalls des Grundstücks an den Eigentümer in Folge eines Vertragsbruchs – fallen Hypotheken und Beleihungen des Erbbaurechts- nehmenden an den Erbbaurechtsgebenden zurück. Banken beleihen Erbbaurechte unter anderem aufgrund dessen geringer (Thiel 2004: 28). Neben der Erbbauzinsrate entscheidet der zugrundeliegende Bodenwert maßgeb- lich über die Leistbarkeit des Erbbaurechts. Die Gemeinde- beziehungsweise Landes- verordnungen schreiben jedoch vor, dass öffentliche Grundstücke nicht unter Wert (Verkehrswert) vergeben werden dürfen. Damit wird dem „haushaltsrechtlichen Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit“ (Deutscher Bundestag 2019: 5) des öffentlichen Grundvermögens Rechnung getragen. Wie der Bundestag am 13.11.2019 jedoch festlegte, kann davon abgesehen werden, wenn der Grund und Boden im öffentlichen Interesse bzw. zu sozialen Belangen vergeben wird. Darunter fallen die soziale Wohnraumförderung und Einheimischenmodelle (ebd.).
Konzeptvergaben, die in den letzten Jahren vermehrt zur Vergabe oder zum Verkauf öffentlichen Grunds genutzt wurden, machen sich das zu Nutze und stellen nicht den Verkehrswert in den Vordergrund, sondern qualitative Merkmale zur Erzielung wohnungspolitischer oder stadtentwicklungspolitischer Ziele (ebd.). Inwieweit eine erneute Vergabe unter Wert Das Erbbaurecht als Beitrag zum gemeinschaftlichen Wohnbau in Deutschland 104 nach Ablauf des Erbbaurechts durch eine mögliche neue Förderung realisierbar ist, ist jedoch ungeklärt. 4. DAS ERBBAURECHT UND GEMEINSCHAFTLICHER WOHNBAU IN LEIPZIG Seit einigen Jahren ist das Erbbaurecht neben öffentlichen Grundeigentümer*innen, großen Wohnungsunternehmen und Genossenschaften auch für gemeinschaftliche und selbstorganisierte Wohngruppen interessant. Am Beispiel von Leipzig lässt sich die historische und aktuelle Bedeutung von Erbbaurechten als Instrument kommu- nalen und gemeinschaftlichen Wohnbaus exemplarisch darstellen, da es über eine Bandbreite an „Kollektivhäusern“ 4 auf städtischen sowie privaten Erbbaurechten verfügt, die stellvertretend für die Vor- und Nachteile stehen können. Im Folgenden soll daher diskutiert werden, wie sich die Situation für den gemeinschaftlichen Wohnbau auf Erbbaurechten gestaltet. In der DDR war Privateigentum an Grund und Boden zu privaten Wohnzwecken nicht anerkannt. Am Boden existierte ausschließlich Volkseigentum oder der Boden war im Besitz landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften. Das Nutzungs- recht am Boden war dennoch nicht vergleichbar mit dem Erbbaurechtsgesetz, das auf einem privatrechtlichen Vertrag basiert. Erst nach der Wiedervereinigung fand eine erneute Anwendung des Erbbaurechts in den neuen Bundesländern statt (Velić 2011: 7f.).
Anfang der 1990er-Jahre war Leipzig von starkem Bevölkerungsrückgang und geringer Wohnungsnachfrage gekennzeichnet, was in Folge zu hohem Leerstand und Abriss von stark sanierungsbedürftigem Wohnungsbestand führte. Zudem hatte das Altschuldenhilfegesetz von 1993 zur Folge, dass die Kommunen hohe Schulden durch Rückzahlungsleistungen aufnehmen mussten und sie sowie die Traditions- genossenschaften große Teile ihres Wohnungsbestands veräußerten. Den Tiefpunkt der Bevölkerungsentwicklung erreichte Leipzig 2001 (Wiese u. a. 2016: 147f.). Vor dem Hintergrund der vielen Freiheiten durch den hohen Leerstand sowie dem Bestand an sanierungsbedürftigem Altbau entwickelte sich in den 1990er- und besonders 2000er-Jahren eine Szene an Kollektivhäusern in Leipzig, die auch von der investi- tionsfreudigen und eigentumsfördernden Stadtentwicklungspolitik der Stadt Leipzig profitierte (ebd.: 148). Leipzig verfügt über eine Vielzahl an selbstorganisierten Wohnprojekten, von denen ein Anteil neben Volleigentum, Mietverträgen oder genossenschaftlichem Eigentum auch auf Erbbaurechten steht. Die Kollektivhäuser auf Erbbaurechten teilen sich auf in Wohnbauten auf öffentlichem Grund – auf Grundstücken der Stadt Leipzig sowie der kommunalen Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft mbH (LWB) – und auf Boden in der Hand privater Stiftungen (Netzwerk Leipziger Freiheit 2019: 5). Die städtische LWB verfügt über 33 laufende Erbbaurechte, die für 33 bis 99 Jahre ausgegeben wurden und bis mindestens 2045 laufen (LWB 2019: 38). Neben sozi- alen Zwecken (Kindertagesstätten oder Freizeiteinrichtungen o. ä.) wurden in den 1990er- und 2000er-Jahren vereinzelte Gründerzeitgebäude, die sich im Streube- sitz 5 der LWB befanden oder teils vor dem Abriss gerettet wurden, aufgekauft und im Erbbaurecht an Wohnprojekte und kleine Genossenschaften vergeben.
Diese Kollektivhäuser stießen einerseits, durch die von Schrumpfung und Abriss gekenn- zeichnete Stadt, auf große Kooperationsbereitschaft seitens der Kommune (Wiest u. a. 2017: 149f.). Andererseits handelte es sich bei den ersten Erbbaurechten um die geret- Cilia Lichtenberg 105 teten Altbauten der späteren Alternative Wohnungsgenossenschaft Connewitz (AWC), die in den 1990er-Jahren stark sanierungsbedürftige Gebäude durch Besetzungen vor dem Abriss retteten. Die Hausbesetzer*innen verfügten zum einen nicht über die Mittel, den Boden zu kaufen und das Erbbaurecht wurde zum anderen auch durch die Gemeinde als politisches Mittel zur Befriedung und Legalisierung der Wohnverhält- nisse eingesetzt (AWC 2004). In den letzten Jahren wurden keine weiteren Bestandsbauten im Erbbaurecht von der LWB an Kollektivgruppen vergeben, obwohl die LWB noch heute, in Zeiten von steigenden Mietpreisen und Wohnraumknappheit, über unsanierten, teils unbewohnten Streubesitz verfügt. Der Leipziger Stadtrat forderte daher jüngst eine erneute Erbbaurechtsvergabe von Streubesitz zur Schaffung bezahlbaren Wohn- raums, statt diesen abzureißen oder teuer zu sanieren (Julke 2020). Die Stadt Leipzig hat im Zuge der Erarbeitung des wohnungspolitischen Konzepts 2017 sowie eines Beschlusses des Stadtrats 2018 festgelegt, dass kommunale Grund- stücke für den Geschosswohnungsbau ausschließlich in Konzeptvergabe und im Erbbaurecht vergeben werden. Damit beendete Leipzig die kommunale Praxis der Höchstpreisvergabe von Boden (Deutscher Verband 2019: 21). Insgesamt verfügt die Kommune über acht Erbbaurechtsgrundstücke, die in den vergangenen fünf Jahren, teils gemeinsam mit der LWB, vergeben wurden.
Dabei vergibt Leipzig die Grund- stücke im Rahmen der Konzeptvergabe zum Festpreis (Verkehrswert) mit dem Ziel, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und insbesondere soziale Kriterien zu berück- sichtigen und im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung zu fördern (ebd.: 16). Einerseits durch den geringen Umfang, aber auch durch die Konzept- und Förder- bedingungen wie Neubau, soziale Wohnraumförderung, Barrierefreiheit oder den festgesetzten Verkehrswert spielen Neubauten auf kommunalen Erbbaurechtsgrund- stücken ad dato jedoch eine untergeordnete Rolle für die Kollektivhäuser in Leipzig. Zuschlag erhielten Baugemeinschaften, die über ausreichend Finanzmittel verfügen, geförderten Neubau zu errichten (Interview Bewohner*in 2020 6 ). Eine größere Rolle für die Kollektivhäuser in Leipzig spielten, insbesondere in den 1990er- und 2000er-Jahren, sanierungsbedürftige Bestandsbauten (Wiest u. a. 2016). Auch in Leipzig sind die Immobilienpreise in den vergangenen Jahren aufgrund von starkem Zuzug sowie einer steigenden Geburtenrate stark angestiegen (ebd.) und der Leerstand in der Stadt ist kontinuierlich geschrumpft. Dennoch sind Bestands- gebäude auf Erbbaurecht für selbstorganisierte Wohnprojekte auch heute noch inte- ressant. Aufgrund der hohen Immobilienpreise können sich die selbstorganisierten Gruppen die Wohnbauten nur mit Bankkrediten leisten, deren Einwerbung Zeit sowie gesicherter Einnahmen bedarf (Interview Bewohner*in 2020). In dieser Situation bieten sich private Stiftungen als Projektpartnerinnen an. Stif- tungen, die in Leipzig als Erbbaurechtsgeberinnen für Wohnprojekte auftreten, sind die Stiftung Edith Maryon 7 , die Stiftung trias sowie die entwicklungspolitische Stif- tung Nord-Süd-Brücken.
Die Stiftungen verfügen über ausreichend Stiftungskapital, um die Immobilien ohne zeitlichen Vorlauf kaufen zu können, und vergeben anschlie- ßend das Gebäude im Erbbaurecht an die Wohnprojekte. Das räumt den Gruppen die benötigte Zeit ein, nach dem Kauf durch die Stiftung Banken- sowie Direktkredite für die langfristige Finanzierung einzuwerben (Interview Bewohner*in 2020). Die Stiftungen unterstützen folglich einerseits die Finanzierung des Wohnbaus, indem sie die Kaufsumme sofort aufbringen können und anschließend nur die Kauf- summe des Gebäudes geliehen werden muss. Der Anteil für den Boden wird jähr- lich als Erbbauzins bezahlt und die Erbbauzinsraten können dabei an die Bedürfnisse Das Erbbaurecht als Beitrag zum gemeinschaftlichen Wohnbau in Deutschland 106 der Projekte angepasst werden, können zeitweise unter üblichen Zinssätzen liegen (Novy-Huy 2015a: 18) und sowohl als feste Erbbauzinsrate vereinbart werden als auch anteilig an den Einnahmen aus dem Erbbaurecht berechnet werden (Stiftung trias 2015: 53). Dadurch kann die übliche Orientierung am Bodenwert de facto umgangen werden und sich die Zinsraten an tatsächlichen Kosten und Erträgen orientieren. Denn für die Stiftung ist der reale Kaufpreis relevanter, da die Trennung des Werts in Gebäude und Boden zunächst fiktiv ist. Kommunen können hingegen ihre Grund- stücke, wie zuvor diskutiert, durch die Auflagen der Gemeinde- und Landesver- ordnungen nicht „unter Wert“ (Verkehrswert) vergeben oder veräußern. Lediglich im Rahmen sozialer Wohnraumförderung kann eine Unterwertvergabe stattfinden (Deutscher Bundestag 2019), die sich am Ertrag des Erbbaurechts orientieren könnte. Die Stadt München hat dies im Rahmen der Wohnraumförderung gelöst, indem sie die Grundstücke im Residualwertverfahren bewertet, das die Zielmiete und Kosten im Blick hat.
Den Erbbauzins koppelt die Landeshauptstadt an den Liegenschaftszins (Stupka 2018). Andererseits eint die Stiftungen und die Kollektivhäuser ein ähnliches politisches Ziel: sie wollen Grund und Boden der Spekulation entziehen und stabile Einkünfte zur Erfüllung ihrer gemeinnützigen Ziele sichern, weshalb sich der den Erbbauzinsen zugrundeliegende Bodenwert an den realen Preisen sowie der zukünftigen Nutzung orientiert. Zur Erfüllung ihrer Ziele nutzen die Stiftungen die Zweckbindung des Erbbaurechts, indem die Nutzung des Grundstücks im Erbbaurechtsvertrag festge- schrieben wird (Novy-Huy 2015a: 18f.). Die auf Erbbaurechten stehenden Kollektivhäuser in Leipzig gibt es erst seit wenigen Jahren, sodass noch keine Verträge ausgelaufen sind oder neu verhandelt werden mussten. Es bestand folglich noch nicht die Problematik der auslaufenden Erbbaurechtsverträge. Es ist üblich, eine zukünftige Kaufoption im Erbbaurechtsver- trag zu vereinbaren oder den Erbbauberechtigten ein Vorkaufsrecht für das Grund- stück zur vereinbarten Entschädigung einzuräumen (Stiftung trias 2015: 53). Es ist davon auszugehen, dass die politisch motivierten Stiftungen zu gleichen bzw. fairen Konditionen verlängern, um die Existenz der Projekte nicht zu gefährden – auch aus dem Grund, dass sie selbst kein Interesse daran haben dürften, die Gebäude neuen Nutzungen zuzuführen. Öffentliche Grundeigentümer*innen stehen an diesem Punkt wieder vor der Herausforderung, ihre Grundstücke nicht unter Wert vergeben zu dürfen, außer es findet eine erneute Förderung sozialer Belange statt. Die Entschädigung bei Beendigung des Vertrags von Wohnprojekten fällt mit üblicherweise rund zwei Drittel des Verkehrswerts vergleichsweise gering aus, bei schwierigen Immobilien wird teils eine noch geringere Summe vereinbart (Trias 2015: 21).
Ziel der Stiftung ist dabei nicht die finanzielle Bereicherung am Gebäude- wert, stattdessen soll das Erbbaurecht möglichst nicht beendet werden. Die Stiftung tritt hier als ,Kontrollinstanz‘ der eigens vereinbarten Zweckbestimmung auf und sichert so die politische Motivation der dauerhaften Entkopplung vom Markt der anfänglichen Projektgruppe (ebd.). 5. CONCLUSIO Aufgrund der Niedrigzinsphase stehen Erbbaurechte für viele Bauwillige nicht hoch im Kurs und auch Wohnprojekte argumentieren, dass es langfristig für sie günstiger wäre, den Boden zu kaufen, dadurch entstehe auch keine Abhängigkeit von Grund- eigentümer*innen (Deutscher Verband 2019: 33). Das Erbbaurecht macht es durch den Cilia Lichtenberg 107 anfänglichen Liquiditätsvorteil jedoch einfacher – oder überhaupt erst möglich – ein Wohnprojekt mit geringem Eigenkapital zu finanzieren (ebd. 39). Es verringert die Schulden und die Abhängigkeit von Bankkrediten. Der Erbbauzins kann ertragsba- siert vereinbart werden und wird dabei langfristig von der Wohngruppe getragen. Auf der anderen Seite ist es durch die Trennung von Grund und Boden für die Grundeigentümer*innen möglich, mithilfe des Erbbaurechts den Boden zu behalten und dennoch für eine gezielte Nutzung zu vergeben (ebd.: 34). Die Zweckbindung im Erbbaurechtsvertrag ermöglicht es, die Nutzung des Bodens festzuschreiben, sie kann für die Laufzeit des Erbbaurechtsvertrags die Bodenspekulation verhindern und trägt, trotz Nutzung der Privilegien privaten Eigentums, dem Allmende-Ge- danken Rechnung. Denn das Erbbaurecht ist ein Relikt aus Zeiten, als Grund und Boden noch als Allgemeingut verstanden und bewirtschaftet wurde. 1 Die Erbpacht darf nicht mit dem Erbbaurecht verwechselt werden, auch wenn die Begriffe fälschlicherweise umgangssprachlich synonym verwendet werden.
Die Erbpacht war Teil des mittelalterlichen Lehnswesens und wurde durch das BGB be- ziehungsweise später ErbbauVO und ErbbauRG abgeschafft. 2 Der Kapitalmarktzins, der Zins für langfristige Kredite, lag 2018 bei 0,4 Prozent (Österreichische Nationalbank 2018, zitiert nach Seemann u. a. 2019: 1448). 3 Der Hypothekenzins (der Zins für Darlehen bei zehnjähriger Zinsfestschreibung) lag 2017 bei durchschnittlich 1,4 Prozent pro Jahr und damit ebenfalls auf historisch niedrigem Niveau. Der Durchschnitt der letzten 20 Jahre lag bei vier Prozent (Verband deutscher Pfandbriefbanken 2018, zitiert nach Regionales Immobilien Journal 2018). 4 Kollektivhäuser ist eine Selbstbeschreibung der Leipziger Häuser, die weder Eigenheime noch andere klassische Selbstnutzungen sind, sondern von einer Gruppe gemeinsam und unbefristet besessen und verwaltet werden. Organisiert sind diese Häuser zum Teil, aber nicht zwangsläufig als Genossenschaft, auch die Organisation als Verein oder GmbH ist möglich. Sie vereint zudem eine Gleichberechtigung der Bewohner*innen, eine Nutzung, die nicht am Geld orientiert ist, und die Schaffung solidarischer Infra- und Unterstützungsstrukturen (Haus- und WagenRat 2012). 5 Streubesitz beschreibt einzelne Gebäude, insbesondere aus Restitutionsansprü- chen, die nicht ins Portfolio der LWB passten und daher verkauft wurden, da zusam- menhängende Gebäude und Blöcke sich günstiger bewirtschaften als Streubesitz. 6 Telefongespräch mit Bewohner*in eines Leipziger Kollektivhauses, geführt am 20.4.2020 von Cilia Lichtenberg. 7 Die Schweizer Stiftung Edith Maryon wird in Deutschland durch ihre 100 % Toch- tergesellschaft Terra Libra Immobilien GmbH vertreten. QUELLEN Alternative Wohngenossenschaft Connewitz e. G. (Hg.) 2004: Geschichtliches. https:// awc-eg.de/geschichtliches. Bernoulli, Hans 1949: Die Stadt und ihr Boden. Towns and the Land. 2. Auflage.
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Sabine Horlitz Strategien der Dekommodifizierung Zum transformativen Potenzial lokaler marktferner Eigentumsmodelle Gegenwärtig kann von einer Renaissance der Eigentumsfrage in der kritischen Stadtforschung gesprochen werden. Die vielfältigen Debatten – von der Boden- und Immobilienspekulation in urbanen Zentren über das Landgrabbing im Agrarsektor bis zur fortgesetzten Privatisierung und Inwertsetzung vormals öffentlicher Dienst- leistungen und Güter – schärfen den Blick auf Eigentum als gesellschaftlich trei- bende Kraft (Nuss: 2019, Zeller: 2004). Die damit verbundenen Fragen des Ein- bzw. Ausschlusses, der Verteilungsungerechtigkeiten und Verknappung von Ressourcen, aber auch die demokratietheoretischen Probleme, die eine Konzentration von Eigentum und ökonomischer Macht hervorrufen, sind zentrale Themen gegenwär- tiger stadtpolitischer Debatten. Das vermeintlich dingliche Eigentum zeigt sich hier, anders als im Alltagsverständnis, nicht als Sache oder Objekt, sondern als soziales Verhältnis, als – in den Worten des Rechtswissenschaftlers David Friedmann (2000) – ein Bündel von Rechten und Berechtigungen, das die Beziehungen und das Handeln zwischen Menschen, Institutionen und Gütern regelt. Das im Eigentumsrecht forma- lisierte soziale Verhältnis besteht jedoch nicht per se, sondern ist durch die Dyna- miken von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur bestimmt und als grundsätz- lich veränderbar zu denken. Im Kontext der gegenwärtigen Eigentumsdebatten gibt es eine Reihe verschie- dener Ansätze der Konzeptualisierung von Alternativen.
Diese reichen von der Analyse neuer Möglichkeiten der Profitbegrenzungen (beispielsweise durch eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit), der Forderung nach der Besteuerung (und damit der Umverteilung) sogenannter leistungsloser Gewinne aus der Schaffung von Planungs- und Baurecht über die Bestrebungen zur Rekommunalisierung vormals privatisierter Dienste und Liegenschaften bis zur Suche nach einem anderen theoretischen Rechts- und Eigentumsverständnis, beispielsweise in der Commonsforschung. 112 Zu dieser Suchbewegung möchte dieser Text mit der Analyse verschiedener nicht gewinnorientierter Eigentumsmodelle einen Beitrag leisten. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass eine dauerhafte soziale Orientierung von Grund und Boden sowie der darauf befindlichen Nutzungen nicht auf individueller Ebene möglich ist, sondern nur durch die Schaffung kollektiver marktferner Strukturen und entsprechender Sicherungs- bzw. Kontrollmechanismen erreicht werden kann. 1 1. MODELLE MARKTFERNEN EIGENTUMS Nicht gewinnorientierte Eigentumsmodelle funktionieren unter den gegenwärtigen Bedingungen eines kapitalistischen Marktes, beinhalten aber gleichzeitig Aspekte, die darüber hinausweisen. Ihr übergeordnetes Ziel ist es, die Erwirtschaftung von speku- lativem Profit zu unterbinden, um die von ihnen verwalteten Liegenschaften von einer Ware zu einem kollektiven Gut zu transformieren und so beispielhaft eine Alternative zur Dominanz des marktförmigen Bodeneigentums aufzubauen. Im Folgenden sollen mit den Bodenstiftungen, dem Verbund des Mietshäuser Syndikats und der Kulturland Genossenschaft drei beispielhafte Modelle einer dauerhaften Dekommodifizierung im Hinblick auf ihr Selbstverständnis, ihre Zielsetzungen sowie die entsprechenden rechtlich-organisatorischen Strukturen und Formen der (Selbst-) Verwaltung vorge- stellt und verglichen werden.
Diese zivilgesellschaftlichen, nicht gewinnorientierten Eigentumsmodelle sind nicht als antagonistisches Gegenmodell zum kommunalen Eigentum zu verstehen. Vielmehr kann eine Untersuchung ihrer Strukturen, ihres Selbstverständnisses und ihrer Funktionsweise für die derzeitigen stadtpolitischen Debatten zahlreiche Impulse und Anknüpfungspunkte liefern. Sie können zudem, im Sinne des Begriffs von Marianne Maeckelbergh (2011) als Präfiguration, als aktive Entwicklung und Vorwegnahme alternativer politischer Strukturen interpretiert werden, die es braucht, um die existierenden Macht- und Eigentumsverhältnisse zu transformieren. 1.1. BODENSTIFTUNGEN Im deutschsprachigen Raum gibt es eine Reihe von Stiftungen, die den Umgang mit Grund und Boden als zentrale stadt- und wohnungspolitische Kategorie identifiziert und Wege gefunden haben, diesen der spekulativen Verwertung zu entziehen. Damit wird ein wesentlicher preistreibender Faktor ausgeschlossen und es wird möglich, bezahlbaren Wohnraum sowie gewerbliche, soziale oder kulturelle Nutzungen zu realisieren und dauerhaft zu sichern. Zu den bekannteren Organisationen gehören die Schweizer Stiftung Edith Maryon und die deutsche Stiftung trias. Die 1990 gegrün- dete Stiftung Edith Maryon umfasst mittlerweile über 125 Projekte in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Ungarn und Frankreich. Sie besitzt ein Gesamtvermögen von 304 Millionen Franken, das sich aus einem Startkapital von lediglich 12.000 Franken entwickelt hat. 2 Die Stiftung trias wurde 2002 mit einem Grundstock von 75.000 Euro gegründet. Ihr Gesamtvermögen beträgt inzwischen ca. 21 Millionen Euro. Sie hat um die 40 Projekte realisiert und zahlreiche weitere Initiativen gefördert. 3 Beide Stiftungen, die bei einigen Projekten auch bereits Kooperationen einge- gangen sind, agieren als – im weitesten Sinne – gemeinwohlorientierte Bodenträger.
Sie erwerben Grundstücke (oder erhalten sie als Schenkung beziehungsweise Erbschaft) und vergeben diese mit den gegebenenfalls darauf befindlichen Gebäuden im Erbbaurecht, beziehungsweise wie es in Österreich und der Schweiz genannt Sabine Horlitz 113 wird, im Baurecht an gemeinschaftliche Projekte. Die Unverkäuflichkeit der Grund- stücke ist dabei in den jeweiligen Stiftungssatzungen festgeschrieben. Die Stiftungen entwickeln die Liegenschaften meist nicht selbst, sondern arbeiten mit Initiativen und Projekten zusammen, denen sie, wenn nötig, auch beratend zur Seite stehen, etwa für die Projektentwicklung, die Erarbeitung alternativer Rechtsformen und Finanzierungsmodelle oder die Konzeption von Selbstverwaltungsstrukturen. Auf den Grundstücken können Wohn- und Arbeitsprojekte, Gewerbeeinheiten oder auch soziale Einrichtungen realisiert werden. Die Nutzer*innen schließen zu diesem Zweck einen in der Regel auf 99 Jahre angelegten Erbbaurechtsvertrag mit der Stiftung ab und erhalten damit eigentumsgleiche Rechte in der Nutzung der Liegenschaft für die Dauer des Erbbaurechts. Sie zahlen dafür einen von der spekulativen Bodenpreis- entwicklung abgekoppelten Erbbauzins. Im Erbbaurechtsvertrag werden die Zielset- zungen des Projekts – etwa die Zusammensetzung der Nutzungen und ihre soziale Ausrichtung – auch über die Lebenszeit der anfänglich Beteiligten hinweg festge- schrieben. Die Stiftung agiert somit als Garantin der ideellen Ziele der Projekte und als Gegengewicht zu den sich möglicherweise ändernden Partikularinteressen der Nutzer*innen. Die im Aufbau befindliche Berliner Stadtbodenstiftung – an deren Errichtung die Autorin beteiligt ist – knüpft an die Struktur bestehender Bodenstiftungen an, führt aber Elemente des Community Organizing und eine basisdemokratische Besetzung ihrer Organe ein (siehe Abb 1).
Sie ist zudem durch einen lokalen Fokus auf Berlin und Umgebung gekennzeichnet. Die Stadtbodenstiftung ist vom angelsächsischen Modell des Community Land Trust (CLT) inspiriert. Sie versteht sich als Teil der internatio- nalen CLT-Bewegung und überträgt dieses Modell erstmals in den hiesigen Kontext und die hiesige Stiftungslandschaft. 4 Community Land Trusts sind demokratisch verwaltete, lokal verankerte, mitgliedsbasierte Organisationen. Alle Menschen, die im vom CLT als Nachbar- schaft definierten Gebiet wohnen sowie alle Nutzer*innen und zum Teil auch Unter- stützer*innen, können Mitglieder im CLT werden. Die Definition, was als Nachbar- schaft anzusehen ist, ist dabei Sache der einzelnen CLTs: Einige CLTs beziehen sich auf räumlich überschaubare innerstädtische Gebiete oder einen kleinen ländlichen Bezirk, andere umfassen ganze Städte bis hin zu Metropolregionen. Die Stadtboden- stiftung definiert ihren Handlungsraum zwar stadtweit, lässt die einzelnen Projekte ihre Nachbarschaften im Sinne ihres Wirkungs- und Einflussbereichs jedoch selbst bestimmen, besteht also aus einer Vielzahl kleinerer, sich in ihrer Anzahl dynamisch verändernder Nachbarschaften. Anders als die meisten selbstverwalteten Wohn- projekte weitet die Stadtbodenstiftung, dem Selbstverständnis der CLTs folgend, die Selbstverwaltungsstrukturen über die unmittelbaren Nutzer*innen hinaus aus. Da im deutschen Stiftungsrecht keine direkte Mitgliedschaft möglich ist, hat sie dafür das Stiftungskomitee als eigenständiges Organ vorgesehen. Dieses ist für alle an den Projekten Beteiligten, für Nachbar*innen und Stifter*innen offen und mit einer Mitgliederversammlung vergleichbar.
Ein wesentliches Kennzeichen des CLT-Modells ist zudem, dass sich das entscheidungsbefugte Organ – im angelsächsischen ist es das Board of Directors, bei der Stadtbodenstiftung das Kuratorium – aus Vertreter*innen der Nutzer*innen und der Nachbarschaft sowie aus Expert*innen und öffentlichen Personen zusammensetzt. Im Fall der Stadtbodenstiftung wählen die im Stiftungsko- mitee organisierten Nutzer*innen, Nachbar*innen sowie auch die Stifter*innen ihre Vertreter*innen ins Kuratorium. Die Expert*innen hingegen werden – je nach Bedarf – vom Kuratorium kooptiert. Die öffentliche Person wird durch öffentliche Körper- Das Erbbaurecht als Beitrag zum gemeinschaftlichen Wohnbau in Deutschland 114 Sabine Horlitz Mietshäuser Syndikat Gmbh Hausbesitz GmbH Hausprojekt 1 Verein der Hausbewohner*innen Gesell- schafter- vertrag Vereine der Hausprojekte 2 – 158 und Gruppen Einzel- personen Mietshäuser Syndikat Verein GESELLSCHAFTER 1 einziger Gesellschafter GESELLSCHAFTER 2 Vetorecht bei Verkauf Mitglied- schaft Projekte Stadtbodenstiftung Erbbau- rechts- vertrag Nachbar*innen Stifter*innen Öffentliche Personen Expert*innen ERBBAURECHTS- NEHMER*INNEN ERBBAURECHTS- GEBERIN regelt Nutzung von Gebäude und Boden Nutzer*innen Möglichkeit zur Mitbestimmung stellt Boden zur Verfügung Möglichkeit zur Mitbestimmung Möglichkeit zur Mitbestimmung Abb. 2: Strukturdiagramm Mietshäuser Syndikat. Infografik: Till Sperrle, CC BY-SA. Teilung des Eigentums in Gesellschafter 1 (Hausverein) und Gesellschafter 2 (Mietshäuser Syndikat GmbH); Sicherung der Ziele durch den Gesellschaftervertrag. Abb. 1: Strukturdiagramm Stadtbodenstiftung. Infografik: Till Sperrle, CC BY-SA. Trennung des Eigentums in Boden (Stiftung) und Gebäude (Projekte); Sicherung der Ziele durch einen Erb- baurechtsvertrag. 115 schaften, die die Stiftung finanziell unterstützen, entsendet.
Ziel ist, dass mit dem bis zu 13 Personen umfassenden Kuratorium, das über die Verwendung der Mittel ebenso wie über die Vergabe von Erbbaurechten entscheidet, unterschiedliche Sichtweisen in der Stiftung vertreten sind. So wird eine rechtlich-organisatorische Struktur geschaffen, die zwischen den Interessen der Erbbaurechtsnehmer*innen, den Ziel- setzungen der Stiftung sowie den Bedürfnissen der jeweiligen Nachbarschaften und der Öffentlichkeit vermittelt – eine Form von Verwaltung, die das Verständnis des gesellschaftlichen Charakters von Grund und Boden reflektiert. 1.2. DAS MIETSHÄUSER SYNDIKAT Das Mietshäuser Syndikat ist weniger aufgrund konzeptioneller Überlegungen zur Bodenfrage entstanden, sondern aus dem Kontext der Instandsetzungsbewegung der 1980er-Jahre hervorgegangen. Das Syndikat ist sowohl ein Netzwerk selbstor- ganisierter Hausprojekte als auch eine kollektive Eigentumsform. Es wurde 1992 in Freiburg gegründet und ist mittlerweile bundesweit aktiv. Als Organisation wie als rechtlicher Rahmen ist es eine Reaktion auf die oftmals desillusionierende Erfahrung, dass anfänglich idealistische, nicht profitorientierte Wohnprojekte (etwa ehemals besetzte Häuser oder Genossenschaften) im Laufe der Jahre von ihren Bewoh- ner*innen für Gewinn veräußert wurden oder nur noch einigen wenigen gehörten. In diesem Sinn besteht die zentrale Idee des Syndikats darin, einen Rahmen zu bieten, der sicherstellt, dass die jeweiligen Hausprojekte dauerhaft dem profitorientierten Markt entzogen werden. Um einen Ausverkauf kollektiven Eigentums dauerhaft unmöglich zu machen, entwarf das Syndikat eine sehr spezifische rechtlich-organisatorische Struktur.
Diese ist eine Adaption des einige Jahre zuvor vom Juristen Matthias Neuling erarbeiteten Vorschlags zur Verwendung der GmbH als Rechtsform für selbstverwaltete Betriebe und Projekte mit der Absicht der Kapitalneutralisation (Neuling: 1985). Auf das Modell Syndikat übersetzt heißt das: Die Bewohner*innen des Hauses sind nicht die allei- nigen Eigentümer*innen des Projekts. Dieses gehört vielmehr einer eigens zu diesem Zweck gegründeten Hausbesitz-GmbH. Diese GmbH setzt sich aus zwei Gesellschaf- tern zusammen: dem Verein der Hausbewohner*innen und der Mietshäuser Syndikat GmbH, der übergeordneten Dachorganisation. Letztere wiederum hat nur einen Gesellschafter, den Verein Mietshäuser Syndikat, in dem alle Hausprojekte Mitglied sind. Die Struktur des Syndikats ist im Grunde ein zirkuläres Modell, in dem die einzelnen GmbHs jedes Hausprojekts die Grundmodule der Gesamtstruktur bilden (siehe Abb. 2). Das Mietshäuser Syndikat als Gesamtorganisation ist ihre Verbindung. Mithilfe der Hausbesitz-GmbH wird letztlich sichergestellt, dass das Haus weder den Mieter*innen noch dem übergeordneten Syndikat gehört. Die Mieter*innen, als Hausverein organisiert, haben normale Mietverträge mit der Hausbesitz-GmbH und entscheiden im Rahmen des Vereins (als Gesellschafter 1) über alle das Projekt betreffenden Dinge von der Gestaltung bis zur Finanzierung. Die damit zum Ausdruck kommende Projektautonomie ist ein hoher Wert im Verbund des Syndikats. Die Miets- häuser Syndikat GmbH (als Gesellschafter 2) besitzt vor allem Kontrollfunktion. Sie hat ein Vetorecht im Falle eines angestrebten Verkaufs sowie bei Satzungsänderungen und garantiert so die langfristige Unverkäuflichkeit der Hausprojekte, unabhängig von eventuellen Verwertungsbestrebungen zukünftiger Mieter*innen.
Auf diese Weise wird eine eigentlich grundkapitalistische und gar nicht alternative Rechtsform Das Erbbaurecht als Beitrag zum gemeinschaftlichen Wohnbau in Deutschland 116 – die Gesellschaft mit beschränkter Haftung – zu einem Mittel der Auflösung indi- viduellen Eigentums. Durch seine Organisationsstruktur stellt das Syndikat sicher, dass die einzelnen Projekte nicht kapitalisiert werden können, sondern dauerhaft kollektives Eigentum bleiben. Gegenwärtig gibt es über 158 Hausprojekte im Verbund des Syndikats mit einer Gesamtinvestitionssumme von ca. 220 Millionen Euro. Mit habiTAT in Österreich und Vrijcoop in den Niederlanden werden zudem seit einigen Jahren auch außerhalb Deutschlands Organisationen verwirklicht, die nach dem Prinzip des Mietshäuser Syndikats funktionieren. 1.3. DIE KULTURLAND GENOSSENSCHAFT Die Kulturland eG versteht sich als Bodenträger für landwirtschaftliche Flächen. Sie soll hier als weiteres Beispiel vorgestellt werden, da sie eine sehr ausdifferenzierte und bisher wenig im Stadtforschungsdiskurs bekannte Struktur entwickelt hat. Nicht nur die städtischen Liegenschaften, auch der Grund und Boden im länd- lichen Raum ist schon lange zum Anlage- und Spekulationsobjekt geworden – inter- national, aber auch im deutschsprachigen Raum. Ein Landkauf lässt sich bei heutigen Preisen kaum aus Landwirtschaftserträgen amortisieren, sodass die meisten land- wirtschaftlichen Betriebe, und insbesondere die ökologisch wirtschaftenden, am Bodenmarkt nicht mithalten können. Hier setzt die Kulturland eG an. Sie versteht sich als Instrument zur gemein- schaftlichen Flächensicherung für regional eingebundene Biohöfe.
Die Kulturland eG fördert und ermöglicht regionale Beziehungsnetzwerke zwischen Höfen, ihrem Umkreis, ihren Partner*innen und den sie unterstützenden Genoss*innen und stellt so eine Grundlage für die regionale Lebensmittelversorgung als Gegenmodell zum globalisierten Agrarmarkt her. Voraussetzung dafür sind ein ,sozialer Umkreis‘ um den Hof und Menschen, die den Hof durch ihre Mitgliedschaft in der Kulturland eG unterstützen wollen. Die Kulturland eG kauft das Land mit Unterstützung der Genos- senschaftsbeiträge der die einzelnen Höfe fördernden Mitglieder und stellt es dem Hof dauerhaft und zu günstigen Konditionen mittels Pacht zur Verfügung. So entsteht ein neues Gemeinschaftseigentum an Grund und Boden, eine zeitgemäße Form der Allmende, mit der die Flächen für die Biobewirtschaftung auf Dauer gesichert werden. Die Kulturland eG stellt in diesem Modell die Dachorganisation dar. Die Genos- senschaft ist eine mitgliedsbasierte, demokratische Unternehmensform, die auf den Grundgedanken der Selbsthilfe und Selbstverwaltung beruht. Sie ist zudem durch das Identitätsprinzip gekennzeichnet – das heißt, alle Genoss*innen sind sowohl Eigentümer*innen als auch Kund*innen des Unternehmens. Die Kulturland eG sichert das Genossenschaftsmodell jedoch zusätzlich ab. Die einzelnen Hofprojekte – derzeit sind es deutschlandweit 13 Höfe und ebenso viele in Planung – befinden sich nicht im Eigentum der Genossenschaft, sondern im Eigentum einer eigens zu diesem Zweck gegründeten Kommanditgesellschaft (KG). Auf diese Weise soll eine Machtkonzentra- tion in der Hand der Genossenschaft verhindert werden, die als mitgliedergetragene Organisation immer auch die Möglichkeit der Rekommodifizierung mit sich bringt, wenn ausreichend viele Genoss*innen das Land veräußern wollen.
Die Kommanditgesellschaft (KG) hat sich im kaufmännischen Bereich entwickelt: Eine Person gibt einer anderen Geld, damit diese seine oder ihre Geschäfte führen kann. Sie tut dies in Form einer Beteiligung. Die geschäftsführende Person wird als Komplementär, die geldgebende als Kommanditist bezeichnet. Die Kulturland eG über- Sabine Horlitz 117 trägt diese Organisationsform auf die Landwirtschaft. Der landwirtschaftliche Betrieb ist der Komplementär, der mit den Flächen wirtschaften kann. Die Kulturland eG ist die Kommanditistin, die die nötigen finanziellen Mittel zum Landkauf über eine Beteiligung einbringt. Für jeden Hof wird eine eigene Boden KG gegründet, die grund- buchliche Eigentümer*in der landwirtschaftlichen Flächen wird. Zur Verwaltung und Bewirtschaftung der Boden KG werden zwei Verträge abgeschlossen, die zusammen ein Ganzes ergeben: Der Gesellschaftsvertrag zwischen den oben genannten Gesell- schafter*innen der Boden KG und der Nutzungsvertrag zwischen Kommanditgesell- schaft und bäuerlichem Betrieb. Ersterer regelt das Eigentum, letzterer regelt die Bewirtschaftung des Eigentums. Da der landwirtschaftliche Betrieb der geschäfts- führende Part der Boden KG ist und diese – mit Zustimmung der Kulturland eG – den Nutzungsvertrag abschließt, verpachtet der bzw. die Landwirt*in das Land sozusagen an sich selbst (siehe Abb. 3). Im Nutzungsvertrag sind die Bedingungen der Bewirtschaftung definiert: die Verpflichtung zur ökologischen Landwirtschaft, zum Vorhalten von mindestens zehn Prozent Naturschutzflächen sowie zur regi- onal eingebundenen Bewirtschaftung. Der Vertrag ist unbefristet und unkündbar, solange diese Bedingungen erfüllt sind. Werden die Bedingungen unterlaufen, kann er allerdings kurzfristig und einseitig durch die Kulturland eG gekündigt werden. So soll vor allem die langfristige Biobewirtschaftung der erworbenen Flächen sicher- gestellt werden.
Alle anderen Beschlüsse der Gesellschafter*innen – beispielsweise hinsichtlich des Kaufs zusätzlicher Grundstücke oder der Aufnahme von Darlehen – sind nur einvernehmlich möglich. Die Genossenschaft als Kommanditistin fungiert als Wächterorganisation, um zu gewährleisten, dass der Hof dauerhaft ökologisch und regional eingebunden wirtschaftet, hat aber ansonsten keine Mitspracherechte am Hof und in der Landwirtschaft. 2. VERZWEIGUNGEN, EFFEKTE UND ANKNÜPFUNGSPUNKTE Die vorgestellten Modelle sind nicht statisch, sondern entwickeln sich permanent weiter. Sie werden lokalen Bedürfnissen angepasst, verzweigen sich und gehen Kooperationen ein. Während die Projekte des Mietshäuser Syndikats beispiels- weise lange einen Kauf der Liegenschaften bevorzugten, gibt es mittlerweile auch Kooperationen mit den Stiftungen Edith Maryon und trias, in denen die Syndikats- projekte Erbbaurechtsnehmerinnen werden. Darüber hinaus arbeitet das Syndikat an der Errichtung einer eigenen gemeinnützigen Stiftung und der Konzeption eines Acker-Syndikats für selbstverwaltete landwirtschaftliche Betriebe. Von Seiten der Kulturland eG wiederum gibt es ebenfalls Interesse an den Strukturen des Syndikats- modells. Dieses kann zum Tragen kommen, wenn die Kulturland eG zunächst ganze Höfe übernimmt und die Gebäude im Anschluss von den Nutzer*innen erworben werden. Auch innerhalb der Bodenstiftungen gibt es Ausdifferenzierungen und Weiterentwicklungen – sei es durch die Bildungen weiterer Tochterunternehmen bei der Stiftung Edith Maryon oder durch die (temporäre) Ausübung der Treuhänderschaft wie bei der Stiftung trias, die auf diese Weise die Gründung der Stiftung Communia in Metzigen in der Anfangsphase unterstützte. 5 Die vorgestellten Eigentumsmodelle stehen also im Austausch miteinander.
Sie kooperieren und ergänzen sich gegenseitig, um trotz zum Teil widriger Umstände ihre Vorstellungen nicht warenförmiger Projekte in die Tat umzusetzen. Sie unter- brechen damit nicht nur den Spekulationskreislauf und schaffen Beispiele realer Alternativen, sondern helfen auch, eine andere Form des Wissens zu generieren Das Erbbaurecht als Beitrag zum gemeinschaftlichen Wohnbau in Deutschland 118 – einen Diskurs, der im konkreten Raum und dessen Problematik verankert ist. Im Folgenden sollen beispielhaft drei Aspekte und mögliche gesellschaftspoliti- sche Anknüpfungspunkte genauer dargestellt werden, die die vorgestellten Modelle als Impulsgeber einer nicht gewinnorientierten, solidarischen Stadtentwicklungs- politik erkennbar werden lassen. Sabine Horlitz 2.1. ZWEITEILIGES EIGENTUM – EXTERNE WÄCHTERFUNKTIONEN Alle drei Modelle sind durch eine zweiteilige Eigentumsstruktur gekennzeichnet. Im Fall des Mietshäuser Syndikats wie der Kulturland eG bildet die vertikale Trennung der jeweiligen Gesellschaft (GmbH bzw. KG) in zwei Partner*innen bei den Bodenstiftungen die horizontale Trennung zwischen Boden und Gebäuden die strukturelle Grundlage einer dauerhaften Unverkäuflichkeit. Dabei gehört ein Teil des Eigentums der juristi- schen Person des jeweiligen Projekts, der andere der übergeordneten Organisation als Zusammenschluss Vieler. Letztere ist mit einem Vetorecht im Fall eines möglichen Verkaufs bzw. des Zuwiderhandelns gegen vereinbarte Nutzungsregelungen ausge- stattet. Das Prinzip der zweiteiligen Eigentumsstruktur kann im Kontext der verstärkten Forderungen nach einer Rekommunalisierung privatisierter städtischer Dienste oder des veräußerten kommunalen Wohnbestands und der Suche nach möglichen neuen institutionellen Arrangements von großem Interesse sein.
Mithilfe der in die jeweiligen Strukturen fest eingebundenen, aber dennoch externen, unabhängigen Kontrollentitäten kann – insbesondere in Verbindung mit zivilgesellschaftlichen Entscheidungs- bzw. Selbstverwaltungsgremien – sichergestellt werden, dass das Kulturland eG Kulturland Boden KG Bewirtschafter*innen Unterstützer*innen aus dem Hofumfeld weitere Unterstützer*innen KOMPLEMENTÄR KOMMANDIST Gesell- schafter- vertrag stellt Kapital für Landkauf zur Verfügung regelt das Eigentum Mitglied- schaft Nutzungs- vertrag regelt Bewirt- schaftung des Eigentums werden Genoss*innen stellt Land für Bewirtschaftung zur Verfügung Abb. 3: Strukturdiagramm Kulturland Genossenschaft. Infografik: Till Sperrle, CC BY-SA. Teilung des Eigentums in Komplementär (Bewirtschafter*innen) und Kommandist (Kulturland eG); Siche- rung der Ziele durch einen Gesellschafter-und einen Nutzungsvertrag. 119 rekommunalisierte Eigentum auch langfristig nicht wieder veräußert und demokra- tisch verwaltet wird. 2.2. LOKALITÄT, NACHBARSCHAFT UND DIREKTE TEILHABE Allen drei Modellen ist ein Fokus auf lokale Projekte bei gleichzeitiger nachbar- schaftlicher oder regionaler Vernetzung und Teilhabe zu eigen. Dies zeigt sich auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlicher Intensität: von der Einbeziehung von Menschen aus der Umgebung in die Finanzierung der Projekte, über die Auffor- derungen zu regionalem bzw. nachbarschaftlichem Handeln bis zur Einbeziehung von Vertreter*innen der Nachbarschaft und Öffentlichkeit in die jeweiligen Entschei- dungsstrukturen. Die Kulturland eG und die Stadtbodenstiftung beispielsweise zielen explizit darauf ab, dass Menschen aus dem Kreis der Unterstützer*innen beziehungs- weise der Umgebung der Projekte – als Genoss*innen beziehungsweise Mitglieder der Stiftungsorgane – sich an den Strukturen der jeweiligen Organisationen betei- ligen.
Darüber hinaus werden die einzelnen Projekte zu einer langfristigen Bezie- hungspflege zu ihrem Umfeld angehalten. Die Kulturland eG fordert qua Nutzungsver- trag die jährliche Umsetzung von mindestens zwei von sechs möglichen Aktivitäten zur regionalen Vernetzung von Hof, Kund*innen und Unterstützer*innen. 6 Die Stadtbodenstiftung zielt auf eine nachbarschaftsbasierte Projektentwicklung sowie die Organisation von Nachbarschaftsversammlungen. In beiden Fällen geht es um eine starke lokale Einbindung und Kontextualisie- rung der Projekte und das Experimentieren mit Strukturen der Selbstverwaltung und direkter Mitsprache. Die entsprechenden Nutzungen – vom Wohnen bis zur landwirt- schaftlichen Produktion – werden dabei als über die unmittelbaren Nutzer*innen hinausgehende nachbarschaftliche bzw. gesellschaftliche Aufgabe begriffen. Die vorgestellten Modelle legen damit die Grundlage für ein sehr weitgehendes Verständnis von Mitspracherecht und Teilhabe, das in den gegenwärtigen stadt- politischen Debatten zu zivilgesellschaftlicher Teilhabe und der ,kooperativen Stadt‘ zahlreiche Impulse liefern kann. 2.3. BESITZ UND GEBRAUCH ALS ALTERNATIVEN ZUM EIGENTUM Das in allen vorgestellten Modellen verankerte Prinzip der Nichtveräußerbarkeit steht dem modernen Eigentumsverständnis entgegen. Im Vordergrund steht nicht das handel- bare Eigentum – dieses wird durch die dargelegten Strukturen gewissermaßen neut- ralisiert – sondern der Besitz und der Gebrauch der Liegenschaften. Die Kulturland eG beispielsweise sieht sich als Gegenpol zu den „zunehmend feudalen Verhältnissen“, indem sie Gemeinschaftseigentum vieler Menschen an Boden ermöglicht.
Hier, wie auch in den expliziten Bezügen der Bodenstiftungen zur Allmende (Stiftung trias) oder dem Recht auf Stadt (Stadtbodenstiftung) zeigt sich die Nähe nicht gewinnorien- tierter Eigentumsmodelle zu den Commons-Debatten und einem wachsenden Inter- esse an gewohnheitsrechtlichen Praktiken und Fragen des Gebrauchsrechts (Wiley: 2017). Die Bestrebungen, Eigentum und Besitz anders als konkurrierend zu denken und gemeinschaftliche Nutzungen anstelle des Grundsatzes der individuellen, wett- bewerbsorientierten Handelbarkeit ins Zentrum der Eigentumsfrage zu rücken, erschließen alternative Konzeptionsmöglichkeiten für eines der Schlüsselthemen der Stadtforschung. Silke Helfrich (2019: 72) hat in diesem Zusammenhang den Begriff des „beziehungshaften Habens“ geprägt. Die dargestellten, nicht gewinnorientierten Das Erbbaurecht als Beitrag zum gemeinschaftlichen Wohnbau in Deutschland 120 Eigentumsmodelle können als erste Schritte auf dem Weg zu einem zeitgemäßen Bodenrecht verstanden werden, das die Möglichkeit der Nutzung an bestimmte Kriterien bindet, Verkauf, Vererbung und Spekulation zur Vermögensbildung jedoch ausschließt. 3. PRÄFIGURATION ALS VORWEGNAHME GESELLSCHAFTSPOLITISCHER VERÄNDERUNGEN Auch wenn die vorgestellten Modelle quantitativ nicht in der Lage sind, die Wohnungs- oder Bodenfrage zu lösen, überschreitet ihre Wirkung den rein pragmatischen Wert und geht über das einzelne Projekt hinaus. Sie erbringen gewissermaßen den Beweis, dass marktfernes Handeln möglich ist und zeigen Mechanismen der Bereitstellung und Sicherung nicht spekulativen, kollektiven Eigentums auf, mit denen Wohnraum und andere Nutzungen auf der Grundlage von Bedürfnissen (und nicht auf der Grund- lage der Profitmaximierung) hergestellt, demokratisch verwaltet und dauerhaft gesi- chert werden können.
Diese Form des Handelns kann im Sinne von Marianne Maeckelbergh (2011) als „präfigurative Politik“ beschrieben werden. Oder anders gesagt: Die Modelle und Projekte stellen – im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten – Vorwegnahmen der angestrebten politischen Veränderungen dar. Präfiguration beinhaltet das Experi- mentieren mit vielfältigen Möglichkeiten von Anstößen für gesellschaftliche Verän- derung. Das Leitbild der Kulturland eG bringt das beispielhaft zum Ausdruck. Diese versteht ihre Arbeit als „lokale Antwort auf unsere globale Krise, den besonderen Umgang mit Geld und Eigentum als Anfang einer neuen gesellschaftlichen Entwick- lung hin zu neuen Sozial- und Eigentumsformen“. 7 Präfigurative Politik hebt in diesem Sinn die traditionelle Unterscheidung zwischen Mittel und Zweck des politi- schen Handelns auf und konzentriert die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit, Verän- derungen in der Gegenwart zu verwirklichen und einen demokratischen Prozess in Gang zu setzen, in dem die Form den Zielen bereits (möglichst) entspricht. 1 Dies gilt für privates ebenso wie für staatliches Eigentum. Muss privates Eigen- tum – den Fall der ,guten Investor*innen‘ angenommen, die für ihre Mieter*innen philanthropisch nur das Beste möchten – vor der unweigerlich eintretenden Erbfolge und dem dann oftmals folgenden Ausverkauf geschützt werden, ist es beim staat- lichen Eigentum eine mögliche (erneute) Privatisierung, die es zu verhindern gilt. 2 Siehe Jahresbericht 2019, https://maryon.ch/v2/wp-content/uploads/SEM_ JB_2019_web.pdf. Die Stiftung Edith Maryon wird in diesem Beitrag vereinfachend als ein einzelnes Unternehmen dargestellt. Tatsächlich verwirklicht die Stiftung ihre Projekte mittlerwei- le aber mithilfe ihrer fünf Tochterunternehmen in Berlin und Basel. Diese sind hundert- prozentige Töchter der gemeinnützigen Stiftung und denselben Prinzipien und Zielen verpflichtet.
Mehr dazu unter: https://maryon.ch/stiftung/tochterunternehmen. 3 Siehe Tätigkeitsbericht 2019, https://www.stiftung-trias.de/fileadmin/media/down loads/2019_trias_taetigkeitsbericht.pdf. 4 Community Land Trusts (CLTs) sind in den 1970er-Jahren im Kontext der Bürger- rechtsbewegung im ländlichen Süden der USA entstanden. Mittlerweile gibt es hunder- te von Community Land Trusts, vor allem in den USA und Großbritannien, aber auch in Brüssel, Lille und Gent haben sich CLTs gegründet. Mit dem European Community Land Trust Network und dem von der EU geförderten Projekt Sustainable Housing for Inclusive and Cohesive Cities (SHICC) soll zudem die europäische CLT-Bewegung Sabine Horlitz 121 vorangebracht werden. Zur umfassenden Einführung in das CLT-Modell siehe z. B. Davis (2010), Marcuse (2013) sowie zur Einführung auf Deutsch Horlitz (2019). 5 Die Stiftung trias hat die Arbeit der Communia in der Anfangsphase mit dem Ziel treuhänderisch begleitet, dass diese nach drei Jahren selbständig wird. Die Stiftung Communia hat sich dann jedoch gegen die Selbständigkeit entschieden und aufgelöst. Für das von ihr akquirierte Stiftungskapital wurde ein Sondervermögen bei der Stiftung trias eingerichtet, mit dem bezahlbarer Wohnraum in Metzingen gefördert wird. 6 Die sechs möglichen Aktivitäten sind: offener Hof, regionale Vermarktung, pädago- gische Arbeit, Sortenerhalt, Kulturveranstaltungen, Arbeit mit Betreuten. 7 https://www.kulturland.de/de/leitbild. QUELLEN Davis, John Emmeus 2010: The Community Land Trust Reader. Cambridge, Mass.: Lincoln Institute of Land Policy. Friedman, David D. 2000: Law’s Order: What Economics Has to Do with Law and Why It Matters. Princeton: Princeton University Press. Helfrich, Silke; Bollier, David 2019: Frei, fair und lebendig – Die Macht der Commons. Bie- lefeld: transcript.
Horlitz, Sabine 2019: Community Land Trusts: Nachbarschaftliche Selbstverwaltung gegen Bodenspekulation und Verdrängung. In: Gerber, Brigitta; Kriese, Ulrich (Hg.): Boden behalten – Stadt gestalten. Zürich: Rüffer & Rub, S. 105–114. Maeckelbergh, Marianne 2011: Doing is Believing: Prefiguration as Strategic Practice in the Alterglobalization Movement. In: Social Movement Studies 10/1, S. 1–20. Marcuse, Peter 2013: Community Land Trusts: Empty, Moderate, and Full-bodied. In: Blog #53. https://pmarcuse.wordpress.com/2013/10/16/blog-38-community-lnd-trusts- empty-moderate-and-full-bodied. Neuling, Matthias 1985: Auf fremden Pfaden: Ein Leitfaden der Rechtsformen für selbstver- waltete Betriebe und Projekte. Berlin: Stattbuch. Nuss, Sabine 2019: Keine Enteignung ist auch keine Lösung. Die große Wiederaneignung und das vergiftete Versprechen des Privateigentums. Berlin: Karl Dietz. Wiley, Liz Alden 2017: Customary tenure: remaking property for the 21st century. In: Graziadei, Michele; Smith, Lionel (Hg.): Comparative Property Law. Global Perspectives. Cheltenham/Northampton: Edward Elgar, S. 458–478. Zeller, Christian 2004: Die globale Enteignungsökonomie. Münster: Westfälisches Dampf- boot. Weitere Informationen: Stiftung Edith Maryon: https://maryon.ch/ Stiftung trias: https://www.stiftung-trias.de/ Stadtbodenstiftung: https://stadtbodenstiftung.de/ Mietshäuser Syndikat: https://www.syndikat.org habiTAT (Österreich): http://habitat.servus.at Vrijcoop (Niederlande): https://vrijcoop.org/ Kulturland Genossenschaft: https://www.kulturland.de Das Erbbaurecht als Beitrag zum gemeinschaftlichen Wohnbau in Deutschland 122 Sabine Horlitz SABINE HORLITZ Sabine Horlitz ist Architektin und Stadtforscherin.
Ihre Schwerpunkte liegen in der kritischen Stadtforschung und politischen Ökonomie der Stadt, mit besonderem Interesse für Wohnungsbau und nicht gewinnorientierte Eigentumsmodelle. Zur- zeit forscht sie u. a. zu Community Land Trusts sowie zu Modellen kollektiven Land- besitzes. Sabine Horlitz ist Teil der Initiative zur Gründung der vom CLT-Modell in- spirierten Berliner Stadtbodenstiftung und Mitglied des zukünftigen Vorstands. Die diesem Beitrag zugrundeliegende Forschung zu Land als Gemeinschaftsbesitz wurde von der VolkswagenStiftung im Rahmen ihrer Inititative „Originalitätsverdacht?“ gefördert. 123 125 https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_10 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. Larisa Tsvetkova Vielfalt der gemeinwohl- orientierten Projekte: Fluch und Segen Viel interessanter als ein Haufen Gleichgesinnter ist doch eine Gemeinschaft von Ungleichgesinnten. ― Oya 1. GEMEINWOHLORIENTIERUNG, AUS DER NOT HERAUS Als Gegenentwurf zur profitorientierten Immobilienentwicklung haben sich in den vergangenen Jahrzehnten vielfältige Initiativen entwickelt. Selbstorganisierte Räume für Kultur, Bildung, Produktion, Arbeiten und Wohnen entstehen überall. Vermutlich in jeder größeren Stadt Deutschlands gibt es sie: Kunsträume in verlassenen Indus- triegebäuden, Kultur- und Nachbarschaftszentren auf ehemaligen Fabrikgeländen, gemeinschaftliche Wohnprojekte in alten Krankenhaus- und Kasernenkomplexen. Aber auch in kleinen Städten und im ländlichen Raum sind diese Projekte bundes- weit sichtbar. Treffpunkte für die Nachbarschaft werden in ehemaligen Gewerbe- räumen eröffnet, Start-ups bespielen leerstehende Höfe, Dorfläden und Freibäder werden von den Bewohner*innen übernommen und verwaltet.
Auch die selbstorga- nisierten Wohnprojekte werden immer zahlreicher: sie entstehen in alten und neuen Quartieren, übernehmen Baulücken und schwer vermarktbare Grundstücke, bauen Passivhäuser und sanieren denkmalgeschützte Gebäude, bespielen Erdgeschoss- zonen mit Räumen für ihre Gemeinschaft und die Nachbarschaft. Dabei entwickeln die selbstorganisierten Initiativen Lösungen für die Heraus- forderungen vor Ort. Wo die Spekulation auf dem Immobilienmarkt den Zugang zu Grundstücken und Wohnraum erschwert, werden Häuser dem Markt entzogen und Mieten bezahlbar gehalten. In Orten, wo der Leerstand die bauliche und soziale Struktur gefährdet, entstehen Strategien zur Nachverdichtung, Umnutzung und Wiederbelebung von Räumen. Diese zahlreichen Projekte reagieren auf die Symp- 126 tome einer umfassenden Transformation, die bereits jetzt drastische Folgen wie Gent- rifizierung, Wohnungsnot und Segregation zeigt und aller Voraussicht nach weitere Auswirkungen in der Zukunft zeigen wird. Im Zuge der weitreichenden Liberalisie- rung der Finanzmärkte wurden Immobilien zu Finanzprodukten, die überwiegend im Sinne der Rendite und nicht im Sinne des Gebrauchswerts dienen (vgl. Heeg 2013: 6). Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts erreichten die Aufwertung und Verwertung von Immobilien auf dem globalisierten Markt ein bis dahin unbekanntes Ausmaß und wurden zum alltäglichen Bestandteil der weltweiten Stadtentwicklung (vgl. Sassen 2018). Nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte im Jahr 2008 nahmen die Trans- aktionen erneut zu, wobei insbesondere deutsche Wohnimmobilien anfangs als unterbewertet sowie profitabel und später als vornehmlich sicher galten (vgl. Heeg 2013: 13, Heeg 2017: 48).
Der seit über zehn Jahren anhaltende und auch künftig wahr- scheinliche Anstieg der Immobilien- und Mietpreise hat dazu geführt, dass Renditen im deutschen Immobilienmarkt attraktiver als die stetig schwankenden Aktiendivi- denden auf dem Finanzmarkt wurden, was sich in den aktuellen und kommenden Krisenzeiten womöglich verschärft (vgl. Möbert/Schneider 2019: 8f.). Als Reaktion auf die spekulative Stadtentwicklung und ihre Folgen entstanden Protestbewegungen, die sich häufig auf Henri Lefebvres Forderung nach einem „Recht auf Stadt“ berufen, wie Christoph Schäfer in dem Vorwort zu der deutschen Ausgabe des gleichnamigen Buchs betont: „Die Verhältnisse haben zu Lefebvres Schriften aufgeschlossen. Die Situation in den Städten hat sich zugespitzt, der Verwertungs- druck nimmt zu, die Warenform erfasst das ganze Leben – und vielfältige widerstän- dige Praxen treten dem entgegen“ (2016: 8). Der Mehrwert nicht im Sinne des kommerziellen Gewinns, sondern im Sinne des Gewinns für das Stadtleben und die Stadtgesellschaft, den die „Recht auf Stadt“-Be- wegung fordert, ist mittlerweile ein fester Bestandteil des internationalen Stadtent- wicklungs-Diskurses (vgl. Schäfer 2016: 7f.). So werden in den stadtpolitischen Diskus- sionen und Publikationen der letzten Jahre die Begriffe „commons“ und „Gemeingut“, „common good“ und „Gemeinwohl“ in Bezug auf die Stadtentwicklung im Sinne der Allgemeinheit vermehrt verwendet (vgl. Pelger/Kaspar/Stollmann 2016; Stavrides/ Heyden 2017). Die genaue Definition von Gemeinwohl variiert dabei, sie bleibt oft diffus und manchmal, insbesondere bei Fachkonferenzen, gar undefiniert. Eike Bohlken unterscheidet in seinem zweistufigen Konzept des Gemeinwohls zwischen basalen (existenznotwendigen) und melioren (nicht existenznotwendigen, aber für ein gutes Leben wichtigen) Gemeinwohlgütern.
Zu Gemeingütern, die für das Überleben und ein menschenwürdiges Leben unverzichtbar sind, zählt er beispiels- weise Wasser, Nahrungsmittel oder Wohnraum. Zu den nicht existenznotwendigen materiellen und immateriellen Gemeingütern, deren Vorhandensein das Leben jedoch erst lebenswert macht, können kulturelle Räume, die Teilhabe am städti- schen Leben oder der Zugang zu bestimmten Wohnformen verstanden werden. Ob solche melioren Güter als Gemeingüter bereitgestellt werden sollen, sieht Bohlken als politischen Aushandlungsprozess. Folglich ist ein „Recht auf Stadt“ ein meliores Gemeingut, das eine politische Diskussion und Auseinandersetzung voraussetzt, um anerkannt und gegebenenfalls gesetzlich verankert zu werden (vgl. Bohlken, 2018: 10–14). Demnach kann eine Gemeinwohlorientierung unterschiedliche Ausrichtungen annehmen, die sich mit den stadtpolitischen Rahmenbedingungen und Aushand- lungsprozessen verändern. In diesem Kontext sind die Forderungen im Sinne des „Rechts auf Stadt“ notwendig, um den Anspruch auf die Erfüllung eines Bündels Larisa Tsvetkova 127 fundamentaler menschlicher Grundbedürfnisse wie Kreativität, Begegnung und Austausch erheben zu können (vgl. Lefebvre 2016 (1986): 149). So formulieren Initi- ativen, die sich als Teil dieser Bewegung verstehen, ihre eigenen Definitionen von Gemeinwohl durch die Zielsetzung und Ausrichtung ihrer Proteste und Projekte (siehe Abb. 1). Der Begriff Gemeinwohlorientierung ist diffus, er klingt für die einen erfrischend und für andere abgenutzt, er stößt auf Zustimmung und Ablehnung, er inspiriert und irritiert. Jenseits dieser Diffusität ermöglicht er jedoch eines: über eine Projektland- schaft als Ganzes zu sprechen, deren Vielfältigkeit und Kleinteiligkeit gleichzeitig eine besondere Stärke und eine besondere Schwäche sind. 2.
ALLE GLEICH UNTERSCHIEDLICH Soziale Bewegungen und Initiativen, die auf Folgen der Finanzialisierung und Neoli- beralisierung der Stadt reagieren und sich dem „Recht auf Stadt“ oder der gemein- wohlorientierten Immobilienentwicklung verschreiben, haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Jedoch identifizieren sie sich durch unterschiedliche Ansätze, da sie im Kontext von bestimmten städtischen und sozialen Krisen agieren und ihre widerständigen Praxen für bestimmte Gruppen und aus bestimmen Gruppen heraus gestalten. Autonome linke Organisationen kämpfen für radikal alternative Rahmen- bedingungen, kreative Milieus sowie Künstler*innen treten für ihre (Frei-) Räume ein, die urbane Mittelschicht verteidigt ihren Lebensstil, Umweltaktivist*innen streben ökologische Gerechtigkeit an und Vertreter*innen marginalisierter Gruppen machen sich für Gleichberechtigung stark. Differenzen zwischen gemeinwohlorientierten Initiativen werden nicht nur durch ihre grundsätzlich verschiedenen Ausrichtungen, sondern auch durch ihre unterschiedlichen Positionen in der neoliberalen Stadtent- wicklung begünstigt. Projekte, die zur Attraktivität der Städte für den Tourismus und Investitionen beitragen, können in Stadtmarketing-Strategien und Aufwertungspro- zesse integriert werden. Folglich haben sie eine höhere Chance auf Unterstützung, beispielsweise durch Förderprogramme und Nutzungsrechte. Kommt der durch die Initiativen geschaffene Mehrwert dem privaten Immobilienmarkt und spekulativen Immobilienentwickler*innen zugute, entstehen ambivalente Situationen und Wider- sprüche innerhalb der Projekte und innerhalb der Szene (vgl. Mayer 2013: 162f.). Dass die Szene gemeinwohlorientierter Projekte zersplittert ist, liegt demnach in der Natur der städtischen sozialen Bewegungen.
Die Landschaft der Wohnprojekte zeichnet sich durch eine Vielfalt der Ansätze aus, wobei das Verhältnis zum Eigentum besonders identitätsstiftend ist. Als Reaktion auf den Massenwohnungsbau der 1960er- und 70er-Jahre und die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände der 2000er-Jahre in Deutschland gründeten sich vielfältige selbstorganisierte Initiativen, die alternative Trägermodelle und andere Architekturen entwickeln (vgl. Laimer 2020: 294f.). Beispielsweise entstand das Mietshäuser Syndikat in den 1980er-Jahren aus der Hausbesetzer*innenbewegung. Es versteht sich bis heute als Gegenent- wurf zu individuellem Privateigentum und spekulativer Projektentwicklung, indem es Häuser dem Immobilienmarkt entzieht (vgl. Burghardt/Schönberg 2017: 185). Durch ein dafür entwickeltes Rechtskonstrukt entstand ein Instrument zur dauer- haften Sicherung bezahlbaren Wohnraums im Gemeinschaftseigentum, das zurzeit in Deutschland und Österreich, im Bestand und im Neubau vermehrt zum Einsatz kommt. Im Gegensatz dazu befürworteten Wohnungseigentümergemeinschaften – in Deutschland oft Baugruppen genannt – nicht gemeinschaftliches, sondern indi- Vielfalt der gemeinwohlorientierten Projekte: Fluch und Segen 128 viduelles Eigentum in Selbstbau als Antwort auf die Missstände der Wohnpolitik der 1970er- bis 1980er-Jahre (vgl. Ring 2019: 2). Die heutigen Baugruppen schaffen Wohnraum vorwiegend für Familien in Neubauprojekten und zeichnen sich häufig durch besondere architektonische Qualitäten aus, indem sie kreative Lösungen für ,schwierige‘ Grundstücke finden, Räume für die Hausgemeinschaft und kleinteiliges Gewerbe errichten oder innovative Grundrisse und Baumaterialien erproben (vgl. Ring 2019: 3). Gegenpole in der Wohnprojekte-Szene wie das Mietshäuser Syndikat und Baugruppen trennt vieles: sie haben verschiedene Schwerpunkte und wenden gänz- lich unterschiedliche Rechtsformen an.
Eines jedoch haben sie gemeinsam: Sie verstehen ihre Immobilien nicht als Finanzobjekte, sondern als Häuser zum Leben. Das tun auch zahlreiche weitere Initiativen mit unterschiedlichen Rechtsformen und verschiedenen Positionen zum Eigentum. Beispielsweise schaffen Genossen- schaften Gemeinschaftseigentum und sind je nach Organisations- und Finanzie- rungsart unterschiedlich nah an Verhältnissen einer Eigentümergemeinschaft oder eines Syndikats. So unterscheiden sich Häuser mit wenigen Parteien und einem hohen Genossenschaftsanteil von den Genossenschaften mit hunderten Mitglie- dern und einem geringen finanziellen Beitrag erheblich. Eine andere, für Gruppen mit wenig Eigenkapital geeignete Organisationsform sind Vereine, die in Koopera- tion mit konventionellen Trägern ihr Projekt umsetzen und später als Mieter*innen gemeinsam wohnen. Unabhängig von der Rechtsform des Hauses haben Projekte, die ihr Grundstück in einem Erbbauvertrag mit einer Kommune oder Stiftung nutzen, ein anderes Verhältnis zu Spekulation als Eigentümer*innen von Grundstücken. Des Weiteren entstehen vermehrt Projekte, die verschiedene Eigentumsformen in einem Haus kombinieren. Spätestens bei gemischten Konzepten mit mehreren Träger*innen und Eigentümer*innen werden die Zusammenhänge der Rechtsformen und der Gemeinwohlorientierung komplex. Sicherlich ist nicht nur die Rechtsform alleine, sondern auch die konzeptionelle Ausrichtung der Projekte für ihre Identität im Sinne des Gemeinwohls relevant. Zahl- reiche Wohnprojekte, die einen Beitrag zur Gemeinwohlorientierung schaffen wollen, setzen ihre Schwerpunkte unterschiedlich.
Sie können sich auf einzelne Schwer- punkte konzentrieren oder mehrere Ziele kombinieren, wie Bezahlbarkeit und archi- tektonische Qualität, ökologisches Bauen und Barrierefreiheit, Gemeinschaftlichkeit und Mehrwert für die Nachbarschaft, Nutzungsmischung im Gebäude und soziale Mischung im Projekt, maßgeschneiderte Planung und Anpassbarkeit. Nicht selten gelingen dadurch innovative Konzepte, jedoch lassen sich selbst bei anspruchsvollen Projekten immer einzelne Punkte kritisieren. Wer ökologisch, gemeinschaftlich und selbstfinanziert baut, wird durch hohe Beteiligungskosten als elitär wahrgenommen und wird auch eventuell die Dominanz gut situierter Haushalte feststellen müssen, wie beispielsweise bei der Spreefeld Genossenschaft in Berlin. Wer ein maßgeschnei- dertes Haus im individuellen Eigentum gebaut hat, wird später vielleicht feststellen, dass die Grundrisse nach wenigen Jahren für die älter gewordene Bewohner*innen- schaft nicht mehr geeignet sind und die Wohnungen auf dem freien Markt veräußert werden, wie es sich wahrscheinlich bei der Baugruppe Am Urban in Berlin vermehrt zeigen wird. Wer durch Selbstbau und entsprechende Rechtsform Bezahlbarkeit auf Dauer gesichert hat, wird nach einigen Jahren womöglich beobachten, dass einige Bewohner*innen nach Wegzug der Kinder in großen Wohnungen allein leben und damit einen hohen Flächenkonsum erzeugen, wie es im Projekt WohnSinn in Darm- stadt der Fall ist und in einigen Projekten im Laufe der Zeit vorkommt. Jedes Projekt Larisa Tsvetkova 129 Vielfalt der gemeinwohlorientierten Projekte: Fluch und Segen verfügt über Stärken und Schwächen, denn das Schaffen besonderer Qualitäten wie hochwertige Architektur, dauerhaft bezahlbarer Wohnraum oder eine selbstverwal- tende Hausgemeinschaft hat seinen Wert und auch seinen Preis.
Darüber hinaus müssen Projekte häufig in der Planungs- und Bauphase oder gar im Laufe des Zusammenlebens auf einige der konzeptionellen Absichten zugunsten der Bezahlbarkeit verzichten. Allerdings können sich weitere Qualitäten über die ursprünglichen Konzepte hinaus entfalten, indem informelle Strukturen in den Haus- gemeinschaften erst im Prozess des Zusammenlebens entstehen. So hat die Spreefeld Genossenschaft die vorgesehene „inklusive Etage“ mit WGs für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung nicht realisieren können. Jedoch kamen im Laufe der Zeit weitere Ideen zur Umsetzung: Beispielsweise wurden einzelne Gemeinschaftsräume temporär als Wohnungen für Geflüchtete genutzt, und die Holzwerkstatt in einem der Optionsräume wurde an einen Inklusionsbetrieb vermietet (vgl. LaFond/Tsvetkova/ id22: Institut für Kreative Nachhaltigkeit 2017). Die Verwirklichung der Gemeinwohlorientierung lässt sich im Laufe der Konzep- tion, der Umsetzung und des Zusammenlebens in unterschiedlicher Weise und mit verschiedenen Rechtsformen verwirklichen. Auch wenn das Verhältnis zur Spekula- tion unbestreitbar wichtig ist, erscheinen konzeptionelle Qualitäten im Kontext der Gemeinwohlorientierung ebenso bedeutungsvoll. In Betrachtung einer breiten Defi- nition von Gemeinwohl treten die zahlreichen Interpretationen und Strategien zum Vorschein, wobei die Vielfalt der Rechtsformen, Konzepte und Planungsprozesse der breiten Vielfalt der Projektemacher*innen und Nutzer*innen Rechnung trägt. 3. IMMER WIEDER ANDERS Differenzen innerhalb der Projektlandschaft versprechen allerdings nicht nur Herausforderungen, sondern auch Potenziale. Verschiedene Initiativen profitieren voneinander und würden es durch Aufbau stärkerer Netzwerke noch mehr tun, denn in jedem Projekt entstehen Erfahrungen, die weitergegeben werden können.
Bera- ter*innen, Architekt*innen, Koordinator*innen und sogar Sachbearbeiter*innen in Kommunen, die mit gemeinwohlorientierten Gruppen arbeiten, haben oft persön- liche Erfahrungen mit solchen Projekten gemacht, wodurch sie berufliche Kompe- tenzen und Entschlossenheit für das Thema erworben haben. Nicht selten entstehen Netzwerke, Beratungsangebote und Bildungsprogramme durch Engagement von Projektmacher*innen, die ihr Wissen weitergeben wollen. Auch Initiativen unterschiedlicher Rechtsformen und Ausrichtungen können füreinander indirekte Vorteile schaffen. Beispielsweise können Eigentümergemein- schaften eine wichtige Rolle als Pionier*innen des selbstorganisierten Wohnens in ihrer Kommune oder Region spielen. Da solche Gruppen in der Regel auf ein solides Eigenkapital zurückgreifen können und individuelles Eigentum als eine verbreitete Rechtsform bekannt ist, haben sie gute Voraussetzungen, um die Anfangshürden zu bewältigen. Dadurch haben sie die Möglichkeit, ihre Projekte mit einem konventio- nellen Finanzierungsmodell und im üblichen Bieterverfahren umzusetzen. Werden erste Projekte gebaut und zeigen eine positive Wirkung, gewinnen sie an Bekannt- heit. Folglich können sowohl Kommunen als auch neue Gruppen für weitere Vorhaben ermutigt werden, die bei anspruchsvolleren Konzepten entsprechende Finanzie- rungsmodelle und einen gesonderten Zugang zu Grundstücken benötigen. So hat der in den 1990er-Jahren gegründete Verein W.I.R. ein erstes Selbst- bau-Projekt mit Eigentumswohnungen in Dortmund im Jahr 2004 umgesetzt. Anstatt 130 Larisa Tsvetkova Abb. 1: Protestaktion auf einer Fassade in Berlin Kreuzberg. Foto: Larisa Tsvetkova, CC BY-SA. Abb. 2: Immovielien-Netzwerktreffen 2020 im Mirker Bahnhof (Utopiastadt), Wuppertal. Foto: Wolf Sonder- mann, CC BY-SA.
131 der üblichen Standard-Reihenhäuser wurde ein Hausblock mit Gemeinschaftsraum und einem gemeinsamen Garten errichtet: Kein Vorzeigeprojekt mit überregionaler Ausstrahlung, aber ein Pionier für die Stadt und insbesondere für ein suburbanes Wohngebiet. Daraufhin folgten fünf weitere W.I.R.-Projekte in unterschiedlichen Stadtteilen, im individuellen und genossenschaftlichen Gemeinschaftseigentum. 2021 sollen zwei neue gemeinschaftliche Häuser im Neubau und im Bestand mit freifinanzierten und geförderten genossenschaftlichen Mietwohnungen bezogen werden (vgl. W.I.R.: o. J.). Auch in Darmstadt hat sich ein Netzwerk von Wohnprojekten aus der ersten in den 1990er-Jahren gegründeten Projektgruppe heraus entwickelt. Nach der Planungs- und Bauphase wurde 2003 WohnSinn 1 bezogen, organisiert als Genossenschaft mit einer Mischung aus eigentumsähnlichen Dauerwohnrechten, genossenschaftli- chen Mietwohnungen und Sozialmietwohnungen. Schon in diesem Projekt wurden die durch die Gemeinschaft gesetzten hohen Anforderungen an Barrierefreiheit, Bezahlbarkeit und ökologisches Bauen umgesetzt. Die Hausgemeinschaft begeg- nete außerdem von Anfang an den großen und kleinen Krisen mit eigenen Lösungen. Alleinstehende im Haus wurden bei krankheits- oder altersbedingten Schwie- rigkeiten im Alltag unterstützt, Familien organisierten ihren Alltag mit Kindern gemeinsam. 2015 wurden temporäre Wohnräume und Sprachkurse für Geflüchtete organisiert und verwaltet. Auch fürs Leben im hohen Alter entstehen in dem Projekt gemeinschaftliche und räumliche Lösungen, wie die Umwidmung einer Gästewoh- nung für Pflegepersonal bei Bedarf.
Darüber hinaus setzte die Gruppe ihre Erfah- rungen in weiteren Projekten ein: Wenige Jahre später wurde eine Hauserweiterung mit einer neuen Genossenschaft gebaut und ein Mieter*innenprojekt mit geförderten und freifinanzierten Mietwohnungen in Kooperation mit einem Bauträger in unmit- telbarer Nachbarschaft mitbegründet. In diesen drei Projekten leben nun knapp 240 Menschen. Ein weiteres Projekt mit genossenschaftlichen Wohnungen für Haus- halte in unterschiedlichen finanziellen Lagen wurde angestoßen. Darüber hinaus hatte der aktive Kern von WohnSinn eine Beratungsstelle und einen Runden Tisch für gemeinschaftliches Wohnen initiiert. Mittlerweile ist gemeinschaftliches Wohnen in Darmstadt weiter verbreitet, an sieben Standorten sind verschiedene Projekte umgesetzt oder in Planung. Die enge Kooperation zwischen den Projekten ermöglich nicht nur Lerneffekte, sondern auch Wohnungstausch, wodurch die Wohnräume an die Lebensumstände angepasst und der Flächenkonsum reduziert werden können (vgl. LaFond/Tsvetkova/id22: Institut für Kreative Nachhaltigkeit 2017: 64–75; Förder- verein Gemeinsames Wohnen Jung und Alt e. V. o. J.; WohnSinn Bessungen o. J.). W.I.R.-Projekte in Dortmund und WohnSinn in Darmstadt sind nur einzelne Beispiele von vielen, die zeigen, wozu selbstorganisierte Initiativen in der Lage sind. Pionierprojekte können unkonventionell planen und bauen, eine Vorbildfunktion für ihre Region übernehmen und ihr Wissen weitergeben. Auch wenn erste Projekte als erfolgreich gelten, wiederholen Gruppen, die auf deren Erfahrungen aufbauen, nicht einfach alte Ansätze, sondern entwickeln eigene Konzepte und wenden entsprechende Rechtsformen an.
Die Fähigkeit, stetig zu lernen und sich anzupassen, verschafft der gemeinwohlorientierten Projektlandschaft einen entscheidenden Vorteil gegenüber den konventionellen Immobilienentwicklern, die durch standardisierte Lösungen vor allem Masse, jedoch keine Qualität und keine Flexibilität erzeugen können. Diese Fähigkeit trägt entscheidend dazu bei, dass selbstorganisierte Wohnprojekte auf aktuelle Herausforderungen reagieren und durch eine Vielfalt an Ansätzen einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten können. Vielfalt der gemeinwohlorientierten Projekte: Fluch und Segen 132 Die beschriebenen Entwicklungen waren allerdings nur durch eine wirkungs- volle Vernetzung der Projekte und Gruppen möglich. Eine derartige Vernetzung über die regionalen Grenzen hinaus ist momentan nicht in dem Ausmaß vorhanden, der einen solchen Effekt bundesweit oder gar international erwarten ließe. Allerdings deuten solche Beispiele an, was möglich wäre, wenn eine zersplitterte Projektland- schaft sich zu einer vernetzten Bewegung formen würde. 4. GEMEINWOHLORIENTIERT, ABER NICHT GEMEINSAM Das Anerkennen und Überwinden von Differenzen hätte nicht nur Vorteile für die Lerneffekte zwischen den Projekten, sondern auch für die Wirksamkeit selbstorga- nisierter Initiativen gegen Neoliberalisierung der Stadt und für eine gemeinwohl- orientierte Stadtentwicklung (vgl. Mayer 2013: 162). Zwar wurden in den vergangenen Jahren einige Bündnisse gemeinwohlorientierter Projekte gegründet, verbreitet sind allerdings vorrangig lokale oder themenorientierte Organisationen sowie Verbünde, die bestimmte Rechtsformen vertreten und beraten.
Die Bundesvereinigung FORUM Gemeinschaftliches Wohnen umfasst ein ausgebautes Netzwerk mit einer zentralen Geschäftsstelle in Hannover und über 20 Regionalstellen, die Austausch und Bera- tung mit einem Schwerpunkt auf gemeinschaftliches, altersgerechtes Wohnen sowie vermehrt auch zu Themen wie Quartiersentwicklung und Vergabeverfahren ermög- lichen (vgl. FORUM Gemeinschaftliches Wohnen e. V. Bundesvereinigung 2016). Der wohnbund und der Bundesverband Baugemeinschaften, die bereits seit einigen Jahren zu den größeren Bündnissen im Bereich selbstorganisierter Wohnprojekte gehören, hatten im Jahr 2019 jeweils unter 200 Mitglieder (vgl. wohnbund o. J.; Bundesverband Baugemeinschaften o. J.). Etwas besser vernetzt sind lediglich die traditionsreichen Genossenschaften mit mehreren Verbünden bundesweit und der Marketinginitiative der Wohnungsbaugenossenschaften Deutschland, zu der sich über 400 Genossen- schaften zusammengeschlossen haben (vgl. Marketinginitiative der Wohnungsbau- genossenschaften Deutschland o. J.). Die gegenwärtigen Zusammenschlüsse selbst- organisierter Akteur*innen sind somit deutlich kleiner als Bündnisse konventioneller Immobilienentwickler*innen: Allein der Bundesverband für die Immobilienwirtschaft vertritt über 10.000 Mitglieder (vgl. bvfi o. J.). Wenig überraschend ist deshalb, dass Tausende durch eigene Marketing-Abteilungen unterstützte Stimmen in den Medien und der Öffentlichkeit eher wahrgenommen werden als ein paar Hundert von größ- tenteils ehrenamtlich Organisierten. Angesichts der Dominanz der profitorientierten Unternehmen in der gegenwär- tigen stadtpolitischen Diskussion entstehen Bemühungen gemeinwohlorientierter Akteur*innen um bundesweite Strukturen, die selbstorganisierte Projekte in ihrer Bandbreite vertreten sollen.
Für die unterschiedlichen Projekte, die von und für Menschen vor Ort geplant und verwaltet sind, entstand um das Jahr 2016 im Umfeld der Montag Stiftung Urbane Räume der Begriff Immovielien – Immobilien von Vielen für Viele. Die Stiftung fasste die Überlegungen einiger Expert*innen und Projektma- cher*innen zusammen und beschrieb, was diese Initiativen auszeichnet: „sie bleiben, wenn es kritisch wird, sie entziehen den Boden, auf dem sie stehen, und sich selbst der Spekulation, sie verhalten sich zu anderen solidarisch, sie unterstützen sich gegen- seitig und sie suchen beständig nach einem gesellschaftlichen Nutzen ihres Tuns“ (Montag Stiftung Urbane Räume gAG 2016: 5). Aus der Bestrebung nach einem breiten, themenübergreifenden Bündnis der gemeinwohlorientierten Projekte heraus wurde ein Jahr später das Netzwerk Immovielien als selbsttragender Verein gegründet (siehe Larisa Tsvetkova 133 Abb. 2). 2020 zählen über 170 Personen und Organisationen aus den Bereichen der Immovielien-Projekte, Wirtschaft, Wissenschaft, Immobilienentwicklung und Finan- zierung sowie Planungsbüros, Intermediäre, Stiftungen und gemeinnützige Orga- nisationen zu den Mitgliedern des Netzwerks (vgl. Netzwerk Immovielien 2020: 4). Der gegenwärtigen Anzahl der Mitgliedschaft nach kann der Verein mit den Bünd- nissen der konventionellen Immobilienwirtschaft nicht konkurrieren. Jedoch wagt das Netzwerk Immovielien den Versuch, eine Plattform für eine vielfältige Projekte- und Akteurslandschaft zu bieten, indem es sich auf den gemeinsamen Nenner – das Gemeinwohl – fokussiert. Welche Rechtsformen, Nutzungen oder Konzepte dabei mehr oder weniger wertvoll sind, wird nicht genau definiert. So lässt das Netzwerk die nötige Offenheit, die der Vielfalt der Projekte und dem diffusen Begriff Gemein- wohl gerecht wird. 5.
FAZIT: VIEL HILFT VIEL Selbstorganisierte Initiativen zeigen bereits, wie eine gemeinwohlorientierte Immo- bilien- und Stadtentwicklung funktioniert. Sie reagieren auf aktuelle Herausforde- rungen, lernen von bestehenden Projekten und passen ihre Konzepte den lokalen Rahmenbedingungen an. Sie nutzen existierende Rechtsformen und entwickeln neuartige Rechtskonstrukte, die es erlauben, in einem profitorientierten Immo- bilienmarkt gemeinwohlorientierte Projekte umzusetzen. Sie gestalten individu- elle Finanzierungsmodelle, die für Menschen in verschiedenen finanziellen Lagen ein gemeinsames Haus ermöglichen. Sie gestalten Räume, die sich für individu- elle Lebensentwürfe eignen und die Verbindung zur Nachbarschaft herstellen. Im Gegensatz zu konventionellen Immobilienentwickler*innen vervielfachen Immo- vielien-Macher*innen keine standardisierten Lösungen, sondern gestalten eine viel- fältige Projektlandschaft. Diese Anpassungsfähigkeit scheint den Geist unserer Zeit zu treffen, die durch immer neue, sich überlappende Krisen geprägt ist. Dadurch bewirken selbstorganisierte Projekte bereits einiges, und sie können noch mehr bewirken. Dafür müssen sie nicht unbedingt mehr Gemeinwohl ,übernehmen‘. Der Schlüssel liegt woanders. Profitorientierte Immobilienentwickler*innen gehen in einem wichtigen Punkt mit gutem Beispiel voran: Sie bilden überregionale Bündnisse und arbeiten zusammen. Dadurch können sie ihre Interessen lautstark vertreten, ihre Fähigkeiten demonstrieren und ihre Meinungen kommunizieren. Dass sie es erfolgreich tun, zeigt die aktuelle wohnungspolitische Diskussion, die durch den Aufruf nach mehr Bauen dominiert ist. Wird der öffentliche Fokus auf die Massenherstellung von Wohn- raum gelenkt, geraten komplexere Ansätze, die nachhaltige Lösungen bieten, in den Hintergrund.
Damit gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung in Zukunft möglich ist, müssen die Stimmen der selbstorganisierten Projektmacher*innen lauter werden. Das wäre machbar, wenn die gemeinsamen Qualitäten und Interessen mehr Anerken- nung finden und ein loses Netz an Projekten zu einem vielköpfigen Netzwerk wird. Mit Sicherheit würde ein Zusammenschluss verschiedener Projekte und Gruppen Kompromisse und Flexibilität erfordern. Doch das würde nicht bedeuten, dass Initiativen sich selbst anpassen müssen – ganz im Gegenteil. Die besondere Stärke der Projektlandschaft liegt in der Anpassungsfähigkeit und dem Zusammenwirken einer Vielfalt an Projekten mit unterschiedlichen Konzepten, Rechtsformen, Archi- tekturen und Schwerpunkten. Lediglich das gemeinsame Ziel soll in den Vordergrund Vielfalt der gemeinwohlorientierten Projekte: Fluch und Segen 134 rücken: eine gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung. Ob die zahlreichen Projekte sich als Immovielien verstehen oder ob sich neue Begriffe und Strukturen entwickeln, ist unwichtig. Entscheidend ist: Je mehr Akteur*innen, Projekte und Initiativen sich zusammenschließen, je mehr Vielfalt sie zeigen, desto sichtbarer werden sie. Und wenn die gemeinwohlorientierten Projekte sichtbar sind, können sie mehr werden. Denn sie werden dringend gebraucht: für große und kleine Krisen, in großen und kleinen Städten, überall. QUELLEN Bohlken, Eike 2018: Das Gemeinwohl – Orientierungsmaßstab der Stadtentwicklung. In: Bundesministerium für Bau-Stadt-und Raumforschung (Hg.): Gemeinwohl: Konsequen- zen für die Planung?, Informationen zur Raumentwicklung, Nr. 05/2018. Bundesverband Baugemeinschaften o. J.: Mitglieder. In: Bundesverband Baugemeinschaf- ten. https://www.bv-baugemeinschaften.de/mitglieder.html. Burghardt, Robert; Schönberg, Enrico 2017: Mietshäuser Syndikat international. Selbst- organisiert Wohnen – solidarisch wirtschaften.
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Welche Alternativen zum klassischen Modell individuelle Eigenmittel plus Bankkredit stehen dafür zur Verfügung? 1. WOHNEN OHNE RENDITE Viele selbstorganisierte und gemeinschaftliche Hausprojekte eint das Ziel, dauer- haft günstigen Wohnraum zu schaffen und zu sichern. In fast allen Projektbeschrei- bungen findet sich die Formulierung, dass Haus und Grundstück „dauerhaft dem Markt entzogen werden“. Dahinter steht die Erkenntnis, dass in marktförmig orga- nisierten Ökonomien eine fortgesetzte Ertragssteigerung zum Prinzip erhoben wird, um möglichst hohe Gewinne aus den Häusern zu ziehen. Klassische Investitionen in der Immobilienwirtschaft kalkulieren immer mit steigenden Mieterträgen, die zumindest langfristig einen Überschuss in der Bilanz von Einnahmen und Ausgaben sicherstellen sollen. In der kapitalistischen Verwertungslogik muss das eingesetzte Eigenkapital angemessen verzinst werden. Entsprechend sehen Immobilienunter- nehmen und auch Privatvermietende die Kosten für die Refinanzierung und die Aufwendungen zur Bewirtschaftung – die Kostenmieten – als Untergrenze der Miet- 138 kosten an und sehen einen Investitionsanreiz erst, wenn darüber hinausgehende Ein- nahmen realisiert werden können. Auch beim Verkauf von Bestandsimmobi- lien wird der Preis von den zu erwartenden Mieteinnahmen bestimmt. Jede verwertungsorientierte Immobilieninvestition ist eine Spekulation auf künftige Erträge. Dieser Grundmechanismus führt dazu, dass ökonomisch rational Vermie- tende alle Möglichkeiten der Mietsteigerung ausschöpfen werden und durch Verkäufe zu immer höheren Preisen ein steigender Verwertungsdruck erzeugt wird, der nur durch steigende Mieten oder einen Verkauf zu noch höheren Preisen befrie- digt werden kann.
Insofern ist die dauerhafte Sicherung von Wohnverhältnissen in selbstorganisierten Wohnprojekten ein wichtiger Schritt, diesen Kreislauf der Verwertungslogik zu durchbrechen. Erst wenn der Verkauf zu höheren Preisen ausgeschlossen ist, können die Lang- fristeffekte der Immobilienfinanzierung zum Tragen kommen. Wenn sich die Kosten- miete aus den notwendigen Aufwendungen für die Refinanzierung der Bau- oder Erwerbskosten sowie den anfallenden Bewirtschaftungskosten zusammensetzt, wird deutlich, dass die notwendigen Aufwendungen nach der Rückzahlung der Erstellungskosten selbst bei erhöhten Instandhaltungsrücklagen deutlich sinken. Während gewerbliche und gewinnorientierte Bewirtschaftungsstrategien aus diesen reduzierten Aufwendungen bei gleichzeitig steigenden Mieten ihre Gewinnspanne vergrößern, können selbstorganisierte Wohnprojekte und gemeinnützige Wohnbau- träger diesen Vorteil an die Bewohner*innen weitergeben. Da der Verkauf von bereits abgezahlten Wohnprojekten ausgeschlossen ist, wird der Kreislauf der erneuten Refinanzierung von Ertragserwartungen, wie er bei einem Verkauf in Gang gesetzt würde, dauerhaft ausgeschlossen. In Deutschland existiert das Wohnungsgemein- nützigkeitsrecht seit 1990 nicht mehr, in Österreich ist der gemeinnützige Wohnbau bis heute ein wichtiger Faktor für die Wohnraumversorgung. 2019 haben Österreichs gemeinnützige Wohnbauträger 17.000 Wohnungen errichtet (Kössl 2020). 1 Der langfristige Ausschluss von Gewinnen ist allerdings auch für selbstorgani- sierte Wohnprojekte noch keine Garantie für einen günstigen Mietpreis. Wie andere Bauträger auch stehen sie vor der Herausforderung, die Anfangsinvestitionen für den Kauf oder die Errichtung des Hauses zu finanzieren. Da sich die Höhe der Kosten insbesondere für einen Neubau nur in begrenztem Maße reduzieren lässt, kommt hier den Finanzierungsinstrumenten eine besondere Bedeutung zu.
In der Geschichte des selbstorganisierten und selbstverwalteten Wohnens wurden dabei eine Reihe von Prinzipien erprobt, die geeignet sind, die Miet- bzw. Wohnkosten von Beginn an zu drosseln. Genauer betrachtet werden sollen dabei Strategien zur Mobilisierung von Eigenkapital (Abschnitt 2), Instrumente zur Redu- zierung der Refinanzierungsaufwendungen (Abschnitt 3) und der Aufbau von institu- tionalisierten Unterstützungsstrukturen (Abschnitt 4). 2. MOBILISIERUNG VON EIGENKAPITAL FÜR SELBSTVERWALTETE HAUSPROJEKTE Die Miet- bzw. Nutzungskosten in selbstverwalteten Wohnprojekten müssen – wie alle anderen Bauträger – auch die Kosten für die Ausgangsinvestitionen aufbringen. Unabhängig davon, ob es um die Nutzung und Sanierung eines Bestandsgebäudes oder den Neubau eines Wohnprojekts geht, der Zugang zum Grundstück und die Bau- oder Sanierungskosten fließen betriebswirtschaftlich betrachtet in die Berechnung der Erstellungskosten ein. Die meisten Wohnprojekte greifen dabei auf einen Mix von Andrej Holm, Christoph Laimer 139 Eigenkapital und Krediten zurück. Trotz der zurzeit günstigen Zinskonditionen sind mit der Rückzahlung von Darlehen meist erhebliche Aufwendungen verbunden, da die meisten Banken relativ hohe Tilgungsraten erwarten. In einer Reihe von unter- suchten Neubauprojekten lagen die Annuitäten (also die Summe aus Zins und Tilgung) der Bankdarlehen zwischen vier und fünf Prozent der aufgenommenen Darlehens- summe. Bei Gesamtkosten von etwa 3.000,00 €/m² Wohnfläche und 20 Prozent Eigen- kapital würde die Refinanzierung zwischen 8,00 und 10,00 €/m² im Monat betragen. Weil zusätzliche Aufwendungen für die Bewirtschaftung sowie Betriebs- und Heiz- kosten hinzukommen, wären die angestrebten günstigen Mietpreise kaum zu reali- sieren. Viele Projekte setzen daher auf die Erhöhung des Eigenkapitalanteils.
Weil für das eingebrachte Eigenkapital keine oder nur geringe Zinsen und Tilgung gezahlt werden müssen, verringern sich die Ansätze für die Refinanzierung. Grundsätzlich gilt: Je höher das Eigenkapital, desto geringer die Refinanzierungslast. Müsste das Eigenkapital ausschließlich aus den individuellen Vermögen der Beteiligten finanziert werden, könnten sich nur Wohlhabende das Wohnen in selbstverwalteten Projekten leisten. Deshalb haben Hausprojekte eine Reihe von Instrumenten entwickelt, das Eigenkapital gegenüber der Bank auf andere Weise zu mobilisieren. Vorstellen wollen wir hier das Prinzip der Direktkredite (Nachrangdarlehen) und die Idee des Vermö- genspools. 2.1. DIREKTKREDITE (NACHRANGDARLEHEN) Mit seinen mittlerweile rund 160 Projekten in der Bundesrepublik hat das Miets- häuser Syndikat das Prinzip der Direktkredite als Eigenkapitalersatzdarlehen etab- liert. Seit 2015 gibt es mit dem habiTAT eine unabhängige Schwesterorganisation in Österreich (siehe Abb. 1). Als Direktkredite werden dabei niedrig verzinste Klein- kredite von Privatpersonen oder juristischen Personen bezeichnet, die dem Projekt oft mit langen Laufzeiten zur Verfügung gestellt werden. Der Vorteil für die Refi - nanzierung besteht nicht nur in den niedrigen Zinssätzen, sondern vor allem im Wegfall der Tilgungsraten. In von uns untersuchten selbstorganisierten Neubaupro- jekten betrug der Anteil von Direktkrediten an der Finanzierung 25 bis 30 Prozent. Statt der vollen Tilgungslast müssen nur die vereinbarten Zinsen gezahlt werden. Statt der teuren Darlehensfinanzierung über die Banken (8,00 bis 10,00 €/m² pro Monat) beschränkt sich die Refinanzierung der Direktdarlehen mit einem Zinssatz von 1 Prozent p. a. in unserem Beispiel auf 2,00 €/m² im Monat. Viele Direktkre- dite werden zurzeit sogar zu deutlich günstigeren Konditionen vereinbart.
Da die Direktkredite nicht getilgt werden, bleibt die Einwerbung von solchen Privatdar- lehen eine Daueraufgabe der Wohnprojekte. Die Rückzahlung von Darlehen wird nicht aus den Mieteinnahmen finanziert, sondern durch neue Direktkredite. Ein gekündigtes Darlehen wird also durch ein neues Darlehen ersetzt. Solange es Darlehensgeber*innen gibt, die einem Hausprojekt ein Darlehen gewähren, ermög- licht diese Umschuldung niedrigere Mieten. Hausprojekte können sich natürlich auch entscheiden, kontinuierlich einen Teil der Darlehen aus Mieteinnahmen zu tilgen, um langfristig schuldenfrei zu werden. Funktioniert die Umschuldung, ist das aber eigentlich nicht notwendig. Ein zweiter Vorteil des Direktkreditsystems ist die Erleichterung des Zugangs zu gemeinschaftlichen Wohnprojekten. In klassischen Finanzierungen stellt die Voraus- setzung von Eigenmitteln in Höhe von 20 bis 30 Prozent der Projektkosten eine finan- Alternative Finanzierungsinstrumente für Haus- und Wohnprojekte 140 zielle Hürde dar, die all jene ausschließen würde, die nicht von Haus aus vermögend sind. Das gilt gegenwärtig umso mehr als die Preise für Grund, Boden, Immobilien und Wohnbau gerade in den letzten Jahren stark gestiegen sind. Im Wissen um diese Hürde haben die Gründer*innen des Mietshäuser Syndikats vor rund 30 Jahren ein Modell entwickelt, das teilweise auf privaten Direktkrediten basiert. Ihnen war klar, dass Menschen, die auf günstigen Wohnraum angewiesen sind, genau diejenigen sind, die nicht über das notwendige Kapital verfügen, um die für einen Bankkredit erforderlichen Eigenmittel aufzustellen. Bei der Finanzie- rung der Haus- und Wohnprojekte des Mietshäuser Syndikats werden die von der Projektgruppe eingeworbenen Direktkredite als Eigenkapital anerkannt, die bei der Aufnahme von Darlehen gefordert werden.
Dass es beim Mietshäuser Syndikat bisher nur einen einzigen Fall gab, in dem das Projekt nicht erfolgreich realisiert werden konnte, zeigt, dass für die Finanzierung selbstverwalteter Wohnprojekte mit den Direktkrediten ein erfolgreicher und auch für die Anleger*innen sicherer Weg gefunden wurde. Dieses Modell wurde von habiTAT übernommen und wird nun auch bei Projekten in Österreich angewandt. Im habiTAT gibt es vier mit Unterstützung von Nachrang- darlehen, so die rechtlich korrekte Bezeichnung für Direktkredite, bereits vollständig oder teilweise 2 umgesetzte Hausprojekte (Willy*Fred in Linz, Autonome Wohnfabrik in Salzburg, Bikes and Rails und SchloR in Wien). Insgesamt haben diese Projekte über 4 Millionen Euro an Nachrangdarlehen bekommen, der Zinssatz dafür beträgt ca. 1 Prozent. Die beiden Wiener Projekte haben im selben Zeitraum um Nachrangdar- lehen geworben, trotzdem haben es beide geschafft, ihre Finanzierungsziele von je rund 1,5 Mio. Euro zu erreichen. 2.2. VERMÖGENSPOOL Ein anderes Modell, das der österreichische Rechtsanwalt Markus Distelberger entwi- ckelt hat, operiert mit demselben Ansatz. Es nennt sich Vermögenspool. Die Idee ist, dass Menschen, die über Geldreserven verfügen, die sie im Moment nicht brauchen, diese in einen Pool einzahlen. Der Pool dient dazu, Projekte zu finanzieren. Fließt Geld aus dem Pool ab, weil ein*e Kreditgeber*in ihr*sein Geld wieder braucht, wird eine neue Direktkreditgeberin gesucht, die den Betrag durch ein Darlehen ersetzt. Beim Vermögenspool gibt es keine Verzinsung, die eingezahlten Beträge werden jedoch wertgesichert. Eine Bedingung des Vermögenspools ist, dass das Geld nur für dauer- hafte Werte wie z. B. Immobilien verwendet werden darf. Für Hausprojekte ist der Vermögenspool also grundsätzlich sehr gut geeignet. Es gibt jedoch einen entschei- denden Unterschied zu den Nachrangdarlehen.
Die Darlehensgeber*innen werden durch eine Treuhänderhypothek im Grundbuch abgesichert. Die Absicherung der Darlehensgeber*innen ist dadurch höher als diejenige von Nachrangdarlehensge- ber*innen. Für ein Hausprojekt haben sie jedoch den Nachteil, dass der Vermögens- pool von Banken deswegen nicht als Eigenmittelersatz anerkannt wird. Dient ein Vermögenspool dazu, den für den Erwerb oder Bau eines Hauses notwendigen Betrag zur Gänze aufzubringen, wird dieser Nachteil nicht schlagend. Ist jedoch ein Bank- kredit notwendig, müssen die Eigenmittel anderweitig aufgebracht werden. Aktuelle Hausprojekte, die mit einem Vermögenspool (teil-)finanziert werden, sind Cambium – Leben in Gemeinschaft im steirischen Fehring sowie Die Auenweide und GeWoZu – Gemeinschaftlich Wohnen – die Zukunft in Niederösterreich (siehe www.vermoegen- spool.at/projekte.php). Andrej Holm, Christoph Laimer 141 Alternative Finanzierungsinstrumente für Haus- und Wohnprojekte Abb. 1: Das habiTAT-Projekt Bikes and Rails im Wiener Sonnwendviertel. Foto Hannah Mayr, CC BY-SA. Rund 240 Personen haben der Projektinitiative 1,5 Mio. Euro an privaten Direktkrediten gewährt. 142 Beide Finanzierungsmodelle zielen darauf ab, die Abhängigkeit von klassischen Finanzierungen durch Banken zu reduzieren oder sogar auszuschließen. Die gemein- schaftliche und solidarische Mobilisierung einer Finanzierung jenseits der üblichen Marktkonditionen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Umsetzung gemein- schaftlicher und selbstorganisierter Wohnprojekte. Neben den bereits erwähnten Modellen sind auch einige neue im Entstehen, die wie beispielsweise die Tübinger Initiative Inseln im Hafen die Idee einer „wertbasierten Wirtschaftsgemeinschaft“ verfolgen, die Commons schafft. Ziel ist es dabei, den Kauf von Boden und Immobilien zur Gänze durch Genossenschaftsanteile oder Schenkungen finanzieren zu können (Preissing 2019: 43)
3. REDUZIERUNG DER REFINANZIERUNGSAUFWENDUNGEN Neben der Mobilisierung von selbstbestimmten Finanzmitteln besteht eine zweite Strategie von selbstorganisierten Wohnprojekten zur Sicherung von dauerhaft leist- baren Mieten in der Reduzierung der Refinanzierungsaufwendungen. Eine wieder- kehrende Strategie dabei ist die Nutzung von Erbpachtverträgen für die Nutzung von Grundstücken oder auch der Abschluss eines Pachtvertrags zur Nutzung von Gebäuden und Wohnungen. Der Vorteil dabei ist die Verringerung der von den Projekten aufzu- bringenden Investitionssumme. Insbesondere in stärker urbanisierten Kontexten betragen die Grundstückskosten teilweise bis zu 30 Prozent der Gesamtkosten des Projekts. Im Rahmen von Erbbaurechten kann die eigentumsgleiche Nutzung des Bodens ohne Kauf der Grundstücke vereinbart werden. Durch die Erbpachtzinsen ist auch dieser Zugang nicht kostenfrei, aber vor allem in der Startphase von Projekten oft günstiger, da keine Tilgung der Kaufpreise refinanziert werden muss. Zudem verringert sich durch solch eine ,Auslagerung‘ der Grundstückskosten der Betrag, der über Direktkredite und Bankenfinanzierung eingeworben werden muss. Mögliche Erbbaurechtsgebende sind neben der öffentlichen Hand vor allem Stiftungen und Community Land Trusts. 3.1. KOMMUNALE ERBBAURECHTE Vor allem in Städten mit angespannten Wohnungsmärkten sind gemeinschaftliche Wohnprojekte mit günstigen Mieten oft auf öffentliche Grundstücke angewiesen, weil die Marktpreise für das Bauland nur hochpreisige Bauprojekte zulassen. Zugleich erkennen viele Städte den Wert von öffentlichen Liegenschaften für die Daseins- vorsorge und sind völlig zurecht immer seltener bereit, Grundstücke zu verkaufen.
Diese nachhaltig ausgerichtete Liegenschaftspolitik hat jedoch auch Auswirkungen auf selbstorganisierte Baugemeinschaften, die ja auf Grundstücke angewiesen sind, um ihre Projekte zu verwirklichen. Die Vergabe von Erbbaurechten mit langjährigen Laufzeiten bietet sich dabei als Lösung an, weil öffentliche Liegenschaften öffent- lich bleiben und zugleich leistbare Wohnungen entstehen können, die nicht von der Kommune selbst errichtet werden. Das Erbbaurecht kann die Intentionen der Bodensicherung und der Entwicklung von gemeinwohloptimierten Nutzungen in öffentlicher Verantwortung verbinden. Die Vergabe von Nutzungsrechten erfolgt in Erbbaurechtsverträgen immer mit einer konkreten Zweckbestimmung und Zweckbindung. Die gewünschten Nutzungen können in den Zweckparagraphen der Erbbaurechtsverträge festgeschrieben und gegen Nicht-Nutzung, vertragswidrige Umnutzung und Nutzungsbrüche über Andrej Holm, Christoph Laimer 143 Sanktionsfestlegungen von erhöhten Erbbauzinsen bis hin zur Regelung des Heim- falls abgesichert werden. Erbbaurechte können dabei als wohnungspolitisches Instrument genutzt werden und insbesondere dauerhafte Bindungen begründen, weil die im Erbbaurecht zu vereinbarenden Laufzeiten über die typischen Bindungs- zeiträume von Förderprogrammen hinausgehen können. Mit Modellen von abge- senkten Erbbauzinsen können die einer Förderung gleichen Mietpreisbindungen sogar in der Systematik der üblichen Förderprogramme kalkuliert werden. Dem kalkulatorischen Einnahmeverzicht von höheren Erbbauzinseinnahmen stehen dabei die jeweils konkret zu bestimmenden Mietpreisbindungen gegenüber (siehe dazu auch den Beitrag von Lichtenberg in diesem Band).
Für die Bauträger sichert das Erbbaurecht eigentümergleiche Nutzungs- und Verfügungsrechte sowie einen Vorteil bei der Finanzierung von Bauprojekten, weil bei den Finanzierungsplänen die oft hohen Grundstückskosten nicht über Kredite finanziert werden müssen, sondern über einen langen Zeitraum als Erbpachtzinsen gezahlt werden. Der Bodenpreis verschwindet in Erbpachtverträgen nicht und muss von den Projekten kontinuierlich gezahlt werden, aber das Volumen der Startfinan- zierung für das Projekt selbst beschränkt sich auf die tatsächlich anfallenden Bau- und Baunebenkosten. Insbesondere für kleinere und jüngere Projektgruppen mit wenig Eigenkapital stellt sich das als enormer Vorteil dar. Trotz dieser Vorteile gibt es bisher wenige praktizierte Erbbaurechte von Kommunen mit selbstorganisierten Wohnprojekten. 3 3.2. STIFTUNGEN Eine weitere Möglichkeit, Kosten der Finanzierung zu externalisieren, bieten Stif- tungen. Auch hier greift in den meisten Fällen das Prinzip, dass die Grundstücke von Dritten erworben und an die Hausprojekte verpachtet werden. Stiftungen haben – zumindest außerhalb von Österreich – meist gemeinnützige Zwecke und können ihre Satzungen weitgehend frei gestalten. In Deutschland sind rund 95 Prozent aller Stiftungen gemeinnützig. In Österreich hingegen sind von 3.000 Privatstiftungen nur etwa 200 gemeinnützig – also etwa sieben Prozent. Bekannt für ihr Engagement im Bereich Hausprojekte sind die Stiftungen trias, Edith Maryon oder die Baseler Stif- tung Habitat. Der Stiftungszweck dieser Stiftungen besteht u. a. darin, „Grundstücke der Spekulation zu entziehen“ (Edith Maryon), Boden und Wohnraum nicht als Ware zu behandeln (trias) und für „eine wohnliche Stadt und bezahlbare Mieten“ (Stiftung Habitat) einzutreten. Während die Stiftung Habitat durch Zuwendungen von der Unternehmenserbin Beatrice Oeri bzw.
einer Stiftung des Konzerns Hoffmann-La Roche finanziert wird, sind es im Falle von trias eine Vielzahl von Stifter*innen und bei Edith Maryon Schenkungen, Erbschaften etc. Durch die Vergabe von Immobilien im Erbbaurecht gibt es natürlich auch laufend Zinseinnahmen. 4 Das Modell dieser Stiftungen sieht oftmals so aus, dass sie Grund erwerben und im Baurecht an Hausprojekte vergeben. Die übliche Laufzeit der Erbbaurechtsver- träge beträgt 99 Jahre und gibt den Projekten eine langfristige Planungssicherheit. Der Pachtzins liegt zurzeit meist bei etwa drei Prozent des Grundstückswerts, in der Regel wird eine Anpassung des Zinses an einen Inflationsindex vereinbart. In Österreich, der Schweiz und Deutschland existieren über 150 Hausprojekte, die auf dem Stiftungsmodell basieren. Die Stiftung trias hat allein in Deutschland über 40 Projekte auf diesem Wege ermöglicht. Die Stiftung Edith Maryon ist in der Schweiz Erbbaurechtsgeberin für über 70 Wohnprojekte und hat ihre Aktivitäten in Alternative Finanzierungsinstrumente für Haus- und Wohnprojekte 144 den vergangenen Jahren auch auf Deutschland (50 Projekte) ausgeweitet, darunter neun mit dem Mietshäuser Syndikat (siehe https://maryon.ch/liegenschaften/ueber- sicht). In Österreich, Ungarn und Frankreich gibt es bisher jeweils ein Projekt der Stiftung. Eines der bekanntesten Beispiele der letzten Jahre, das durch dieses Modell ermöglicht wurde, ist ExRotaprint in Berlin. Manche Stiftungen wie beispielsweise Umverteilen! Stiftung für eine solidarische Welt vergeben selbst Darlehen an Hauspro- jekte. Das habiTAT-Hausprojekt SchloR hat ein solches Stiftungsdarlehen bekommen. In Österreich hat sich 2019 die Munus Stiftung gegründet, die sich vorrangig darauf konzentriert, Boden der profitorientierten Verwertung zu entziehen und eine solida- risch-ökologische Ausrichtung hat. 3.3.
COMMUNITY LAND TRUST Ein weiteres Modell, den Boden ohne Kauf zu nutzen, bieten Community Land Trusts (CLT). Die aus dem angloamerikanischen Raum kommende Idee findet auch auf dem europäischen Kontinent immer mehr Anhänger*innen. Ein CLT ist in der Regel eine private, gemeinnützige Gesellschaft, die Grundstücke mit der Absicht erwirbt, das Eigentum für das Land langfristig zu halten. Während der Community Land Trust dauerhaft Eigentümer des Bodens bleibt und über Beiräte oder ähnliche Beteili- gungsmodelle die Mitbestimmung durch die Nachbarschaft ermöglicht, können die Nutzungsrechte und Gebäude langfristig (für 99 Jahre) an andere Organisationen vergeben werden. Die meisten CLTs verfolgen soziale Ziele und sichern auf diesem Wege langfristige Belegungsbindungen und soziale Verpflichtungen. Der CLT sieht eine Nutzung des Landes durch langfristige Pacht- oder Mietverträge vor. Die Pacht- inhaber können ihre Häuser besitzen, es gelten jedoch Wiederverkaufsbeschrän- kungen. Das Eigentum am Land bleibt beim CLT, womit Spekulation unterbunden wird. Gemeinnützigkeit, leistbarer Wohnraum und ganz generell die Unterstützung von Nachbarschaften sind wichtige Ziele von CLTs. In den USA sind in den letzten vier Jahrzehnten rund 250 CLTs gegründet worden. Auch in Europa wird die Idee der Community Land Trusts in den letzten Jahren intensiver diskutiert. Initiativen aus Belgien, Großbritannien, Frankreich und Deutsch- land koordinieren sich im Rahmen eines europäischen Netzwerks (LaFond u. a. 2020). In Berlin gründete sich 2019 mit der Stadtbodenstiftung der erste Community Land Trust in Deutschland. Die Bodenstiftung versteht sich selbst als „gemeinschaftliche, nicht-gewinnorientierte Eigentumsform, mit der Grund und Boden der Spekulation entzogen wird“.
Zweck ist es dabei, Grundstücke für den leistbaren Wohnbau oder soziale und kulturelle Projekte zur Verfügung zu stellen (Berliner Stadtbodenstiftung 2020). Die Entscheidung über die Nutzung von Boden und Immobilien, die in einen CLT gehalten werden, trifft ein gewählter Beirat von ein Drittel Bewohner*innen, ein Drittel Nachbarschaft, sowie ein Drittel Vertreter*innen der Stadtgesellschaft oder Politik und Verwaltung (siehe dazu den Beitrag von Horlitz in diesem Band). 4. FÖRDERPROGRAMME Als weitere Möglichkeit, die Finanzierungskosten zu reduzieren, werden von einigen Wohnprojekten Förderprogramme genutzt. Mit Zuschüssen und zinsgünstigen Darlehen können die Projekte mit staatlichen Fördermitteln den Anteil der Bank- kredite verringern. Viele Förderrichtlinien sind jedoch auf klassische Wohnbauten ausgerichtet und die damit verbundenen Bedingungen passen oft nicht zu Konzepten Andrej Holm, Christoph Laimer 145 des gemeinschaftlichen Wohnens. So sehen beispielsweise die meisten Förderpro- gramme der Wohnbau- oder Städtebauförderung Maximalflächen für Wohnungen vor, die nicht einfach auf Großgruppenwohnkonzepte mit Gemeinschaftsflächen zu übertragen sind. Andere Förderprogramme unterstützen die Verwendung von nachhaltigen Materialen oder Ausstattungen, die oft in sehr spezifischer Weise und Ausführung vorgeschrieben werden und teilweise als Einschränkung der Planung wahrgenommen werden. In den meisten Fällen stehen die Hausprojektgruppen vor einer Abwägung zwischen den finanziellen Anreizen und dem von den Programmen ausgelösten Anpassungsdruck zur Umsetzung der Projekte. Der Verwaltungsaufwand bei der Beantragung und Abwicklung der Fördersummen ist für Hausprojekte nicht zu unterschätzen.
In Neubauprojekten, die Fördergelder nutzen, liegt der Förderan- teil durchschnittlich bei etwa 20 Prozent der Gesamtkosten und wird als unbeliebter, aber wichtiger Finanzierungsbaustein bewertet. In allen drei vorgestellten Modellen (Grundstücksvergabe durch Kommunen, Erbpachtverträge von Stiftungen und Nutzung von Förderprogrammen) liegt der Vorteil für die selbstorganisierten Wohnprojekte in einer Reduzierung der Finanzie- rungssumme, die über Direktkredite und Bankdarlehen aufgebracht werden muss. Unter der Voraussetzung, dass die Refinanzierung über Pacht und Rückzahlung der öffentlichen Darlehen günstiger sind als Bankkredite, sind Erbpacht und Förderung eine Option für neu entstehende Haus- und Wohnprojekte. 5. INSTITUTIONELLE RAHMENBEDINGUNGEN UND FINANZIERUNGSTRÄGER Die Finanzierung von Hausprojekten ist in fast allen Fällen auf die Akquise von Fremd- mitteln angewiesen, weil die Kosten für Grundstück und Bau die verfügbaren Eigen- mittel regelmäßig überschreiten. Die meist Projektgruppen nutzen dazu einen Mix von Direktkrediten, Fördermitteln und Bankdarlehen. Damit stellen sich eine Reihe von Fragen zu den rechtlichen Rahmenbedingungen alternativer Finanzierungskon- zepte und den möglichen Trägern der Finanzierung. 5.1. RECHTLICHE RAHMENBEDINGUNGEN ALTERNATIVER FINANZIERUNGSKONZEPTE Das Prinzip der Direktkredite ermöglicht die Reduzierung der laufenden Aufwen- dungen und in vielen Fällen bezahlbare Mieten. Als anerkanntes Eigenmittelersatz- darlehen ermöglichen sie zudem die Finanzierung größerer Volumen, selbst wenn das individuelle Eigenkapital der Gruppe beschränkt ist. In Österreich wird diese Form der Finanzierung durch das Alternativfinanzie- rungsgesetz geregelt. Es erlaubt einem Rechtsträger, Wertpapiere oder Veranla- gungen bis zu zwei Millionen Euro auszugeben. Voraussetzung dafür ist, die Anle- ger*innen mittels eines Informationsblattes inkl.
Geschäftsplan über das geplante Vorhaben im Detail zu informieren und auch auf die Risiken hinzuweisen. Weiters müssen die Anleger*innen jährlich über den Jahresabschluss informiert werden. Der zeitliche Aufwand für die Erstellung der Unterlagen und der Abwicklung des Proze- deres ist erheblich, für Hausprojekte aber durchaus zu bewältigen. Die Kosten für die rechtliche Prüfung der Unterlagen beläuft sich auf 1.000–2.000 Euro. In Deutschland werden Zahlung und Verwaltung von Direktkrediten im Rahmen des Kleinanlegerschutzgesetzes geregelt. In dem 2015 geänderten Gesetz wird für Alternative Finanzierungsinstrumente für Haus- und Wohnprojekte 146 soziale Projekte eine Begrenzung der Direktkreditsumme von 2,5 Millionen Euro und der Zinssätze auf maximal 1,5 Prozent p. a. festgelegt. Im Falle einer Überschrei- tung stünden die Projekte in der sogenannten Prospektpflicht und müssten jähr- lich eine zusätzliche Wirtschaftsprüfung vorlegen. Damit wären Extrakosten von 50.000 Euro verbunden, die die Wirtschaftlichkeit der Hausprojekte selbst gefährden würde. Zudem sind für die steuerliche Bewertung von Direktkrediten eine Reihe von Faktoren zu berücksichtigen, um eine pauschale Besteuerung im Sinne der Schen- kungssteuer zu vermeiden. 5.2. ALTERNATIVE BANKEN Spätestens mit der Subprime-Krise und dem Crash auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt 2008 wurde vielen schlagartig bewusst, dass die Finanzialisierung der Wohnungswirtschaft Teil einer Strategie des exzessiven und hochspekulativen Profitstrebens ist. In Europa zeigte sich speziell in Spanien, zu welch katastrophalen gesellschaftlichen Verwerfungen dieser Extremismus kapitalistischer Ökonomie führen kann. Zigtausenden leerstehenden Wohnungen auf der einen standen tägliche Zwangsräumungen auf der anderen Seite gegenüber.
Das Bestreben, sich dieser Form der Ökonomie zu entziehen und alternative Wege zu suchen, um Haus- und Wohnpro- jekte zu finanzieren, ist deswegen mehr als verständlich. Dass klassische Banken, die mit ihren Geschäften die Wohnungskrise verschärfen, als Träger der Finanzierung ausgeschlossen sind, versteht sich fast von selbst. Abgesehen davon, dass sie sich oft schwer tun, Kollektivstrukturen ohne Businessplan, Eigenkapital und Renditeerwar- tung als Vertragspartner anzuerkennen. Hausprojekte nutzen daher für ihre Finanzierungen überwiegend alterna- tive, ethische bzw. soziale Banken, die in etlichen europäischen Ländern seit den 1970er-Jahren entstanden sind. Die deutsche GLS Bank, die zahlreiche Häuser des Mietshäuser Syndikats finanziert hat, wurde 1974 gegründet und ist eine der ältesten ,ethischen‘ Banken. Die 1980 gegründete niederländische Triodos Bank hat mittler- weile Filialen in sechs europäischen Ländern. Die Alternative Bank Schweiz besteht seit 1990, die italienische Banca Etica (geg. 1998) ist auch in Spanien aktiv. Der Versuch, in Österreich die Bank für Gemeinwohl zu gründen, ist 2018 gescheitert. Für alterna- tive Banken sind Hausprojekte, die soziale und ökologische Kriterien erfüllen, bevor- zugte Kreditnehmer*innen, weil sie inhaltlich perfekt ins eigene Portfolio passen und die Absicherung durch die gebaute oder gekaufte Immobilie sehr hoch ist. Betrei- ber*innen von Hausprojekten wissen aber nur allzu gut, dass diese Banken eben auch nur Banken sind und sich die Konditionen von denen klassischer Banken oft nicht wirklich unterscheiden, auch wenn sie die Projekte unterstützenswert finden und die Anliegen besser ,verstehen‘ als das ,normale‘ Banken tun. 5.3. SOLIDARISCHE NETZWERKE Die Finanzierung eines Wohnprojekts setzt eine Reihe von Kenntnissen und Fertig- keiten voraus, die eine einzelne Projektgruppe schnell überfordern würden.
Neben der Koordination von Planung und Bau stehen Kauf- und Pachtverträge, Einwerbung und Verwaltung von Direktkrediten, Verhandlungen mit Banken über Darlehensver- träge, Beantragung und Administration von Förderprogrammen, Buchführung und Steuererklärungen auf dem Programm der selbstverwalteten Wohnprojekte. Andrej Holm, Christoph Laimer 147 Die Bewältigung der verschiedenen finanzbezogenen Aufgaben setzt in den Gruppen eine Bereitschaft zur Einarbeitung voraus, sie kann aber auch auf das kollektive Erfah- rungswissen von bereits bestehenden Projekten zurückgreifen. Insbesondere im Miets- häuser Syndikat, einigen Stiftungen (trias, Edith Maryon) und Netzwerken (Immovielien, Initiative für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen) haben sich in den letzten 20 Jahren tragfähige Strukturen der gegenseitigen Unterstützung herausgebildet. Neue Projekt- gruppen können so durch Beratungen, direkten Erfahrungsaustausch, Schulungsver- anstaltungen und die Vermittlung von Ansprechpersonen unterstützt werden. 6. FAZIT Die Realisierung von selbstverwalteten und gemeinschaftlichen Wohnprojekten kann ohne alternative Finanzierungsmodelle nicht gelingen. Der Anspruch, Grundstücke und Immobilien ,vom Markt zu nehmen‘ und dauerhaft leistbare Wohnbedingungen zu schaffen, ist mit einer klassischen Finanzierung über Zins und Tilgung von Bank- darlehen nicht zu erfüllen. Die von uns untersuchten Haus- und Wohnprojekte haben insbesondere mit Erbpachtverträgen und Direktkrediten einen solidarischen und tragfähigen Weg entwickelt, die Refinanzierungskosten zu reduzieren. Die Erfahrung aus einer wachsenden Anzahl von Projekten ermöglicht dabei immer detailliertere Variationen, um die Finanzierung den Idealvorstellungen eines gemeinwirtschaftli- chen Kreislaufs von Finanzierung, Bau und Bewirtschaftung näher zu kommen.
Die Mobilisierung von gemeinnützigen Vermögensanlagen in Stiftungen oder Direktkrediten ist dabei keine temporäre Notlösung der Finanzierung, sondern ein zukunftsträchtiger Schritt der Transformation der Wohnbauökonomie. Zwei Aspekte sind dafür mitverantwortlich, dass die Zeit für die alternative Finanzierung von Hausprojekten derzeit sehr gut ist. Erstens: Banken zahlen für Einlagen derzeit fast keine Zinsen, was alternative Angebote interessant macht und zweitens: Speziell seit der Bankenkrise sind viele Menschen Banken gegenüber sehr kritisch eingestellt und gesellschaftlich sinnvollen Angeboten gegenüber deswegen besonders aufge- schlossen. Die erfolgreichen Beispiele zeigen, dass es möglich ist, auch innerhalb des bestehenden ökonomischen Systems andere Wege zu gehen. Sie können neuen Projekten den Mut und die Zuversicht geben, es ebenfalls zu versuchen. Insofern ist es wichtig, an den vorhandenen Modellen weiterzuarbeiten, neue, vielleicht noch bessere zu entwickeln und alle gemeinsam sowohl in der Fachwelt als auch in der Öffentlichkeit zu präsentieren und diskutieren. 1 Die durchschnittliche Miethöhe inkl. Betriebskosten und Steuer lag in den von ge- meinnützigen Wohnbauträgern errichteten Wohnungen 2019 mit 7,20 Euro um 23 Pro- zent unter denjenigen der gewerblichen Bauträger (Kössl 2019). 2 SchloR hat das Grundstück und die Bestandsgebäude 2019 gekauft und plant für einen späteren Zeitpunkt einen zusätzlichen Neubau. 3 Es ist allerdings zu erwarten, dass es künftig mehrere dieser Projekte geben wird, weil immer mehr Städte dazu übergehen, ihre Grundstücke vorrangig im Erbbaurecht zu vergeben. Ein konkretes Projekt ist derzeit z. B. in Wien in Planung. 4 Zum Thema Stiftungen siehe auch Horlitz in diesem Band. Alternative Finanzierungsinstrumente für Haus- und Wohnprojekte 148 QUELLEN Berliner Stadtbodenstiftung 2020: Ein Community Land Trust (CLT) für Berlin.
https://stadt bodenstiftung.de. Distelberger, Markus 2015: Was ist ein Vermögenspool? http://www.vermoegenspool.at/ was.php. LaFond, Michael; Knorr-Siedow, Thomas; Behm, Alexander; Sacharow, Andre 2020: Com- munity Land Trust: Die Idee einer sozialen Bodenplattform. In: Polis. https://polis-maga- zin.com/2020/01/community-land-trust-die-idee-einer-sozialen-bodenplattform. Preissing, Sigrun 2019: Die Beziehungshaftigkeit des Habens nähren. In: Oya 56/2019, S. 42–43. Kössl, Gerald 2019: Aktuelle Mietentwicklung in Österreich. https://www.gbv-aktuell.at/ news/667-aktuelle-mietentwicklung-in-oesterreich. Kössl, Gerald 2020: Wie viele Wohnungen haben Gemeinnützige Bauvereinigungen (GBV) 2019 gebaut? https://public.tableau.com/profile/gemeinnuetzige#!/vizhome/GBV_Bi- lanz_2019/Story1. Laimer, Christoph 2019: Alternative Finanzierungsinstrumente für Haus- und Wohnprojek- te. In: future.lab Magazin, Ausgabe 12, Oktober 2019, S. 16–17. Mensch, Christian 2018: Milliardärserbin Beatrice Oeri verlässt die Stiftung Habitat. In: bz Basel, 11.1.2018. https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/milliardaerserbin-beatri- ce-oeri-verlaesst-die-stiftung-habitat-132074494. Österreichische Finanzmarktaufsicht 2017: Information der FMA zu Nachrangdarlehen. https://www.fma.gv.at/download.php?d=2847. Rechtsinformationssystem des Bundes 2015: Bundesgesetz über alternative Finanzie- rungsformen (Alternativfinanzierungsgesetz – AltFG). https://www.ris.bka.gv.at/Gelten- deFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20009241. Stiftung Habitat: Leitbild. https://www.stiftung-habitat.ch/sh/stiftung/leitbild.html. Stiftung Edith Maryon o. J.: Was wir tun – und warum wir es tun. https://maryon.ch/stif- tung/leitbild-ziele. Stiftung trias o. J.: Die Stiftung. Ein kurzer Überblick. https://www.stiftung-trias.de/die-stif tung/kurz-knapp/?L=0. Stiftung trias 2002: Die Satzung.
https://www.stiftung-trias.de/fileadmin/media/down- loads/2017_trias_Satzung.pdf. ANDREJ HOLM Andrej Holm ist promovierter Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Themen sind die Stadt- und Wohnungs- politik sowie die damit verbundenen gesellschaftlichen Konflikte. In seinen Forschungs- projekten beschäftigte er sich u. a. mit Stadterneuerung, Gentrification und Förderpro- grammen im Bereich der Stadtentwicklung. CHRISTOPH LAIMER Christoph Laimer hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert. Er ist Gründer und Chefredakteur von dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Ko-Kurator von urbanize – Internationales Festival für urbane Erkundungen, Mitglied von Bikes and Rails – Verein zur Förderung gemeinschaftlichen Wohnens und nachhaltiger Mobilität, INURA – International Network for Urban Research and Action und habiTAT, dem österreichi- schen Mietshäusersyndikat. Andrej Holm, Christoph Laimer 149 151 https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_12 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. Nikolas Kichler, Izabela Głowińska, Paul Adrian Schulz, Mikka Fürst Kollektiver Selbstbau als Testfeld für neue Produktionsweisen Cities have the capability of providing something for everybody, only because, and only when, they are created by everybody. — Jane Jacobs 1. DIE MISERE DER BAUWIRTSCHAFT UND DIE NOTWENDIGKEIT EINER DISRUPTIVEN BAUPRAXIS 1.1. STÄDTE UND GEBÄUDE ZUR ERFÜLLUNG VON BEDÜRFNISSEN Urbaner Wohnbau in den Metropolen und Großstädten wird heute im großen Maßstab geplant und in industriellem Stil errichtet. Sowohl die individuellen als auch die kollektiven Bedürfnisse der künftigen Bewohner*innen und Nutzer*innen spielen dabei höchstens eine untergeordnete Rolle.
Im Mittelpunkt stehen Standards, Normen und Durchschnittswerte – ein Austausch mit den künftigen Bewohner*innen findet in der Regel nicht statt, was zu Entfremdung voneinander und verstärkter Indi- vidualisierung führt. Abgesehen von einzelnen Initiativen – wie z. B. Baugruppen – haben Bewohner*innen selten Einfluss auf die Entstehung ihrer Lebensumgebung, sind am Wohnungsmarkt Konkurrent*innen und haben keine andere Wahl als aus dem am Markt Verfügbaren auszuwählen. Es bleibt ihnen nichts übrig als ihre Bedürf- nisse den Bedingungen anzupassen. Weder der geförderte Wohnbau noch das freifi- nanzierte Angebot am Wohnungsmarkt sind in der Lage, Alternativen zu schaffen. Paternalistische Ansätze oder der freie Markt helfen hier nicht weiter. Es entstehen Siedlungen, in denen Nachbarschaft und gegenseitiges Kennenlernen nicht gedeihen können, in denen Menschen vereinsamen anstatt gemeinsam zu agieren. Dies wirft die Frage auf, ob die Stadt- und Gebäudeproduktion dem Markt und seiner Verwertungslogik überlassen werden sollte. Oder ob andere, bessere Ergeb- 152 nisse abseits des industriellen Massenwohnbaus möglich sind, wenn die Nutzer*innen sich verstärkt an diesen Prozessen beteiligen können. Wie können Häuser und Städte entstehen, die Lebensweisen nicht determinieren, sondern freie Entfaltung ermög- lichen? Häuser und Städte, die aneigenbar und flexibel genug sind, um an neue Situ- ationen angepasst zu werden. Voraussetzung dafür ist ein Planen und Bauen auf Basis von Mitbestimmung und Mitwirkung – ein Prozess, der Selbstermächtigung fördert. Auf diesem Weg kann die Planung, Nutzung und Erhaltung von Gebäuden inklusiv und nicht entfremdend verlaufen. Eine solche kollektive Praxis der Raum- produktion ändert unser Verhältnis zum Raum und unsere Möglichkeiten, in ihm zu agieren (Illigens 2017: 37ff.).
Soziale Inklusion setzt – im Gegensatz zur Integration – nicht auf die Vereinheitlichung von Minimalanforderungen, sondern nimmt alle unterschiedlichen Bedürfnisse wahr, gibt ihnen Raum und jeder Person die Chance, Lebensbedingungen mitzugestalten; wie Häuser und Städte im Projekt Haus von A bis Z (Scherbaum, Schulz 2013) – einem kleinen Vereinshaus im Garten der Genera- tionen in Niederösterreich, bei dem die Inklusion sowohl in der Planung als auch im Selbstbauprozess sowie in der Nutzung von kleinen Kindern bis zu Pensionist*innen reichte. Auch in den meisten großen Baugruppenprojekten zwischen Berlin, Frei- burg, Tübingen, Wien oder Zürich kann von Inklusion gesprochen werden, die sich hier allerdings häufig nur auf die Planungs- oder die Nutzungsphase bezieht. Im gängigen Wohnbau hingegen sind die künftigen Bewohner*innen in der Planungs- und Ausführungsphase noch gar nicht bekannt und können sich daher nicht daran beteiligen. Hier wird – sofern sie überhaupt angestrebt ist – die Integration in der Form realisiert, dass Planende und Ausführende mögliche Bedürfnisse der späteren Mieter*innen bzw. Käufer*innen nur antizipieren und in vereinheitlichten Minimal- anforderungen umsetzen. 1.2. STÄDTE UND GEBÄUDE AUF BASIS VON BEDÜRFNISSEN Wenn die Nutzer*innen die Möglichkeit erhalten, in einem kollektiven Prozess bei der Planung und Gestaltung von Räumen mitzuwirken, bietet sich ihnen die Chance, über ihre eigenen Bedürfnisse in Bezug auf den Raum nachzudenken und daran zu wachsen. Wichtig werden hierbei Fragen wie: „Was hätte ich eigentlich gerne für mich?“ und: „Wie lassen sich meine Wünsche mit den Wünschen anderer verein- baren?“. Dies erfordert Verhandlungsprozesse und Kompromisse mit dem Ziel, Entscheidungsgrundlagen für die Erfüllung der Bedürfnisse zu erarbeiten und ein höchstmögliches Maß an Zufriedenheit für alle zu erreichen.
Genau das kann über den Markt nicht erreicht werden. Das Inklusionsprinzip bedeutet das Schaffen von Voraussetzungen, jeder*jedem eine individuelle Teilhabe zu ermöglichen und ist eine der wesentlichen Grundlagen für gute Zusammenarbeit und künftige gemeinschaft- liche Nutzungen (soweit dies gewünscht wird). Im Verlauf solcher Prozesse können wir beobachten, dass nicht nur eine subjektive Identifikation mit dem Raum entsteht, sondern sich auch das Verhältnis zu ihm verändert. Durch die Bezogenheit wird der Pflege, der Erhaltung und der Schadensvermeidung mehr Aufmerksamkeit geschenkt, was neben der sozialen auch eine ökologische und eine ökonomische Dimension hat. „Was ich selber mache, mache ich doch nicht kaputt“, meinte einst der Stadtsoziologe Jens Dangschat in einer Vorlesung. Innerhalb der aktuellen Wirtschaftsweise können Wachstums- und Konkur- renzzwang nicht überwunden werden, da diese selbst integrale Bestandteile davon sind. Klimawandel, Ressourcenausbeutung und CO2-Emissionen kann entsprechend Nikolas Kichler, Izabela Głowińska, Paul Adrian Schulz, Mikka Fürst 153 seit Jahrzehnten nichts entgegengesetzt werden. Daher macht es Sinn, abseits der Marktlogik nach Lösungen zu suchen und neue Methoden zu entwickeln, denn die Folgen des Wachstumszwangs zerstören den Planeten und somit die Lebensgrund- lage der Menschheit. 1.3. EIN PAMPHLET ZUM STATUS QUO Unökologische, nicht regionale oder primär billige Baustoffe und Bauweisen sind, entsprechend der Verwertungslogik des Marktes und des Wirtschaftswachstumsprin- zips, der Standard. Um dem Kostendruck standzuhalten, werden Leiharbeiter*innen aus der Ferne angeheuert und häufig ausgebeutet (o. V. 2014). Sie müssen mit billigen, umwelt- und gesundheitsschädlichen Materialien arbeiten – gleichzeitig prägen unge- sunde Arbeitsbedingungen und Termindruck das Geschehen.
Schadenersatzforde- rungen bei Verzögerungen am Bau sind oft höher als z. B. Strafen für die Missachtung von Corona-Maßnahmen. Zu Beginn der Corona-Krise wurden Baustellen deshalb oft gar nicht eingestellt (Kachelmeier 2020). Es fehlen Zeit und Geld für ökologische Fragen oder vernünftige Ressourcenkreisläufe, und das, obwohl die Errichtung und Nutzung von Gebäuden 39 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen (UN Environment and Inter- national Energy Agency 2017: 14) verursachen. Im Glauben an ein unendliches ökono- misches Wachstum trägt auch die Baubranche zu enormem Konsum vor allem im Globalen Norden und zur Ausbeutung der Ressourcen des endlichen Planeten bei. Auch für die Gestaltung, die ein Gebäude besonders machen könnte, wird am Ende gerne das Budget gekürzt. Der Billigstbieter kann schließlich mit dem Bau beginnen. So werden ganze Stadtviertel zumeist von männlichen Bauarbeitern aus dem Boden gestampft, die dort am Ende selbst nicht wohnen werden. Die Arbeitsteilung ist von geschützten Berufsgruppen geprägt, deren mangelnde Kooperation übergreifende Lösungen unter- bindet. Auch die Stadtplanung ist eine getriebene Akteurin im Spiel dieser Kräfte und bemüht sich oft vergeblich, die Bewohner*innen vor der drohenden Unwirtlichkeit ihrer Lebensräume zu bewahren. In der systemischen Falle stehen auch die kleineren, progressiven Planungsbüros, denen es an Kapazitäten oder wirtschaftlichen Voraus- setzungen fehlt, um am Wettbewerb der Ideen teilnehmen zu können – so bestimmen Bauträger und große Architekturbüros das Geschehen. Zugleich steigen die Grund- stückspreise, die Anzahl der Normen, Qualitätsstandards und Materialpreise – mit allen Konsequenzen für Nutzer*innen und Produzierende. Ohne eine Prise Disruption – so scheint es aktuell – dürften diese mächtigen Strukturen des Bauwesens innerhalb der Marktlogik nicht überwindbar sein. 1.4.
BESETZTE HÄUSER, BAUGRUPPEN UND FABLABS In bestehenden Stadtstrukturen finden sich Qualitäten der Selbstverwaltung und des Selbstbaus seit den späten 1960er-Jahren vor allem in besetzten Häusern, 1 welche nach Bedarf auch in Selbsthilfe saniert, umgebaut oder ausgebaut werden (siehe dazu den Artikel von Bernet in diesem Band). Über die Nutzung der Räume wird meist kollektiv entschieden. Gemeinschaftsräume und Orte der Begegnung spielen im Sinne der Inklusion eine große Rolle. Das Vorhandene wird wahrgenommen, wert- geschätzt und gegebenenfalls angepasst. Die erkämpften Orte werden zu Experimen- tierfeldern der Gemeinschaft und stellen Variationen lebendiger kreativer Gestaltung und Nutzung dar. Der Eigenanteil der Beteiligten ist hoch, und an Arbeit fehlt es nicht. In der Vergangenheit gab es ähnliche Organisationsformen mit Selbstbau-Anteil z. B. Kollektiver Selbstbau als Testfeld für neue Produktionsweisen 154 in der Wiener Siedler*innenbewegung oder in noch ausgeprägterer Form in den Kibbuzim, in denen es nicht nur Ziel war, eine etwas angenehmere Nische im erdrü- ckenden Bestehenden zu schaffen, sondern eine neue Gesellschaftsutopie zu entwi- ckeln, deren Wurzeln z. B. bis in die frühe Sowjetunion reichten. 2 Darüber hinaus sind als herausragende urbane Einzelprojekte mit Selbstbau-Schwerpunkt zu erwähnen: das Wohnregal in Berlin-Kreuzberg oder das Ökohaus in Berlin-Tiergarten – beides Beiträge zur Internationalen Bauausstellung 1987. Ansatzweise gilt das auch für die Wohnprojekte Ottokar Uhls in Wien und Umgebung in den 1970er- und 1980er-Jahren, wobei der Selbstbau über die Konzeption nicht hinauskam. Oder aber die Selbstbau- Architekturen im Lehmbau Gernot Minkes, von denen viele – gerade auch wegen geringerer baurechtlicher Anforderungen – in Ländern des globalen Südens reali- siert wurden.
Kommunen wie das Ökodorf Sieben Linden in Sachsen-Anhalt, Can Masdeu in Barcelona oder Tamera in Portugal haben in den letzten Jahren vermehrt Selbstbau-Praktiken angewendet. Neben dem Selbstbau im reinen Lehmbau hat sich in den vergangenen dreißig Jahren auch eine bemerkenswerte weltweit verbrei- tete Szene des ökologischen Strohballenbaus entwickelt, die unter anderem in den regelmäßigen European Straw Bale Gatherings zusammenkommt – wobei dort eine ausgeprägte Verschränkung des Gemeinschafts-Aspekts beim Selbstbauen mit einem hohen technischen Grad und Interesse an baulichem Fachwissen auffällt. Das Beson- dere hierbei ist auch, dass in dieser Szene nicht unbedingt Architekt*innen im Vorder- grund stehen, sondern oft auch von Autodidakt*innen geplant wird, die es teilweise zu erheblicher Professionalität gebracht haben. Zuletzt ist zu beobachten, dass auch in solidar-ökonomischen Gemeinschaftsprojekten oder jenen, die sich als Commons- Projekte verstehen, ein steigendes Interesse an praktischer Umsetzung mit Selbstbau erkennbar ist (siehe den Beitrag von Helfrich u. a. in diesem Band). Zahlreiche Bauprojekte, die durch sogenannte Baugruppen initiiert worden sind, haben bis heute bewiesen, dass eine solche Art der Organisation des Planens und des Nutzens auch im Neubau gut funktionieren kann. Gemeinschaftliches Planen dauert zwar länger, erfordert entsprechenden Kommunikationswillen und ist nicht immer konfliktfrei – dafür aber nachhaltiger. Wenn alles ausverhandelt werden kann, erhöht das die Lebensqualität jeder einzelnen Person innerhalb der Gruppe über weite Stre- cken. Was aber bei solchen Projekten bislang häufig nicht berücksichtigt wird, ist die Frage des Bauprozesses an sich. Es wird viel über die Nutzung im allgemeinen Sinne nachgedacht, weniger über den Entstehungsprozess.
Darüber hinaus lohnt auch ein Exkurs in die sogenannte Maker-Szene: Ihr entspringen die sogenannten FabLabs (fabrication laboratories) – Werkstätten, die in jeweils unterschiedlichem Grad Selbstorganisation, Selbstverwaltung und Selbst- produktion aufweisen. Diese weltweit verbreitete Idee bietet einen Raum, in dem mithilfe vorhandener Maschinen und Werkzeuge (high und low tech) Ideen von Produkten für den Eigenbedarf oder für Prototypen umgesetzt werden können. Die sogenannten ,Maker‘ haben vor Ort Zugang zu notwendigen Produktionsmitteln, die sie brauchen, um die eigenen Bedürfnisse mittels ihrer selbstgebauten Objekte stillen zu können. Von einfachen Werkzeugen wie Hämmer und Sägen, über Nähmaschinen und Schweiß-Labore, bis hin zu 3D-Druckern, CNC-Fräsen und Plasma-Cuttern gibt es dort oft eine beeindruckende Bandbreite der verschiedensten Tools. Solche Orte können als Erweiterungsmöglichkeit für den Selbstbau gedacht werden und wurden bereits in so manches Wohnprojekt 3 integriert. Auf diese Weise erhalten die Bewoh- ner*innen eine Option, die Ausstattung ihrer Räume selbst zu produzieren oder das Vorhandene selbst reparieren zu können. Nikolas Kichler, Izabela Głowińska, Paul Adrian Schulz, Mikka Fürst 155 1.5. VON DEN CHANCEN EINER INKLUSIVEN BAUPRODUKTION Um einen Raum also für gänzlich neue Ansätze aufzuspannen, muss der Schritt von der Entfremdung zur Öffnung gewagt werden – sapere aedificate! 4 Inklusion heißt dabei, nicht nur neue Akteur*innen und die Bedürfnisorientierung in den Baubereich zu bringen, sondern darüber hinaus in diesem Rahmen neue Produktionsweisen zu entwickeln und zu testen, die nicht der Markt- und Tauschlogik unterworfen sind. Frische und von Fachwissen ,unbelastete‘ Köpfe werden plötzlich nicht mehr ausge- schlossen und neue unkonventionelle Lösungsansätze begrüßt.
So können sowohl die Planungsphase als auch die Baustelle sowie die Nutzungsphase zur Bühne span- nender Experimente werden. 2. PRAXISVERSUCHE UND ERKENNTNISSE AUS DEM SELBSTBAU The future is not some place we are going, but one we are creating. The paths are not to be found, but made. And the activity of making them changes both the maker and the destination. — John Schaar 2.1. DAS PROJEKT VIVIHOUSE Inklusiv und gemeinsam zu bauen, erfordert je nach Personengruppe bestimmte Voraussetzungen: Es bedeutet beispielsweise für die Bauenden, dass verschiedene Herangehensweisen nebeneinander funktionieren müssen – abhängig von den verfügbaren Materialien, Werkzeugen und den unterschiedlichen handwerklichen Fähigkeiten der beteiligten Personen. Eine modulare Bauweise, die unterschiedliche Zugänge nebeneinander vereint, würde hier Abhilfe schaffen. Für die Nutzer*innen hingegen geht es vor allem darum, all die unterschiedlichen Bedürfnisse (Formen des Zusammenlebens, geschlechter-, körper- und altersspezifische Anforderungen, diskriminierungsfreie Zugänglichkeit für Minderheiten sowie Menschen mit Behin- derungen und Lernschwierigkeiten) in einem Gebäude unterzubringen. Daher ergibt es Sinn, Gebäude zu errichten, die so offen und flexibel wie möglich sind und sich leicht an Veränderungen anpassen lassen. Für die Planenden braucht es geeignete Schnittstellen, damit sie aufeinander aufbauend und kollaborativ die Projekte und Technologien weiterentwickeln und voneinander lernen können. Nimmt man auch die künftigen Generationen in Betracht, dann sind diese Gebäude zweifellos ökolo- gisch, können ohne Zerstörung rückgebaut oder ihre Baumaterialien durch Recyc- ling wieder in den Naturkreislauf zurückgeführt werden.
Mit all diesen Gedanken und Ansprüchen im Kopf haben wir uns als kleine Gruppe von Architekten*innen daran gemacht, die erst später von uns so genannte Vivihouse-Bauweise zu entwickeln. Ziel dabei war es, ein statisch-konstruktives Grundgerüst zu erarbeiten, das viele der eben genannten Ansätze nicht nur denkbar, sondern umsetzbar macht. In der Entwicklung ging es darum, den Gedanken der Selbstverwaltung auf die Errichtung mehrgeschossiger Neubauten zu übertragen, und zwar so, dass der Produktionsprozess für viele Menschen abseits der etab- lierten Bauindustrie zugänglich wird. Die Szenarien, die sich auf diese Weise reali- sieren lassen würden, sollten vielfältig bleiben und nicht durch die Bauweise vorge- geben werden. So sollten die jeweiligen Projekte ausgehend von den Bedürfnissen der beteiligten Menschen sehr divers sein können. Was Vivihouse dabei besonders Kollektiver Selbstbau als Testfeld für neue Produktionsweisen 156 Nikolas Kichler, Izabela Głowińska, Paul Adrian Schulz, Mikka Fürst Abb. 1: Vivihouse 6-Geschosser. Zeichnung: Vivihouse, CC BY-SA. Beispiel für eine mögliche Anwendung in einer Baulücke im urbanen Raum. Abb. 2: Vorproduktion von Außenwand-Elementen im Vivihouse- Bauworkshop. Foto: Vivihouse, CC BY-SA. Am Workshop in Untertullnerbach im Herbst 2019 haben Stu- dierende der TU Wien und der Architekturhochschule Straßburg teilgenommen. 157 Kollektiver Selbstbau als Testfeld für neue Produktionsweisen Abb. 3:. 3-geschossiger Vivihouse-Prototyp. Foto: Vivihouse, CC BY-SA. Der Prototyp ist Teil der Internationalen Bauausstellung IBA-Wien 2022 und steht im Donaufeld, Wien, Herbst 2020. 158 macht, ist die Möglichkeit, bis zu sechsgeschossige Gebäude auf ökologische Art und Weise gemeinsam und unabhängig von der handwerklichen Vorerfahrung errichten zu können, während baurechtliche Herausforderungen im Vorfeld schon weitgehend vorweggenommen werden.
Der Name Vivihouse stammt von konvivial, einem Begriff, den der Philosoph Ivan Illich in den 1970er-Jahren prägte. In seinem Buch „Tools for conviviality“ kritisiert er den unreflektierten Gebrauch von Werkzeugen und ruft dazu auf, sich Technologien wieder so anzueignen, dass diese dem Leben dienen, anstatt es zu belasten. Wenn es allen möglich ist, auf eine selbstbestimmte Weise mehrgeschossige Gebäude aus erneuerbaren Ressourcen zu bauen – um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen – dann ist das, so würde Illich meinen, konvivial. Das Projekt begann 2016 mit einer Analyse der gegenwärtigen mehrgeschossigen Holzbauweisen, der Methoden des Selbstbaus und all jener Komponenten, die ein Bauwerk umweltfreundlich und nachhaltig machen. Darauf aufbauend wurden drei Vorgehensweisen herausgearbeitet, die 2017 in einem Buch, dem „Toolkit für urbanen Selbstbau“ veröffentlicht wurden (Fürst/Kichler/Schulz 2017). Aus den Synergien dieser Ansätze wiederum entstand schließlich die Vivihouse-Bauweise. Nach einer Planungsphase und mehreren Bauworkshops konnte damit 2018 in Niederösterreich ein eingeschossiger und im Sommer 2020 in Wien ein dreigeschossiger Prototyp errichtet werden, an dessen Bauprozess über hundert Personen – größtenteils Archi- tekturstudierende der TU Wien – beteiligt waren (siehe Abb. 1 - 3). 2.2. WAS ZU SELBSTBAUPROJEKTEN VORAB GESAGT WERDEN MUSS Ein solches Projekt in Angriff zu nehmen, ein ganzes Wohnprojekt umzusetzen, erfordert Zeit. Von der Planung bis zum Einzug dauert es in der Regel mehrere Jahre. Abhängig von der verfügbaren Zeit können alle oder bestimmte Teile des Gebäudes selbst hergestellt werden. Die Aufteilung des Prozesses in Etappen sollte Ausstiegsszenarien vorsehen, falls es zu unvorhergesehenen Problemen kommt. Im Idealfall ist der Gebäudeentwurf so gegliedert, dass Bau und Nutzung in Phasen erfolgen können.
Es empfiehlt sich, ein Budget zu reservieren, das gegebenen- falls die konventionelle Fertigstellung eines Bauabschnitts oder des Gebäudes ermöglicht. Zu Projektbeginn ist es wesentlich, dass sich die Bau-Erfahrenen um das Verständnis der technischen Inhalte kümmern und zwar in einer Weise, dass sich alle an den wesentlichen Entscheidungen beteiligen können. Dies ist nicht nur für die Bau- und Planungsphase hilfreich, sondern verringert auch die Abhän- gigkeit von Professionist*innen für anschließende Pflege- und Wartungsarbeiten. Da die Bauwirtschaft von trennender und geschützter Arbeitsteilung geprägt ist, besteht hier ein besonderes transdisziplinäres Potenzial. Das bewusste Herstellen von Offenheit gegenüber Kreativität und der Vielfalt unterschiedlicher Ansätze sowie das Zurückweisen von hierarchisch motivierten Handlungen sind integ- rale Bestandteile einer inklusiven Planungs- und Bauphase, wie das Zulassen von Fehlern und deren Korrekturen. Do-it-together-Projekte unterscheiden sich von konventionellen Bauprojekten nicht nur durch den Bauablauf, sondern vor allem auch im Planungsprozess und in den logistischen Vorbereitungen vor Baubeginn. Aus diesem Grund ist die Planungsphase nicht nur eine einfache Entwurfsübung, sondern ein Prozess, in dem der Selbstbauprozess ständig mitgedacht wird, wie im folgenden Punkt genauer beschrieben wird. Nikolas Kichler, Izabela Głowińska, Paul Adrian Schulz, Mikka Fürst 159 2.3. WIE BAUVORHABEN FÜR DEN SELBSTBAU BEGÜNSTIGT WERDEN KÖNNEN Wie können Lai*innen bis zu sechsgeschossige ökologische Gebäude selbst errichten? Das war eine der zentralen Ausgangsfragen, die im Projekt Vivihouse gestellt wurden.
Nach der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Bauweisen war schnell klar, dass der Weg der Vorfertigung in einer Produktionshalle der für Lai*innen sinnvollste und sicherste sein würde – im Gegensatz zum ausschließlichen Bauen auf dem Grund- stück. Denn so können wetterunabhängig alle wichtigen Bauteile auf Bodenniveau vorproduziert werden und die Lai*innen dabei leichter unterstützt und die Bauteile besser überprüft werden. Letztere werden später im Laufe einer sehr kurzen Baustel- lenzeit am Grundstück montiert. Ein großes Potenzial liegt in der Verschränkung der Vorfertigung mit dem Innen- ausbau eines sogenannten Raumregals – sie hilft, sicher in die Mehrgeschossig- keit zu kommen. Die im Selbstbau vorgefertigten Bauelemente können danach am Grundstück von Profi-Zimmerleuten zu einem solchen mehrgeschossigen Raumregal zusammengesetzt werden. Sind die Stützen und Streben, die Geschossebenen und die Gebäudehülle einmal aufgebaut, kann der ebenfalls relativ sichere Innenausbau des Raumregals vor Ort im Selbstbau von den Lai*innen ausgeführt werden. Als Raumregal wird im Architekturdiskurs meist eine offene Grundrissstruktur bezeichnet, die einen Rohbau mit wenig Zwischenwänden beschreibt, welche erst später je nach Bedarf flexibel eingebaut werden können. Dadurch kann eine Nutzungs- offenheit erreicht werden, die den vielen Möglichkeiten für den Aus- und Umbau im Selbstbau gerecht wird. Raumregale müssen dabei keineswegs neutral gestaltet sein, können auf die lokalen Qualitäten eingehen und bestimmte Nutzungen begünstigen. Sie sind auch nach Jahren noch leicht umbau- und umnutzbar und somit – anders als viele Gebäude, die in gängigen Konstruktionsweisen errichtet wurden – wesentlich besser vor einem vorschnellen unökonomischen und unökologischen Gebäudeabriss geschützt.
Der Weg der Vorfertigung hat bestimmte logistische Konsequenzen für die Bauweise: Die Bauteile müssen auf LKWs passen, haben Schnittstellen zueinander und dürfen weder zu schwer noch zu groß für den Kran oder den Transport werden. Im Vivihouse-Projekt konzentrieren wir uns auf die platzsparend lagerbaren Flächen- elemente. Alternativ könnten auch dreidimensionale Raumzellen vorgefertigt werden, die in der Produktionsphase bis zur Möblierung ausgestattet werden können, aber wesentlich mehr Lagerraum und eine höhere Anzahl an LKW-Fahrten für den Trans- port benötigen. Die Frage hierbei ist also: In welche Modularität, in welche Größe seiner Einzelteile lässt sich das Gebäude derart unterteilen, dass Logistik und Selbst- bauprozess auch für Lai*innen handhabbar bleiben? Eine übermäßige Abhängigkeit von Deckenkränen, Gabelstaplern, Spezialwerk- zeugen oder anderen Kränen sollte soweit wie möglich vermieden werden. Aus prak- tischer Sicht ist es von Vorteil, die Bauweise etwas kleinteiliger zu gestalten, wobei der Schwerpunkt auf leicht verfügbaren, standardisierten und manipulierbaren Bauma- terialien liegen sollte, die für die Beteiligten gut beherrschbar sind und notfalls auch vom Baumarkt bezogen werden könnten. Hat man sich einmal dafür entschieden, lautet die Folgefrage: Wie wichtig ist es, dass das Gebäude zu einem späteren Zeitpunkt erweitert oder verkleinert oder sogar komplett demontiert und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden kann? Kollektiver Selbstbau als Testfeld für neue Produktionsweisen 160 Denn sobald modular vorgefertigt wird, lässt sich dies mit etwas zusätzlichem Aufwand mit dem Konzept der zerstörungsfreien Demontierbarkeit verbinden.
Vivihouse wurde als modulares Bausystem entwickelt, wodurch die Komponenten demontiert und an anderen Standorten weiterverwendet werden können – bei Bedarf auch in ganz anderer Konfiguration – wodurch Ressourcenkreisläufe auf der Bauelement-Ebene ermöglicht werden. Dadurch können die in Gebäuden verbauten Komponenten, die beispielsweise aus Holz, Stroh, Lehm oder Kalk bestehen, als langlebige CO2-Speicher fungieren – so lange, wie sie dadurch der Kompostierung entgehen. 2.4. WELCHE VORBEREITUNGEN NOTWENDIG SIND Die Vorfertigungsprozesse finden in Produktionshallen statt. Wenn deren Stan- dard-Einrichtung noch keinen logischen Aufbau aller im Bauworkshop nötigen Arbeitsabläufe nahelegt, sollten die Arbeitsschritte im Vorfeld gut überlegt werden: Wo können die Rohstoffe gut angeliefert und gelagert werden? Wo muss der Rangierbereich für den Gabelstapler freigehalten werden? Welches ist der einge- grenzte Bereich, in dem der Deckenkran arbeiten kann? Wo sollen die fertigen Elemente abgelegt werden? Für welche Tätigkeiten ist ein Wasseranschluss nötig? Je größer der Kreis der beteiligten Personen ist, desto wichtiger werden Fragen der Infrastruktur für Küchen und Sanitärräume, der Übernachtungs-, Pausen- und Ruheräume etc. Bevor der Bauprozess beginnen kann, müssen die benötigten Materialien bestellt und angeliefert werden. Es ist wichtig, frühzeitig die entsprechenden Vorlaufzeiten zu beachten. Diese variieren je nach Hersteller*in und erstrecken sich fast immer über mehrere Wochen. Bei Holzprodukten hilft es sehr, sich möglichst viele Kompo- nenten gleich auf die richtige Länge oder Größe geschnitten liefern zu lassen, damit der Aufwand für Sägearbeiten, die nur mit großen Sägeblättern durchgeführt werden können, wegfallen kann.
Bei der Materialwahl sind die einfache Bearbeitbarkeit und die Möglichkeit nach- träglicher Korrekturen besonders wichtig – also jene Eigenschaften, die in der Regel von ökologischen und natürlichen Rohstoffen geboten werden. Holz, Strohballen, Lehm- und Kalkputze gehören zu den Baustoffen, die sich derzeit im Rahmen des Do-it-together-Baus weltweit großer Beliebtheit erfreuen. Diese tragen außerdem dazu bei, den ökologischen Fußabdruck des Projekts klein zu halten. Gebäude, die den heutigen Anforderungen entsprechen müssen, sind oft komplex, sodass es zunächst nicht immer einfach erscheint, einen handhabbaren Bauprozess für alle Beteiligten zu erreichen. Daher wurde beim Vivihouse-Prototyp die Strategie des Freispielens angewandt. Das bedeutet, dass die Komplexität der meisten wesent- lichen Komponenten so weit wie möglich reduziert wird. Das bedingt eine höhere Komplexität weniger anderer Bauteile, die sich im Idealfall automatisieren oder seriell herstellen lassen – wie zum Beispiel Stützen und Streben aus Brettschicht- holz, einem Industrieprodukt, oder der Stahl-Knotenpunkte. Auf diese Weise kann die Hürde für den Selbstbau aller Fassaden-, Decken-, Boden- und Dachelemente stark reduziert werden. Weitere Vereinfachungen sind durch die Wahl und Kombi- nation der Baumaterialien möglich. Auf empfindliche Folien wie Dampfsperren kann beispielsweise verzichtet werden, wenn Lehmputz mit einer Strohballendämmung richtig kombiniert wird, der ebenfalls die Luftfeuchtigkeit im Gebäude oder zumin- dest des entsprechenden Bauteils regulieren kann. Nikolas Kichler, Izabela Głowińska, Paul Adrian Schulz, Mikka Fürst 161 2.5.
WIE MAN SICH EINEN SELBSTBAUPROZESS VORSTELLEN KANN Wenn die allgemeine Handhabbarkeit hergestellt ist, ein guter Produktionsort gefunden und die Baustoffe ausgewählt sind, fehlt nur noch eines: die Einbezie- hung erfahrener Personen in den Bauprozess, die für die Prozessqualität unerläss- lich sind. Sie geben allen Beteiligten die Gewissheit über die fachgerechte Ausfüh- rung der Arbeitsschritte und den sorgfältigen Umgang mit dem Werkzeug, sie helfen mit, zeigen vor und stehen für Fragen zur Verfügung. Das Verhältnis Profi zu Lai*in sollte erfahrungsgemäß zwischen 1:4 und 1:8 liegen. 5 Dies hängt hauptsächlich von den vorhandenen Fähigkeiten in der Gruppe ab und variiert von Arbeitsschritt zu Arbeitsschritt. Die Vivihouse-Praxis hat gezeigt, dass das Betreuungsverhältnis anfangs etwas dichter sein muss und mit zunehmender Erfahrenheit der Beteiligten abnehmen kann, insbesondere im Verlauf wiederkehrender Arbeiten. Unter der Anlei- tung und Aufsicht von Fachleuten und bei guter Vorbereitung können Lai*innen fast alle notwendigen handwerklichen Arbeiten selbst ausführen, vorausgesetzt natür- lich, sie haben die Zeit und sind willens dazu. Bei der Vorfertigung von Vivihouse-Komponenten begann der erste Tag mit einem gegenseitigen Kennenlernen, einer Präsentation des Bauvorhabens und des Produk- tionsstandorts einschließlich der eventuell bereits fertiggestellten Bauelemente, bevor es mit der Sicherheits- und Werkzeug-Einschulung weiterging. Die folgenden Tage starteten mit Aufwärmübungen, einer Besprechung und der Inspektion der im Bau befindlichen Elemente. Nachdem sich alle gemeinsam einen Überblick verschafft hatten, welche Arbeiten an dem entsprechenden Tag anstanden, wurde festgelegt, welche Tätigkeit von welcher/n Person(en) oder Gruppe(n) ausgeführt werden sollte.
Die Art und Weise, wie dies geschieht, ist sehr unterschiedlich und hängt von der Konstellation der Gruppe ab. Manche fühlen sich nur für die Holzarbeiten verantwort- lich, andere lieben das Verputzen mit Lehm, manche ziehen es vor, bei allem einmal dabei gewesen zu sein, wieder andere wollen einfach mit bestimmten Personen oder Werkzeugen arbeiten. Je nachdem, wie das Gebäude geplant wurde, werden die entsprechenden Werk- zeuge eingesetzt. Im Fall von Vivihouse ist das Hauptwerkzeug der Akkuschrauber, ergänzt durch die Paneelsäge, die Tauchsäge, den Zwangsmischer und die Kelle – neben den Spezialwerkzeugen zum Stopfen der Strohballen, die zumeist während der Einschulung selbst hergestellt werden. Ausbilder*innen des Österreichischen Netzwerks für Strohballenbau begleiteten in der Regel den Bauprozess. Gelegent- lich zeigen Vertreter*innen von Firmen anhand ihrer Produkte, wie diese korrekt angewendet werden, z. B. bei der Handhabung einiger Werkzeuge, beim Einbau von Fenstern oder dem Verkleben von Dichtungsbändern. Auf Basis von Plänen mit daran gekoppelten Materiallisten, die teilweise in dreidimensionale Step-by-Step- Anleitungen umgewandelt wurden, konnten die Mitbauenden selbstständig und in eigener Geschwindigkeit voranschreiten. Abends gab es zumeist eine Abschluss- runde, in der über den Tag reflektiert und Feedback gegeben wurde. Der Beobachtung nach gewinnen Lai*innen schon innerhalb weniger Tage ein erhebliches Vertrauen in die eigenen handwerklichen Fähigkeiten. Nicht selten kam die Rückmeldung: „Das ist ja alles gar nicht so schwer“. Obwohl es beim Vivihouse- Prozess zu keinem Unfall kam, ist es dennoch sehr zu empfehlen, sich über die Versi- cherung der Teilnehmenden Gedanken zu machen. Rückblickend lässt sich berichten, dass an den bisherigen Vivihouse-Bauworkshops 58 Prozent Frauen teilgenommen haben, was äußerst unüblich für Baustellen ist.
Kollektiver Selbstbau als Testfeld für neue Produktionsweisen 162 „Manche Teilnehmenden waren für eine Woche dabei, einige kamen öfter, einer blieb die ganze Zeit; auch Freundschaften sind dabei entstanden.“ (Kichler/Preissing 2020) 2.6. WELCHE WEITEREN PERSONEN NOCH GEBRAUCHT WERDEN Um die Gewährleistung und Rechtmäßigkeit des Selbstbau-Ansatzes herzustellen, ist es zumindest in Österreich notwendig, dass die Lai*innen formal als Hilfsarbei- ter*innen auftreten. Die Abnahme der Selbstbau-Arbeiten muss schließlich von regu- lären Gewerken durchgeführt werden, die sich auf diesen Prozess einlassen und bereits im Vorfeld eingebunden waren. Hierbei ist es wichtig, die Arbeitsschritte so zu organisieren, dass die Bauelemente überprüfbar und somit abnehmbar bleiben. Idealerweise stellen diese Unternehmen auch die eigenen Professionist*innen als Begleitung für die Bauworkshops zur Verfügung. Natürlich ist es von Vorteil, wenn mit einem Holzbaubetrieb zusammengearbeitet wird, der ein gewisses Maß an Inter- esse für das Projekt aufbringt oder zumindest offen für solche Vorhaben ist. Um einen Überblick über weitere notwendige Fachleute zu geben: In Österreich sind als Planverfasser*innen für eine Einreichplanung Architekt*innen, Baumeis- ter*innen oder Zimmermeister*innen befugt, während Statiker*innen die erforder- lichen Nachweise und Bauphysiker*innen Energieausweis, Bauphysik und Schall- schutznachweis hinzufügen. Es ist empfehlenswert, diese Berater*innen so früh wie möglich in ein Projekt einzubinden. Diese Personen sind zum einen aufgrund der aktuellen Rechtslage unumgänglich, zum anderen kann ihre Erfahrung wesentlich dazu beitragen, Umwege oder Frustrationen zu vermeiden. Ein(e) Baumeister*in ist notwendig, um das Grundstück samt Fundamenten und Versorgungsleitungen für den Aufbau vorzubereiten.
Die anschließende Montage wird von einem Monta- ge-Team samt Kranführer*innen und LKW-Fahrer*innen durchgeführt. Letztlich ist noch ein(e) Bauführer*in erforderlich. Diese Person ist für den Bauprozess verant- wortlich und nimmt die erledigten Arbeiten ab. Für die Fertigstellungsanzeige am Ende des Prozesses werden noch einmal die Planverfasser*innen benötigt. Ganz allgemein sind Gebäude Schnittstellen zwischen vielen verschiedenen Bereichen. Das bedeutet, dass in ein Do-it-together-Projekt neben den Bauwork- shop-Teilnehmer*innen viele andere Personen und Organisationen eingebunden werden können. Ob die Strohballen von einem Acker-Syndikat bezogen werden, die Lichtschalter im FabLab selbst ausgedruckt werden, ob der Internetzugang des Hauses über das Funkfeuer-Netzwerk oder die Strom- und Wasserversorgung über lokale Kooperativen erfolgt, ob wiederverwendbares Baumaterial eingesetzt oder auf lokale Ressourcenkreisläufe zurückgegriffen wird, ob spezielle Finanzierungs- und Eigentumskonzepte umgesetzt werden – dies alles sind Beispiele, mit denen jedes derartige Projekt an weiterer Identität, Dynamik und Selbstbestimmung gewinnen kann. 3. DER NÄCHSTE SCHRITT … EIN BAUNETZWERK? Mit dem Vivihouse-Projekt wurde ein Schritt zur Selbstorganisation und Bedürfnis- orientierung in der Herstellung mehrgeschossiger Neubauten gesetzt, um die identi- fizierte Lücke zwischen der Planungs- und Nutzungsphase zu schließen. Im Ideal- fall können dadurch viele weitere Selbstbauprojekte entstehen. Vielleicht lassen sich aber auch die Freiräume für die Entwicklung neuer Produktionsweisen, das Expe- rimentieren mit alternativen Wirtschaftsweisen oder das Commoning vergrößern.
Nikolas Kichler, Izabela Głowińska, Paul Adrian Schulz, Mikka Fürst 163 Eines ist klar: Es sind noch Fragen offen, die weit über einzelne Wohnprojekte oder das Vivihouse-Projekt hinausgehen und nur gemeinsam als Verbund oder Netzwerk angegangen werden können. Dies gilt zum Beispiel für die Beschaffung von Baustoffen, die von entscheidender Bedeutung ist, da alle Bauprojekte darauf angewiesen sind. 6 Die Entkommerzialisie- rung von Bauland und Gebäuden wird bereits durch viele Initiativen angestrebt und über spezielle Rechtskonstruktionen erreicht, wie z. B. bei habiTAT, dem Mietshäuser Syndikat, Community Land Trusts, Bodenstiftungen oder Inseln mit Hafen (siehe den Text von Horlitz in diesem Band). Das Acker-Syndikat denkt ähnliche Prinzipien auf landwirtschaftliche Flächen und Höfe als Gemeingut übertragen weiter. Es braucht keinen großen Gedankensprung, dass in diesem Kontext auch Baumaterialien wie Holz und Strohballen angebaut werden könnten. Dies betrifft auch die Produktions- stätten der Zukunft, die sich auf das Wissen des Maker Movements, aber auch auf jenes traditioneller Handwerksbetriebe, wie z. B. Zimmereien, stützen könnten. Das wiederum bedeutet, dass FabLabs im Zimmerei-Maßstab speziell für die gemein- schaftliche Bauproduktion eingerichtet und betrieben werden könnten. Solche Orte wie auch Rechtskonstruktionen oder so manche technische Weiterentwicklung funk- tionieren oft aber nur dann, wenn sie von mehreren Personen und Organisationen gemeinsam getragen werden. Eine Art Baunetzwerk – unter anderem bestehend aus Zimmereien, Fablabs, Wohn- projekten samt ihren Bewohner*innen, Planer*innen, Grundbesitzer*innen, Hausver- waltungen, Jurist*innen – aus allen Akteur*innen, die die bestehenden Bedingungen verändern und sich abseits der Zwänge des Markts organisieren wollen – das könnte ein nächster Schritt sein.
Dass Bewohner*innen von Städten und Dörfern ihre Umwelt auf der Grundlage ihrer Bedürfnisse und auf ökologische Art und Weise schließlich selbst gestalten – einschließlich der Produktion und Verwaltung von Ressourcen und deren Kreisläufen – das könnte das Ziel dieses Netzwerks sein. 1 z. B. Pankahyttn, Rudolfsheim-Fünfhaus, Wien. 2 Kolchosen in der Jüdischen Autonomen Oblast. 3 Kommune Waltershausen, Thüringen, Deutschland. 4 Lateinisch für: Wage zu bauen! 5 Dies stimmt mit den Erfahrungswerten des Österreichischen Netzwerks für Strohballenbau (asbn) überein. 6 In Wien sind die Initiativen BauKarussell und Materialnomaden im Bereich Wiederverwertung von Baumaterialien tätig. QUELLEN Fürst, Michael; Kichler, Nikolas; Schulz, Paul 2017: Ein Toolkit für urbanen Selbstbau – gemeinsam mehrgeschoßig und ökologisch bauen. Wien. Illigens, Sebastian 2017: Henri Lefebvre: Entfremdung und das Recht auf die Stadt. In: Soziologiemagazin 2–2017, S. 37–53. https://doi.org/10.3224/soz.v10i2.04. Kachelmeier, Tobias 2020: Corona-Chaos bei den Baufirmen: Rechtliche Unsicherheit hält an. Wien: Der Standard. https://www.derstandard.at/story/2000115881858/corona-cha os-bei-den-baufirmen-rechtliche-unsicherheit-haelt-an. Kollektiver Selbstbau als Testfeld für neue Produktionsweisen 164 Kichler, Nikolas; Preissing, Sigrun 2020: Wenn Bauen gemeinschaffend wird – Wiener Ar- chitekten und Tübinger Commoners üben sich darin, Wohnen in der Stadt jenseits von Tauschlogik praktikabel zu machen. Klein Jasedow: Oya 59. Ohne Verfasser 2014: Mall of Shame: Konflikt um ausstehende Lohnzahlungen für Bau- arbeiter der „Mall of Berlin“. Berlin: Fau Berlin. https://berlin.fau.org/kaempfe/mall-of- shame. Scherbaum, Gerhard; Schulz, Paul 2013: Haus von A–Z. Projekt in Herzogenburg: Garten der Generationen. https://www.stroh2gether.at/projekte/haus-von-a-bis-z.
UN Environment and International Energy Agency 2017: Towards a zero-emission, effici- ent, and resilient buildings and construction sector. Global Status Report 2017. https:// www.worldgbc.org/sites/default/files/UNEP%20188_GABC_en%20(web).pdf. NIKOLAS KICHLER Nikolas Kichler ist einer der drei Vivihouse-Initiatoren. Er studierte Architektur in Wien und Delft. Die Frage, wie Stadtbewohner*innen ihre gebaute Umwelt aktiv gestalten und anpassen können, verfolgt ihn seit seiner Studienzeit. Dies brachte ihn zum Maker-Mo- vement, zu den Commons und alternativen Wirtschaftskreisläufen, zu jenen Themen, die er mit Vivihouse in die Praxis umzusetzen versucht. Nach Praktika in Architektur- büros in Berlin und Wien ist er seit 2016 an der TU Wien tätig. IZABELA GŁOWIŃSKA Izabela Glowinska wurde 1984 in Polen geboren und lebt seit 2005 in Wien, wo sie Poli- tikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Wien studierte. Sie arbeitet als persönliche Assistentin für Menschen mit Behinderungen und ist Mitglied des Betriebs- rates der WAG Assistenzgenossenschaft. Ihr Interesse gilt alternativen Wirtschaftsmo- dellen. Außerdem ist sie bei Projekten, die kollektives Handeln und Inklusion ins Zentrum stellen, engagiert. PAUL ADRIAN SCHULZ Auch Paul Adrian Schulz ist einer der drei Initiatoren von Vivihouse, Gründer des Greenskills- Lehrgangs sowie des Vereins EGB/stroh2gether. Geboren 1981 in Braun- schweig, studierte er Architektur an der Akademie der bildenden Künste in Wien, wo er seither lebt. Neben seiner Arbeit in Planungsbüros, beim Österreichischen Netzwerk für Strohballenbau und seiner Lehrtätigkeit an der TU Wien interessiert er sich für wirt- schaftliche, politische und ökologische Zusammenhänge.
MIKKA FÜRST Mikka Fürst ist Autodidakt im Bereich des ökologischen Bauens und hat einen Mas- ter-Abschluss in Architektur und in Nachhaltigem Bauen (Engineering) an der TU Wien. Sein erstes Interesse galt der Stadtentwicklung in Transitionsländern. Später sammelte er einige Jahre Erfahrung in designorientierten Architekturbüros sowie auch Praxis- erfahrungen auf ökologischen Strohballen-Baustellen. Auch Mikka ist einer der drei Initiatoren von Vivihouse. Nikolas Kichler, Izabela Głowińska, Paul Adrian Schulz, Mikka Fürst 165 167 https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_13 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. Susanne Schmid Typologie des gemeinschaft- lichen Wohnens oder wie gemeinschaftliches Wohnen als Reflektor der Gesellschaft dient 1. EIN RANDPHÄNOMEN MIT HOHER PRÄSENZ Gesellschaftliche Prozesse sind vielfältig und oft erst im Nachhinein schlüssig erkenn- und lesbar. So verhält es sich auch mit der momentanen Nachfrage nach gemein- schaftlichem Wohnen. Die aktuelle Präsenz der Thematik in Diskussionen, Foren und in den Medien ist beachtlich. Diese Debatte lässt sich nicht nur auf kürzlich reali- sierte Wohnobjekte mit Modellcharakter zurückführen, in denen Gemeinschaft ein hoher Stellenwert beigemessen wird und in denen neue Typologien erprobt werden, sondern auch auf eine grundlegende Entwicklung im Wohnungsbau, die insbeson- dere im urbanen Kontext Themen wie Wohnflächenverbrauch und Bezahlbarkeit sowie Suffizienz und Nachhaltigkeit aufnimmt. Es scheint, dass diese experimentellen Wohnmodelle in der Gesellschaft wahrgenommen werden und angekommen sind. Gelebt werden sie dennoch erst in einzelnen Fällen. Gemeinschaftliches Wohnen ist nach wie vor ein Randphänomen (Wüstenrot Stiftung 1999: 128).
So führt uns die alltägliche Praktik des Wohnens vor Augen, wie konservativ und träge der Wohnungsmarkt funktioniert; und wir stellen zudem fest, dass unser Alltagswissen über Wohnen, auch über gemeinschaftliches Wohnen, ein Ergebnis von gesellschaftlichen Prozessen ist, das durch vielfältige Faktoren beeinflusst und gesteuert wird (Nierhaus/Nierhaus 2014: 12). Gerade deshalb führt uns die Aktua- lität der Thematik zur grundsätzlichen Frage, ob Wohnmodelle wie Großhaushalt, Clusterwohnung oder Co-Living gänzlich neue Entwicklungen darstellen oder ob sie in frühere gemeinschaftliche Wohnmodelle eingebettet sind und sich als Weiterfüh- rung in die Wohnbaugeschichte einordnen lassen. Welches sind die Entstehungsfak- toren der momentan vorherrschenden Typologien des gemeinschaftlichen Wohnens und wie formulieren sich diese räumlich? Mit dieser Fragestellung versucht der vorliegende Artikel zudem die sozio-ökonomischen Bedingungen darzulegen, die das 168 gemeinschaftliche Wohnen zu Beginn des frühen 21. Jahrhunderts in Mitteleuropa wieder vielseitiger, vernetzter und flexibler gestalten. 1.1. GEMEINSCHAFTLICHES WOHNEN ALS UNSER WOHNKULTURELLES ERBE Gemeinschaftliches Wohnen war ab der Industrialisierung immer eine betont andere und besondere Art des Wohnens, obschon kollektives Wohnen historisch gesehen die Normalität war. Gemeinschaftliches Wohnen kann als unser wohnkulturelles Erbe verstanden werden, nur gingen uns in den vergangenen Jahrzehnten dazu die Erfahrungen und das Wissen verloren. In der Vormoderne war das kollektive Zusammenleben die vorherrschende Organisationsstruktur des Wohnens. Wohnen, (Haus-) Wirtschaften und Arbeiten, respektive Produktion bildeten eine örtliche Einheit, gemeinschaftliches Wohnen und Zusammenleben in einem losen Verbund von Verwandten und Nichtverwandten war die Regel.
Als Begriff prägte das Ganze Haus diese Wohnform, die in landwirtschaftlichen, gewerblichen und kaufmännischen Haushalten vor der Industrialisierung eine gängige Selbstversorgungseinheit war. Mit der Entwicklung der privaten Verfügungsgewalt über Grund und Boden bildeten sich im späten 18. Jahrhundert die Voraussetzungen für das Bürgerliche Haus. Im Vergleich zum Ganzen Haus wurden nun nichtverwandte Personen wie Dienstboten und Angestellte separat untergebracht. Die Grenzen zwischen privatem und kollek- tivem Raum wurden deutlicher gezogen (Petsch 1989: 11, 25ff.). Wesentlich zum Tragen kommt das gemeinschaftliche Wohnen und Wirtschaften zudem in monastischen Organisationsstrukturen. In Klöstern und Beginenhöfen leben seit der Antike Frauen und Männer zwar getrennt, jedoch verflochten in einer engen Gemeinschaft und bildeten eine eigenständige Siedlungsform, die ab der Industrialisierung oft als Vorbild und Modell für weitere kollektive Lebensweisen galt. Mit den Umwälzungen durch die industrielle Revolution veränderten sich schritt- weise diese Organisationsstrukturen des Wohnens. Die Privatisierung des Wohnbe- reichs als Ergebnis der Trennung von Arbeit und Wohnen und die damit verbundene rasante Verstädterung führten zu einer großen Wohnungsknappheit und teilweise zu prekären Lebens- und Wohnverhältnissen in den mitteleuropäischen Städten. Diese Missstände führten gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer breiten sozial- politischen Debatte, in der die Wohnungsfrage diskutiert wurde und die Anlass für neuartige Entwicklungen im Wohnungsbau und insbesondere im gemeinschaftli- chen Wohnen war. 1.2. INTENTIONEN DES GEMEINSCHAFTLICHEN WOHNENS Wohnräume werden aus zahlreichen Gründen geteilt, ökonomische, politische und soziale Faktoren spielen dabei immer eine entscheidende Rolle.
Je nach Zeitpunkt und Zielsetzung der gemeinschaftlichen Wohnmodelle sind diese Faktoren allerdings unterschiedlich gewichtet und überschneiden sich, eine genaue Zuordnung lässt sich kaum vornehmen. Dennoch tritt oft eine Intention aufgrund des vorherrschenden Zeitgeistes, der jeweiligen wohnpolitischen oder sozio-ökonomischen Entwick- lungen und Problemstellungen in den Vordergrund. Die Ursprünge des gemeinschaftlichen Wohnens seit der Industrialisierung liegen wohl in der ökonomischen Intention. Zentrales ökonomisches Motiv, Wohn- Susanne Schmid 169 raum zu teilen, war neben dem Bereitstellen von genügend Wohnraum insbeson- dere die Entlastung von Hausarbeit, sprich die Verringerung der Doppelbelastung der erwerbstätigen Frau. Schon in den Großwohneinheiten der Frühsozialisten wie bei der Familistère in Guise waren Zentralisierung und Rationalisierung der Haus- arbeit und das Teilen von Serviceleistungen wichtige Grundvoraussetzungen für das gemeinschaftliche Wohnen. In dieser Entwicklungsphase, die von rund 1825 bis 1940 dauerte und sich mit den Ledigenheimen, Boarding- und Einküchenhäusern weiterentwickelte, wurden nicht nur Küchen geteilt, sondern weitere Grundaus- stattungen wie Nasszellen oder Bäder, da diese sich damals noch nicht als Standard in den Wohnungen der Arbeiter*innen durchgesetzt hatten. Zudem wurde gemein- schaftliches Wohnen dazu genutzt, bezahlbaren Wohnraum für noch nicht etablierte Nutzer*innengruppen wie Ledige zu schaffen. Vertreter dieser Entwicklungsphase sind teilweise immer noch in Betrieb, wie das Ledigenheim an der Rehhoffstraße in Hamburg oder die Frauenwohnkolonie Lettenhof in Zürich. Mit dem Erstarken der sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegung im frühen 20. Jahrhundert, aber auch dem Weiterführen von paternalistischen Vorge- hensweisen, bekam die politische Intention des gemeinschaftlichen Wohnens mehr Gewicht.
Vorwiegendes Ziel dieser Wohnmodelle, die von rund 1900 bis 1980 reali- siert wurden, war die Entproletarisierung und Besserstellung der Arbeiterschaft sowie die Stärkung und Festigung der Kernfamilie. Dazu dienten abgeschlossene und selbstständig funktionierende Wohnräume für jede Familie, die durch gemeinschaft- liche Folgeeinrichtungen ergänzt wurden, wie beispielsweise bei den Gartenstädten und Wohnhöfen. Geteilt wurden Einrichtungen wie Zentralwäschereien, Kinder- krippen, Gemeindezentren oder Versammlungsräume, wichtigster gemeinschaft- licher Raum hingegen waren die Außenflächen, die als Vorgarten, Hof oder Platz erstmals Nutzungen wie Selbstversorgung und Freizeitgestaltung zuließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und einem verstärkten Rückzug in die Privatheit wurden jedoch oft Gemeinschaftsräume ohne Beteiligung der Bewohner*innen initiiert und inszeniert. Das Wohnhochhaus Conjunto in Berlin bildet dabei ein sehr spannendes Beispiel. Es wurde im Rahmen der IBA 57 erbaut und galt als zukünftige Wohnweise für den neuen modernen Menschen. Neue Wohnformen für andere Nutzer*innen- gruppen als die Kernfamilie wurden jedoch in dieser Phase kaum realisiert. Die Diversität und Vielfalt des gemeinschaftlichen Wohnens nahm ab und wuchs erst wieder mit der sozialen Intention. Ab den 1970er-Jahren wird erstmals Kommu- nikation, also ein soziales Motiv des Teilens, genannt (Meyer-Ehlers/Haussknecht/ Rughöft 1973: 230). Der deutliche Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit trat somit erst mit der vorerst letzten Phase des gemeinschaftlichen Wohnens in den Vordergrund, die mit neuen Wohnmodellen rund um 1980 startete und bis heute anhält. Gemein- schaftliches Wohnen wurde nun zum Ausdrucksmittel für flexible Sozialbeziehungen und Selbstorganisation. Die neuen Wohnmodelle, eines davon die Großhaushalte, zeigten das Bedürfnis auf, aus der familiären Isolation auszubrechen.
Während sich verändernde und diversifizierende Lebens- und Wohnformen sowie der Wunsch nach Suffizienz und einem bedarfsgerechten Umgang mit der Ressource Wohn- raum zu Clusterwohnungen führten, sorgen die neuen Wohn- und Arbeitsweisen der jüngsten Nutzer*innengruppen wie den Millennials für das Wohnmodell Co-Living. Geteilt werden nicht nur ein breites Angebot an gemeinschaftlichen Räumen für die Freizeitbeschäftigung wie Werkstätten, Saunas oder Fotolabore, sondern wiederum Grundausstattungen wie Gemeinschaftsküchen und Nasszellen. Zudem erhalten die Serviceleistungen aufs Neue eine hohe Wichtigkeit. Hinzu kommt, dass sich das Typologie des gemeinschaftlichen Wohnens 170 Arbeiten mittels Co-Working wiederum mit dem Wohnen verbindet. Diese Komple- xität an unterschiedlichen Stufen des Teilens führt dazu, dass das gemeinschaftliche Zusammenleben oft mittels einer professionellen Betriebsstruktur und mit Hilfe eines Desks oder einer Rezeption kuratiert wird. Partizipative Prozesse der Teilhabe und Teilnahme sorgen zudem dafür, dass die Wohnmodelle und deren Organisation auf die Bedürfnisse der Nutzer*innen angepasst werden. 2. DIE BEDEUTUNG VON NUTZUNGSÜBERLAGERUNG UND MEHRFACHNUTZUNGEN Sämtliche Wohnmodelle des gemeinschaftlichen Wohnens seit der Industrialisie- rung arbeiten nach dem Prinzip der Verlagerung von Flächen. Flächen aus dem privaten Bereich werden in den kollektiven oder öffentlichen Bereich verschoben und dort geteilt. Dabei spielen die Abgrenzungen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, respektive die Öffentlichkeitsgrade eine wichtige Rolle. Gemeinschaft- liche Räume sind nicht per se öffentlich, sondern können durchaus einen privaten Charakter erhalten. Wird in einer Siedlung oder Hausgemeinschaft beispielsweise vereinbart, ein gemeinsam genutztes Gästezimmer einzurichten, wird diese Fläche vom privaten in den kollektiven Raum verlagert.
Der private Raum kann dadurch nicht nur suffizienter genutzt werden, durch die Mehrfachnutzung des gemein- samen Gästezimmers aufgrund einer dichteren Benutzung folgt auch eine effizien- tere Nutzung der gemeinsamen Wohnfläche. Die kollektive und erhöhte Nutzung des Gästezimmers führt hingegen nicht dazu, dass dieses einen öffentlichen Charakter erhält, da die Tätigkeit, die darin ausgeübt wird, eine gänzlich individuelle und private bleibt. Es scheint, dass der Öffentlichkeitscharakter eines geteilten Raumes mit der darin ausgeübten Tätigkeit definiert wird (Arendt 1981: 59). Das bedeutet, dass der gemeinschaftliche Raum an und für sich neutral ist und erst die Aktivität, die in einem spezifischen Raum stattfindet, dessen Zuordnung betreffend Öffent- lichkeitsgrad bestimmt. Gleich verhält es sich beim Prinzip der Nutzungsüberlagerung. Dabei werden Wohnräume je nach Absicht und Aneignung unterschiedlichen Funktionen zuge- führt. So kann ein Jokerzimmer oder Flex-Zimmer unter anderem als Yoga-Übungs- raum, für einen Lesezirkel oder als Spielzimmer für Kinder genutzt werden. Wie bei der Mehrfachnutzung ist auch bei der Nutzungsüberlagerung eine zeitlich begrenzte Nutzung sowie ein angemessener Zugang im Sinne von Verfügbarkeit relevant. Diese Art und Weise, Wohnräume zu teilen, schafft neben dem (reduzierten) privaten Wohn- raum zusätzliche Nutzungsoptionen, die als räumliche Erweiterung verstanden werden können. Gut funktionierende Nutzungsoptionen führen zu Möglichkeits- räumen und bedeuten nicht nur, dass eine gewisse Anzahl und Bandbreite gemein- schaftlich genutzter Wohnräume vorhanden sind, sondern ebenso eine bestimmte Anzahl an Personen, die sich diese Wohnräume aneignen, sie bespielen und auch finanzieren.
Dieses System an gemeinschaftlichen Räumen in unterschiedlichen Funktionen und Ausstattungen sowie diversen Nutzer*innen sorgt idealerweise für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Aneignung und Auslastung sowie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Bestenfalls begünstigen die baulich-räumlichen Eigenschaften der gemein- schaftlichen Räume über die Möglichkeit zur Nutzungsoption hinaus den interak- tiven Austausch, da Kommunikation beim gemeinschaftlichen Wohnen unerlässlich scheint. Da sämtliche Wohnräume, gemeinschaftliche wie individuelle, immer an Susanne Schmid 171 Erschließungsflächen gebunden sind, wird diesen ein hoher Stellenwert zugeordnet. Um die Erschließungsflächen gemeinschaftlich nutzbar zu machen, müssen sie jedoch großzügiger bemessen sein und über eine höhere räumliche Aufenthaltsqualität verfügen. Viele gemeinschaftliche Wohnmodelle nutzen denn auch Eingangshallen, Innenhöfe, Laubengänge, terrasses communes oder rues intérieurs als erweiterte kollektive Erschließungsflächen. Sie fördern eine angemessene räumliche Anbindung der Zugangsflächen an die gemeinschaftlichen und privaten Wohnräume und sind nicht nur Interaktionsraum, sondern schaffen Schwellen zwischen den Öffentlich- keitsgraden. Unter gemeinschaftlichen Wohnräumen sind Wohnflächen zu verstehen, die nicht ausschließlich und langfristig der individuellen Nutzung einer spezifischen Bewohner*innenschaft zugeordnet sind, sondern einer definierten Gemeinschaft zur Verfügung gestellt und von dieser getragen werden. Dabei kann Wohnraum auf verschiedene Art geteilt werden, denn eine kollektive Nutzung kann wohnungsin- tern, haus- oder siedlungsgemeinschaftlich erfolgen.
Gemeinschaftliche Wohnräume sind Räume für kollektive Praktiken, können jedoch wie erwähnt auch individuelle Tätigkeiten einschließen, wenn Grundausstattungen wie Küche oder Nasszellen geteilt oder individuelle Wohnfunktionen ausgeübt werden. Kollektiv genutzte Räume, die über diese Grundfunktionen des Wohnens hinaus- gehen und einer Nutzung zugewiesen sind, gelten als gemeinschaftliche Folgeein- richtungen. Diese Flächen für Freizeitaktivitäten, Arbeit oder kulturelle sowie soziale Tätigkeiten erhalten den Charakter des Nachbarschaftlichen und können Zusam- menleben sowie Austausch in einem Quartier fördern. Bei gemeinschaftlichen Folge- einrichtungen spielt denn auch der Funktionsverlust der individuellen Wohnung und das Auslagern von Wohntätigkeiten wie der Kinderbetreuung, der Pflege oder der Nahrungszubereitung eine immer wichtigere Rolle. Dieser Auslagerungsprozess ist sogleich ein Prozess der Entlastung der Haushalte von ihrer Arbeit und Verpflichtung (Häussermann/Siebel 2000: 28). Wohnfunktionen werden dezentralisiert und über die Siedlung, das Quartier oder gar die ganze Stadt verteilt. Bei dieser Entwicklung stellt sich denn auch die Frage, inwiefern der Begriff Haushalt noch berechtigt ist, wenn das Haushalten ausgelagert oder dank Serviceleistungen abgegeben wird. Dieser Auslagerungsprozess der Wohnfunktionen ist dabei heute wiederum einem starken Wandel unterzogen. Die individuelle Wohnung, momentan noch Ort der Nichter- werbsarbeit, wird sich zukünftig durch die Digitalisierung, die Anpassung an Mobi- lität und Arbeitszeiten und die Möglichkeiten des Homeoffice stark verändern und sich entsprechend räumlich darauf abstimmen. 3. DAS GEMEINSCHAFTLICHE WOHNEN IM FRÜHEN 21.
JAHRHUNDERT Die räumlich-sozialen Organisationsformen der heute prägenden gemeinschaftli- chen Wohnmodelle wie Großhaushalte, Clusterwohnungen und Co-Living basieren einerseits auf dem gesellschaftlichen Wertewandel der 1970er- und 1980er-Jahre, in denen traditionelle Familienmuster zunehmend durch ein plurales, egalitäres und stärker kommunikativ ausgerichtetes System ersetzt, Rollen- und Klassen- bilder neu gedacht sowie Freiräume eingefordert wurden. Andererseits hat der wohnpolitische Druck in vielen mitteleuropäischen Städten zugenommen. Stetiger Wachstums- und Siedlungsdruck sowie steigende Bevölkerungszahlen führten seit den 2000er-Jahren zu deutlich sinkenden Leerstandsquoten und höheren Miet- preisen. Wohnbedingungen, ob mit gemeinschaftlichen Räumen oder konven- Typologie des gemeinschaftlichen Wohnens 172 tionell, veränderten sich zusätzlich durch die neuen individuellen Lebensweisen sowie sich differenzierenden Haushaltsformen und sorgten für wachsende Raum- ansprüche. Zum einen steigt die Zahl der Ein- und Zweipersonenhaushalte ab 1970 deutlich, zum anderen nahm und nimmt der Wohnflächenverbrauch pro Person nach wie vor signifikant zu. Das Bewusstsein für Themen wie Ökologie und Nach - haltigkeit verstärkt die Diskussionen über den Wohnflächenverbrauch. Hinzu kommt, dass sich durch die wirtschaftsliberale Ideologie eine Deregulierung des Marktes und eine Privatisierung und teilweise wie beispielsweise in Deutschland eine Globalisierung des kommunalen Wohnungsbestandes einstellte, die insbeson- dere für den städtischen Wohnungsmarkt weitreichende Folgen hatten.
Der Staat zog sich immer mehr aus dem Wohnungsmarkt zurück, während insbesondere in der Schweiz Baugenossenschaften oder weitere gemeinnützige Bauträger wie Stiftungen und Vereine, als Beispiel ist hier die Sargfabrik in Wien zu nennen, in das Vakuum traten und sich mit Wohnprojekten für mehr Solidarität und Gemein- schaftlichkeit einsetzten. In diesem angespannten Marktumfeld verstärkte sich zunehmend die Forderung der gemeinnützigen Bauträger oder Gesellschaften wie dem Mietshäuser Syndikat in Deutschland, Wohnraum dauerhaft dem Markt und somit den Spekulationen zu entziehen. Sprich, die sozialen Intentionen des Teilens von Wohnraum werden zu Beginn des 21. Jahrhundert zusätzlich durch moralische und ökonomische Ansprüche verstärkt. Der demografische Wandel, sich verändernde Familienstrukturen sowie eine erhöhte Individualisierung und Mobilität, teils auch als Resultat des steigenden Wohlstands, sorgen zusätzlich dafür, dass Personen in ihrem Leben häufiger an verschiedenen Lebens- und Wohnformen partizipieren und sogenannte Wohn- karrieren durchleben. Im trägen und konservativ ausgerichteten Wohnungsmarkt werden jedoch praktisch nur Familienwohnungen angeboten. Es fehlen neuartige Wohntypologien, die auf die gesellschaftlichen Veränderungen und auf den Wunsch nach mehr Gemeinschaft eingehen. Die gemeinschaftlichen Wohnmodelle Groß- haushalt, Clusterwohnungen und Co-Living versuchen denn auch, diese Lücke zu schließen und schaffen neue Grundrisslösungen und Organisationsstrukturen, die das Zusammenleben und die Wohnfunktionen neu denken. Diese Angebote stehen auch für einen Zeitgeist, in dem postmaterielle Ziele wie Selbstverwirklichung, digi- tale Kommunikation sowie der erleichterte Zugang und die Verfügbarkeit analoger Güter anstatt deren Besitz im Vordergrund stehen. Die Maxime, dass Nutzen wich- tiger als Besitzen ist, verdeutlicht diesen Wertewandel.
Der private Raum scheint nur noch als Rückzugsort zu dienen, als repräsentativer Ort verliert er zunehmend an Priorität. Als Gegensatz dazu wird die Gemeinschaft, respektive das Dazugehören zu einer Community wichtig. Zu erwähnen gilt es noch, dass die Nutzergruppen solcher Wohnformen vorwie- gend aus dem Bildungsmilieu stammen, da Kompetenzen in Kommunikation, Verhandeln und Flexibilität Voraussetzung sind für gemeinschaftliches Wohnen. Obschon die Bewohner*innenschaft mit den aktuellen Wohnmodellen noch diverser wird, diese reicht von der hedonistischen Generation X über die Millennials bis zur Generation Z, ist es der intellektuelle Mittelstand, der das gemeinschaftliche Wohnen in den letzten Jahrzehnten etablierte. Da sich insbesondere Großhaushalte und Clusterwohnungen gut in größere Siedlungen einstreuen lassen, eignet sich ein Zusammenspiel von unterschiedlichen Wohnmodellen jedoch auch gut als Genera- tionenwohnen. Susanne Schmid 173 3.1. GROSSHAUSHALTE – DER ERKÄMPFTE FREIRAUM Mit den Großhaushalten werden erstmals seit den Zwischenkriegsjahren wieder Wohnungen ohne individuell nutzbare Küchen gebaut. Kurz vor der Jahrtausend- wende erscheint ein gemeinschaftliches Wohnmodell, das den privaten Raum wieder stark reduziert und die Grundausstattung kollektiviert. Beim Prinzip der Großhaus- halte werden dabei Funktionen wie Kochen, Essen und Aufenthalt in gemeinschaft- lichen Räumen mit unterschiedlichen Öffentlichkeitsgraden ausgelagert. Aus einer Jugendbewegung der 1980er-Jahre heraus, die mehr bezahlbaren Wohnraum sowie Freiraum für junge Personen forderte, entwickelte sich in Zürich der Großhaushalt Karthago, der nach einer langen Entwicklungsphase 1997 reali- siert wurde. Als Bauträgerin dient die Genossenschaft Karthago.
Genossenschaften oder sogenannte Kooperationen sind in der Schweiz eine bewährte Rechtsform, wenn es darum geht, das gemeinsame Bewirtschaften von Gemeingütern zu regeln und haben eine lange Historie. Die Finanzierung des Großhaushalts Karthago erfolgte denn auch vollständig privat mittels Anteilsscheinen der Genossenschaf- ter*innen, einzig eine Bürgschaft des Bundes auf die zweite Hypothek wurde beige- zogen (Stahel 2006: 68). Im Großhaushalt Karthago werden vier kleine und fünf große Wohngruppen sowie eine Mansardenwohnung angeboten, in denen rund 55 Personen wohnen. Die Wohn- gruppen sind unterteilt in Drei-, Vier- oder Sechszimmereinheiten, die sich um einen gemeinschaftlichen Wohn- und Essraum mit Kleinküche und gemeinschaftlicher Nasszelle formieren (siehe Abb. 1). Einzig das individuelle Zimmer wird nicht geteilt, ist jedoch durch die kollektive Fläche erschlossen. Außerhalb dieser Wohngruppe befinden sich weitere ergänzende Ausstattungen und gemeinschaftliche Wohnräume wie eine Großküche mit Essraum (gekocht wird von einer Köchin), einem Spiel- und Aufenthaltsraum, einem Gästezimmer, einem Werkraum, einem Gemeinschaftsbüro sowie zwei Musikräumen. Der Mitwirkungsgrad des Großhaushalts Karthago ist sehr hoch. Die gesamte Organisationsstruktur erfolgt bottom-up und ist selbstorganisiert. Die Bewohner*in- nenschaft beteiligt sich in diversen Kommissionen, in denen Finanzen, Bau und Unterhalt oder die Küche geregelt werden. In Vollversammlungen können nötige Themen gemeinsam diskutiert werden, zudem besteht ein Mitspracherecht bei der Auswahl neuer Mitbewohner*innen. 3.2. CLUSTERWOHNUNGEN – DIE WOHNGEMEINSCHAFT PLUS Erste Clusterwohnungen haben ihren Ursprung ebenfalls in den 1980er-Jahren, die Typologie wird jedoch erst ab den 2010er-Jahren wahrgenommen.
Ähnlich den Groß- haushalten ist auch bei den Clusterwohnungen die Reduktion des privaten Wohnraums einhergehend mit einer Kompensation durch gemeinschaftliche Räume prägendes Element. Bei Clusterwohnungen bilden Teil-Wohneinheiten zusammen mit den gemeinschaftlichen Räumen wie Gemeinschaftsküche oder Aufenthaltsbereiche eine voll ausgestattete Einheit. Typologisch gesehen haben die Cluster eine hotelähnliche Struktur, da diese mit einer Vorzone oft mit Kleinküche und individueller Nasszelle ausgestattet sind. Mit dieser Vorzone wird zugleich ein Schwellenraum geschaffen, der zwischen den kollektiven und privaten Flächen vermittelt, da der individuelle Cluster wiederum durch die gemeinschaftlichen Flächen erschlossen wird. Typologie des gemeinschaftlichen Wohnens 174 Während das Konzept der Clusterwohnungen auch als komfortable Wohnge- meinschaft deklariert werden kann, sprechen die Initiatoren der Siedlung Spreefeld in Berlin von einem spartanischen Ausstattungsstandard. Das ebenfalls genossen- schaftlich organisierte Spreefeld bietet seit dem Jahr 2014 für rund 140 Personen variantenreiche Wohnräume. Dabei sind rund die Hälfte der Wohnungen konventio- nelle Ein- bis Fünfzimmerwohnungen. Auffallend sind jedoch die Clusterwohnungen, die in diesem Objekt größer ausfallen als bei anderen Projekten. Dies ergibt sich aus der Anzahl der Cluster sowie deren Fläche, die jeweils an die gemeinschaftlichen Räume angegliedert sind. Während bei vorgängigen Projekten oft sechs Cluster um die gemeinschaftlichen Flächen angeordnet werden, sind es bei der Siedlung Spree- feld neun. Zudem verlaufen die Clusterwohnungen jeweils über zwei Geschosse (siehe Abb. 2). Ebenfalls neu ist bei der Siedlung Spreefeld, dass statt den sonst üblichen ein oder zwei Zimmern hier Clusterwohnungen mit drei oder vier Zimmern angeboten werden.
Als Ergänzung für die gesamte Siedlung dienen gemeinschaftliche Räume wie Co-Working Spaces, Gästezimmer, ein Musik- und Jugendraum, ein Fitnessraum, eine Waschküche sowie Dachterrasse oder die sogenannten Optionsräume, die nicht nur der Bewohner*innenschaft, sondern der gesamten Quartierbevölkerung für diverse temporäre Nutzungen zur Verfügung stehen (LaFond/Tsvetkova 2017: 38). Die Siedlung Spreefeld ist selbstorganisiert und verwaltet sich mithilfe einer Mitgliederversammlung. Der Mitwirkungsgrad der Bewohner*innen kann als sehr hoch eingestuft werden. Der Schwerpunkt des partizipativen Prozesses liegt in der Gestaltung und Umsetzung des Gemeinschaftlichen und dessen Organisation, auch der Nutzung der Optionsräume. Die Finanzierung erfolgte durch die Genossenschaft, sprich durch einen Teilbesitz der Bewohner*innenschaft, die jedoch auch eine Eigen- tumsoption geltend machen können. Zu Beginn der Entwicklung des Projekts, das gänzlich bottom-up erfolgte, war es zudem ein zentrales Anliegen, dass Spreeufer öffentlich zugänglich zu belassen und dieses nicht durch die gebaute Struktur zu beeinträchtigen oder gar zu privatisieren. 3.3. CO-LIVING – DIE KREATIVEN KNOTENPUNKTE Schon Großhaushalte und Clusterwohnungen zeigen erste Ansätze zu einem räum- lich verteilten Wohnen, bei dem der individuelle Raum durch Nutzungsoptionen und mögliche Serviceleistungen vielfältig und flexibel ergänzt wird. Beim Co-Living verteilen sich gemeinschaftliche Wohnräume und Funktionen nun weiter, zudem wird Wohnen wiederum in Verflechtung mit Arbeiten wahrgenommen. Dieses erwei- terte Verständnis des Wohnens lässt vermuten, dass die Bewohner*innenschaft hete- rogener wird.
Erste realisierte Projekte ab den 2010er-Jahren deuten allerdings auf eine sehr homogene Nutzer*innenschaft hin, besonders junge Berufstätige, soge- nannte Yuppies (young urban professionals) finden dieses Wohnmodell attraktiv und nutzen es, um sich in einer Stadt anzusiedeln und dort in der Gemeinschaft zu leben. So finden sich bei dieser gemeinschaftlichen Wohnform auch keine Kinder. Typologisch ist das Co-Living den Clusterwohnungen ähnlich, da wiederum hotelähnliche und reduzierte Wohneinheiten den privaten Wohnbereich bilden. Ebenso ist eine Rückbesinnung auf die Boarding- und Apartmenthäuser aus dem frühen 20. Jahr- hundert spürbar, denn die gemeinschaftlichen Räume werden zu vernetzten Knoten- punkten, in denen die oft international ausgerichtete Bewohner*innenschaft die Balance zwischen dem reduzierten privaten Raum und den umfangreichen angebo- tenen Serviceleistungen findet. Bisher wurde Co-Living meist in bestehenden und Susanne Schmid 175 Typologie des gemeinschaftlichen Wohnens zentrumsnahen Gebäuden realisiert. Die vorhandenen Raumstrukturen bildeten also die Grundlage für das Grundrisslayout. Es scheint, dass sich noch keine deutliche Typologie dieses neuen Wohnmodells durchgesetzt hat. Bei den Betriebsstrukturen wird ein großer Aufwand betrieben: Vielerorts sorgen Community Manager für die Organisation der gemeinschaftlichen Aktivitäten sowie der angebotenen Serviceleis- tungen. Mit dem Co-Living Old Oak realisierte die Organisation The Collective im Jahr 2016 ihr erstes Wohnbauprojekt in London. Bisher betrieb die Organisation ausschließlich Co-Working Places, weitere Projekte in Verbindung mit Co-Living sind in Planung. Das Co-Living Old Oak wurde als eines der wenigen Co-Living-Projekte als Neubau konzipiert und stellt Wohnfläche für rund 550 Personen zur Verfügung.
Es werden unterschiedliche individuelle Wohneinheiten angeboten, wobei die meisten zu der kollektiven Erschließungsfläche hin eine vorgelagerte Zwischenzone mit Nasszelle und Kleinküche aufweisen. Die private Wohnfläche wird, im Gegensatz zu den beiden anderen hier vorgestellten Wohnmodellen, möbliert vermietet. Es gibt umfangreiche ergänzende gemeinschaftliche Flächen wie Gemeinschaftsküchen mit Ess- und Aufenthaltsbereichen auf jedem Geschoss, die bei Bedarf für private Anlässe genutzt werden können. Im Weiteren finden sich verteilt über die Geschosse eine Biblio- thek, ein Raum der Stille, ein Kino, ein Game Room, ein Spa und eine Waschküche. Im Erdgeschoss als öffentlichster Bereich werden ein Restaurant, ein Eventraum, ein Fitnessstudio sowie die Co-Working Places angeboten (siehe Abb. 3). Der Mitwirkungsgrad ist beim Co-Living grundsätzlich eher gering, im Unter- schied zu den Großhaushalten und den Clusterwohnungen. Grund dafür ist die Organisationsform sowie die daraus resultierende Finanzierung. Wie die meisten Co-Living-Projekte wird auch das Co-Living Old Oak von einer privaten Trägerschaft entwickelt und betrieben, die Bewohner*innenschaft wirkt nicht selbstorganisiert. Die gesamte Organisation funktioniert top-down, der Wohnraum wird durch Mieten angeeignet. 4. GEMEINSCHAFTLICHES WOHNEN ALS ANTWORT Wohnen und Gemeinschaft sind eng miteinander verbunden. Doch erst seit sich mit der Industrialisierung jahrhundertealte Organisationsstrukturen des Wohnens und Wirtschaftens auflösten, erhält das gemeinschaftliche Wohnen eine neue Bedeu- tung, die zu erklären ist. Dabei sind die Gründe, Wohnraum zu teilen, ebenso kultu- rell geprägt wie der Wunsch nach dem konventionellen Wohnen. Im Vergleich zum herkömmlichen Wohnen wird gemeinschaftliches Wohnen jedoch oft bewusster gewählt.
Kollektive Wohnmodelle beinhalten deshalb meist eine Kritik an den vorherrschenden konservativen Bildern des Zusammenlebens und lassen gesell- schaftliche Prozesse erkennen, die sich räumlich ausformulieren und Entwick- lungen bezüglich Lebens- und Haushaltsweisen in gebauter Form sichtbar machen. Die bewusst gefällte Entscheidung, gemeinschaftlicher zu wohnen sowie die daraus resultierenden kollektiven Wohnmodelle können als Antwort auf gesellschaftliche Veränderungen gesehen werden. So nimmt das gemeinschaftliche Wohnen in der gesamten Wohnbaugeschichte eine bedeutende Rolle im Sinn einer Reflexion ein. Gemeinschaftliche Wohnmodelle sind Zeitzeugen, die in ihrer Entstehungsge- schichte, Organisationsform, Bewohner*innenschafts- sowie Betriebsstruktur stark variieren. An ihnen ist das jeweilige Verständnis der Lebensweisen, der Art des Zusammenwohnens, der Haushaltsführung, der Erziehung sowie der Abgrenzung 176 Susanne Schmid 0 5 10m Abb.3 The Collective Old Oak; PLP Architektur, London. Plan: Bürgi Schärer Architekten, CC BY-SA. Regelgeschoss (oben), Erdgeschoss (unten) London; PLP Architektur. Abb.2 Wohnsiedlung Spreefeld; carpaneto.schöningh architekten, fatkoehl architekten, BAR Architekten. Plan: Bürgi Schärer Architekten, CC BY-SA. Grundriss 1. OG (links), Grundriss 2. OG (rechts) Berlin Abb.1 Grosshaushalt Karthago; Zürich. Plan: Bürgi Schärer Architekten, CC BY-SA. Erdgeschoss (links), Regelgeschoss (rechts); Annette Spiro, Stefan Gartenbein 177 oder Einbindung der Lohnarbeit ins Wohnumfeld abzulesen. Die gesellschaftliche Rolle der Frau erhält in dieser Betrachtungsweise einen hohen Stellenwert, denn der Ursprung des gemeinschaftlichen Wohnens war oft der Wunsch nach einer weniger belastenden respektive einer geteilten Form der Haushaltsführung und der Kinder- erziehung.
Dass gerade in einer Zeit, in der Frauen wieder vermehrt einer Lohnar- beit nachgehen, das gemeinschaftliche Wohnen stärker nachgefragt wird, scheint in diese Logik zu passen, denn die wachsende Beteiligung der Frauen am Erwerbsleben führte bisher nicht zu einer gleichermaßen wachsenden Beteiligung der Männer an den gesamten Haushaltstätigkeiten (Altenstrasser/Hauch/Kepplinger 2007: 55). In prägnanter Weise formulierte dies der englische Soziologe Ray Pahl mit den Worten „A professional woman needs a wife“ (Siebel 2004: 45). Besondere Merkmale des gemeinschaftlichen Wohnens sind die Einflussnahme sowie die Motive der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung, die vorerst auf Indi- vidualität hinweisen, jedoch in der Gemeinschaft ebenso Wirkung zeigen. Die meisten kollektiven Wohnmodelle der letzten Jahrzehnte zielen darauf ab, die Selbstständig- keit der Bewohner*innenschaft zu fördern, sei es in selbstorganisierten Betriebsstruk- turen oder in einer erleichterten Haushaltsführung. Gemeinschaftliches Wohnen heißt also, sich nicht in vorgegebene Strukturen einzufügen, sondern diese erst zu schaffen oder durch die Nutzung zu beleben. Durch die Mitbestimmung der Wohntypologien und der Verteilung der Wohnfunktionen kann eine zukünftige Bewohner*innen- schaft auf die funktionale Bedeutung der Wohnung Einfluss nehmen. Weiter erhalten die Nutzer*innen mit einer gemeinnützigen Organisationsform Wohnsicherheit und stärken so die rechtlich-ökonomische Bedeutung des Wohnens. Und dank der sozialen Integration von unterschiedlichen Nutzer*innengruppen wie beispielsweise älteren Personen oder Alleinstehenden wird zudem die sozial-psychologische Bedeutung der Wohnung gesichert (Häussermann/Siebel 2000: 15).
Neuere Genossenschaften in der Schweiz achten beispielsweise stark darauf, dass sämtliche Gesellschaftsschichten in den Wohnobjekten Platz finden, um eine ausgewogene Bewohner*innenschaft zu erhalten. Die oben erwähnten Bedeutungen einer Wohnung sind wichtige Bestandteile, wenn es um das Grundbedürfnis Wohnen im städtischen Kontext geht, in dem die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum seit der Jahrtausendwende problema- tischer ist. In diesem Sinne lassen sich auch die hier vorgestellten Wohnmodelle einordnen. Insbesondere Großhaushalte und Clusterwohnungen führen zu einer selbstbestimmteren Wohnsituation, in der die Bewohner*innenschaft als Gemein- schaft ihre Wohnbedürfnisse definiert, umsetzt und betreibt. Beim Modell Co-Living ist es nicht zwingend die Einflussnahme, die oberste Priorität hat. Bei einer eher jungen Nutzer*innenschaft ist vorherrschendes Motiv vielmehr das Gefühl, in einer Gemeinschaft unter Gleichgesinnten aufgehoben zu sein. Beim gemeinschaftlichen Wohnen sind, auch schon sehr früh im Prozess, verstärkt Aushandlungsprozesse aller Beteiligten notwendig. Dies verlangt wiederum viel- fach nach einem eigenverantwortlichen Ansatz, der kaum von außen her appliziert, hingegen mit einem möglichen Zugang zu Grund und Boden sowie einer profes- sionellen Unterstützung gefördert werden kann. Die gestiegene Nachfrage nach gemeinschaftlichem Wohnen wurde jedoch in den letzten Jahrzehnten weitgehend vernachlässigt (Baumann u. a. 2012: 92). Bisher hinterfragten meist nur gemeinnüt- zige und zunehmend kommunale Bauträger oder selbstinitiierte private Träger- schaften wie beispielsweise Baugruppen standardisierte Wohnungsgrundrisse und setzten neuartige gemeinschaftliche Wohnformen um.
Erst seit Kurzem beginnen Typologie des gemeinschaftlichen Wohnens 178 nun einige private und institutionelle Investoren und Bauträger gemeinschaftliches Wohnen als innovatives Geschäftsfeld und sozio-ökonomisches Potenzial für ihre Wohnprojekte zu entdecken. Bei diesen Projekten wird sich mit der Erfahrung in der Umsetzung zeigen, inwieweit eine lebendige Gemeinschaft langfristig zum Tragen kommen wird oder ob diese Projekte vielmehr ein zeitgeistiges Phänomen waren. Der heutige Wunsch nach Gemeinschaft wird jedoch voraussichtlich bleiben und in einer breiteren Bevölkerungsschicht ankommen, um den gesellschaftlichen Verän- derungen wie dem demografischen Wandel oder der Zunahme der Einpersonenhaus- halte entgegenzuwirken, aber auch um den Wohnflächenverbrauch im städtischen Kontext zu verringern und dadurch die Bezahlbarkeit der Wohnungen zu gewähr- leisten. QUELLEN Altenstrasser, Christina; Hauch, Gabriella; Kepplinger, Hermann 2007: gender housing – geschlechtergerechtes bauen, wohnen, leben. Innsbruck: Studien Verlag. Arendt, Hannah 1981: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper. Baumann, Beat; Flury, Beat; Fust, Raoul Christian; Hohenacker, Tillmann 2012: Wohngemein- schaften, ein Markt für Investoren? Masterarbeit. Zürich: Hochschule für Wirtschaft Zürich. Häussermann, Hartmut; Siebel, Walter 2000: Soziologie des Wohnens, Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens. München: Juventa Verlag. LaFond, Michael; Tsvetkova, Larisa 2017: CoHousing Inclusive, Selbstorganisiertes, ge- meinschaftliches Wohnen für alle. Berlin: Jovis Verlag. Meyer-Ehlers, Grete; Haussknecht, Meinhold; Rughöft, Sigrid 1973: Kollektive Wohnfor- men, Erfahrungen, Vorstellungen, Raumbedürfnisse in Wohngemeinschaften, Wohn- gruppen und Wohnverbänden. Wiesbaden: Bauverlag.
Nierhaus, Irene; Nierhaus, Andreas (Hg.) 2014: Wohnen zeigen, Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur. Bielefeld: Transcript Verlag. Petsch, Joachim 1989: Eigenheim und gute Stube. Zur Geschichte des bürgerlichen Woh- nens. Köln: Dumont. Schmid, Susanne; Eberle, Dietmar; Hugentobler, Margrit (Hg.) 2019: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens, Modelle des Zusammenlebens. Basel: Birkhäuser. Siebel, Walter 2004: Die europäische Stadt. Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp. Stahel, Thomas 2006: Wo-Wo-Wonige! Zürich: Fakultät der Universität Zürich. Wüstenrot Stiftung (Hg.) 1999: Neue Wohnformen. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. SUSANNE SCHMID Susanne Schmid studierte Innenarchitektur an der Hochschule Luzern – Technik & Ar- chitektur und absolvierte den Studiengang MAS in Housing am ETH Wohnforum – ETH CASE in Zürich. Dabei erforschte sie das gemeinschaftliche Wohnen mit seinen sozio- logischen und architektonischen Auswirkungen. Susanne Schmid ist Partnerin bei Bürgi Schärer Architekten in Bern und beschäftigt sich neben der angewandten Forschung insbesondere mit Themen des Wohnungsbaus, begleitet Studien und Wettbewerbe auch bis zur Realisation. Susanne Schmid 179 181 https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_14 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. Ernst Gruber Schafft Raum Gesellschaft? Der Gemeinschaftsraum im Wohnbau: Potenzialflächen für eine neue Solidarität Gemeinschaftsräume sind Raumressourcen zwischen dem individuellen und dem öffentlichen Raum. Meist einer eindeutig definierten Bewohner*innenschaft zuge- ordnet, befinden sie sich im nahen Umfeld derer Wohnungen. Ob nutzungsoffen oder klar funktional zugeordnet – an ihren Räumen lässt sich auch die Verfassung einer Gemeinschaft ablesen.
Sie geben Utopien Raum, erweitern die Nutzungsmög- lichkeiten und machen Bewohner*innen zu Nachbar*innen. Sie können Aushänge- schild der Hausgemeinschaft oder auch großzügige Angebote an die Umgebung sein, wenn Planungs- und Verwaltungsziele in Einklang mit Anspruch und Nutzung der Bewohner*innen stehen. 1. RÄUME FÜR EINE NEUE GESELLSCHAFT In der Vorstellung, die Hausarbeit ließe sich durch ihre Auslagerung und Verge- meinschaftung neu organisieren, liegt der Ursprung der Gemeinschaftsräume im Wohnbau. Die ersten Ideen dazu reichen ins 19. Jahrhundert zurück: Die landwirt- schaftlichen oder industriellen Produktions- und Wohngenossenschaften der Früh- sozialisten Robert Owen (Phalanstères bzw. Familistères) und Charles Fourier (New Lanark in Schottland) bündelten zentrale gemeinschaftliche Funktionen in eigens dafür geschaffenen Räumen (Novy 1991: 12f.). Als Gegenentwürfe zum städtischen Industriekapitalismus stellten diese gebauten Utopien eine Neuorganisation der dominierenden Hierarchien dar. „In einer gege- benen Gesellschaft ist der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation“ schrieb Fourier Anfang des 19. Jahrhunderts. Das Arbeiten und das Zusammenleben wurden auf genossenschaftlicher Basis organi- siert. Wesentlich waren die selbstverwalteten Gemeinschaftseinrichtungen wie Kantinen, aber auch Bibliotheken. Sie standen allen Bewohner*innen gleichermaßen 182 zur Verfügung und ermöglichten eine kollektive und damit solidarische Verrichtung von Haus- und Industriearbeit. An diese Ideen knüpften die ,materiellen Feministinnen‘ an (vgl. Hayden 2018), die sich in den USA der Frage der Neuordnung der Hausarbeit im spezifisch städtischen Kontext widmeten. Auch sie hinterfragten die bestehenden Machtverhältnisse und brachten konkrete Alternativen in Form von Hausfrauen-Kooperativen und Dining- Clubs hervor.
Sie entwickelten nicht nur Entwürfe für Wohnformen mit Räumen für die Vergesellschaftung der Hausarbeit, sondern dachten das Konzept über das Ensemble ,Haus und Bewohner*innen‘ in das Wohnumfeld hinein weiter. Dazu forderten sie die kollektive Erledigung der Hausarbeit von „bezahlten Arbeitskräften in gut ausgestatteten Nachbarschaftsküchen, Wäschereien und Kindertagesstätten“. Das wäre damals schon revolutionär gewesen, konnten sich in den USA gegen das in den 1920ern massiv geförderte Eigenheim und den konsumorientierten Wandel zur „maximalen Nachfrage nach Massenprodukten“ aber nicht durchsetzen (Hayden 2018: 140). 1.1. IDEEN UND MODELLE Die Idee der kollektiven Erledigung der Hausarbeit griff Ebenezer Howard in seinem suburbanen Konzept der Garden City auf. In einem Einküchen-Hofhaus („quadrangle“) der Wohnkooperative Letchworth waren küchenlose Apartments über eine Arkade mit dem zentralen Speisesaal und der angeschlossenen Großküche verbunden. Die Hausarbeit wurde durch bezahlte Angestellte verrichtet, Letchworth sollte ein Ort des „Widerstandes gegen die Ausgrenzung der Frauen von produktiver und sozialer Arbeit“ werden (Borden 1999). Parallel experimentierte man in Kopenhagen und Wien mit Einküchenhäusern im städtischen Kontext. Das Wiener Modell „Heimhof“ übte eine Zentralwirtschaft für seine Bewohner*innen aus, für die es eine Zentralwaschküche gab, in der man die Wäsche zum Selbstkostenpreis waschen und bügeln lassen konnte. Anstelle indivi- dueller Küchen in den kleinen Wohnungen gab es eine Zentralküche mit Speisesaal, die täglich vier Menüs zur Auswahl bereithielt. Darüber hinaus standen den Bewoh- ner*innen Lesestuben und Sonnenterrassen als Gemeinschaftsangebote im Haus zur Verfügung. Sie führten ihre eigene Hausverwaltung, eingebettet in eine Genossen- schaftskonstruktion.
Das Waschen in zentralen Waschküchen, die als Gemeinschaftseinrichtungen eine Erleichterung der Hausarbeit bringen und damit einen Beitrag zur Emanzipation der Frauen im großen Maßstab leisten sollten, war neben Einrichtungen der Fürsorge wie Kindergärten oder Beratungseinrichtungen ein zentrales Element der Gemein- debauten des Roten Wien. Sie sollten Ausdruck einer neuen proletarischen Solida- rität sein, mit „Gemeinschaftsanlagen, gemeinsam betriebene[n] Arbeitsstätten, um die täglichen Bedürfnisse durch Kollektivarbeit rationeller befriedigen zu können (Waschküchen usw.)“ (Jahnel 1930). Hier standen die Gemeinschaftsräume in enger Verbindung mit den Grundideen des sozialen Wohnbaus als Konkretisierung der kulturellen Utopie des Austromarxismus. 1.2. PRAXIS UND REALITÄT Im Kontext der Garden City mit seiner bürgerlichen Zielgruppe trug das Einküchen- haus nicht dazu bei, die gewohnte Rollenverteilung überwinden zu können (Borden Ernst Gruber 183 1999). Das Wiener Modell hatte hingegen mit seiner Position im Kontext des Gemein- dewohnbauprogramms zu kämpfen, in dem es eine einsame Ausnahme darstellte und dem gegenüber es über wenig Autonomie verfügte. Um erfolgreich sein zu können, hätte die Idee der Zentralwirtschaft stärker an die Selbstverwaltung durch die spezi- elle Zielgruppe der erwerbstätigen, alleinstehenden Arbeiter*innen geknüpft sein müssen. Dazu fehlte es diesen aber an Zeit und auch an faktischen Möglichkeiten – die Verwaltung und Führung des Hauses unterlag der Gemeinde (Weihsmann 2002: 343). Ein möglicher Weg für eine Massentauglichkeit wäre die Einbindung des Modells in den kommunalen Wohnbau gewesen, wie es auch der Vorschlag ihrer eigenen Frau- enbewegung gewesen war, doch die sozialdemokratische Führung hatte sich bereits sehr früh gegen einen solchen Schritt entschieden (Weihsmann 2002: 234).
Die Gemeinschaftseinrichtungen der Wiener Gemeindebauten erachteten die Frauen eher als notwendiges Übel, auf die man zurückgriff, wenn es keine Alterna- tive gab, wie eine Befragung unter 1.320 Heimarbeiter*innenhaushalten zeigte. Man war froh, die „Bassenakultur“ 1 der gründerzeitlichen Zinshäuser hinter sich lassen zu können. Demgegenüber war die Möglichkeit des Agierens im eigenen Gemeindewoh- nungshaushalt eine Befreiung. Die Verfügungsgewalt über die eigene Wohnung war Ausdruck von Autonomie und Selbstbestimmung, auch im Gegensatz zum fremdbe- stimmten Arbeitsleben. Die Vorstellung einer gelebten Gemeinschaft im Wohnumfeld setzte sich gegenüber der Beibehaltung der traditionellen Rollenverteilung innerhalb der Haushalte nicht durch. Das zeigte sich auch in der geringen Nutzung von Kinder- betreuungsangeboten im Umfeld der Gemeindebauten, auf die nur etwa 20 Prozent der befragten Heimarbeiter*innen zurückgriffen. Die Abläufe in den Waschküchen mit zwei bis drei Waschtagen pro Monat und Haushalt waren durchrationalisiert und wurden als belastend wahrgenommen. Die Überwachung durch – meist männliche – Aufsichtspersonen erzeugte Stress unter den Frauen, die den Waschtag alleine bewerkstelligen mussten, während die Männer der Erwerbsarbeit außer Haus nachgingen. Dazu kamen Befürchtungen, Fehlein- schätzungen oder Wissensdefizite der Bewohner*innen in Bezug auf die Nutzung der Gemeinschaftseinrichtungen, die vom Fehlen einer dialogischen Kommunikations- politik und der fehlenden Möglichkeit der Mitbestimmung über die Nutzung der Gemeinschaftseinrichtungen zeugen (vgl. Weihsmann 2002: 50).
Die Gemeinschaftseinrichtungen der Gemeindebauten des Roten Wien lassen sich – je nach Blickwinkel – entweder als „höchst wirksame Ansätze zu einem orga- nisierten und gesunden Gemeinschaftsleben“ lesen, die auch das Ziel einer eman- zipatorischen Wirkung auf die Frauen verfolgten (Weihsmann 2002: 47) oder als Zwangskommunikation und „denkbar ungünstigste Voraussetzung für solidarisches Verhalten und Handeln“ (Frei 1984: 99). 2. NUTZUNGSOFFENE GEMEINSCHAFTSRÄUME In den vergangenen Jahrzehnten ist der kommunale Wiener Wohnbau von der Produktion zu einer Delegierung von Anforderungen an Bauträger übergegangen. Im Rahmen qualitativer Kriterien der Konzeptverfahren, den sogenannten Bauträ- gerwettbewerben, in deren Rahmen Grundstücke vergeben werden, ist auch die Schaffung von Gemeinschaftsräumen gewünscht. Die Kriterien sind allgemein gehalten und sollen „unterschiedliche Nutzungen, Nutzergruppen und Wohnformen durch vielfältig nutzbare Grundrisse, Erschließungs- und Gemeinschaftsflächen und Außenbereiche“ (Wohnfonds Wien 2019) ermöglichen. Diese sind der Hauptgrund, Schafft Raum Gesellschaft? 184 warum Gemeinschaftsräume in Wien mittlerweile einen festen Bestandteil der Quali- täten des neuen Wiener sozialen Wohnbaus darstellen. Diese allgemeinen Kriterien können in einzelnen Ausschreibungen auf bestimmte Themen hin spezifiziert werden, wie auf „Interkulturelles Wohnen“ oder „Wohnen für Alleinerziehende“. Dies kann Lage, Ausstattung und Funktion der daraus entste- henden Gemeinschaftsräume beeinflussen, wie beispielsweise eine geschossweise Zuordnung von Gemeinschaftsräumen zu Wohnungen für Alleinerziehende. Den Projekten ist es selbst überlassen, welche konkreten Ziele die Gemeinschaftsräume erfüllen sollen. Überwiegend sind sie nutzungsoffen, ihre Aneignung bietet Anlass für einen ersten Nachbarschaftsbildungsprozess der künftigen Bewohner*innen unter- einander.
Dies fügt sich der speziellen Logik des geförderten Wiener Wohnbaus mit seinem Paradigma der sozialen Durchmischung. Geförderter Wohnraum soll einer möglichst breiten Bewohner*innenschaft zugänglich sein, für die es außer ökonomischen Voraussetzungen kaum Auswahlkriterien geben darf. Somit entwickelt sich die Frage der Programmierung von Gemeinschaftsräumen zu einer Gratwanderung zwischen Spezifik und Beliebigkeit, oder, wenn eine Entscheidung noch zu verhandeln ist: Nutzungsoffenheit, da man nicht wissen kann, für wen man eigentlich plant. 3. VIER MODELLE VON GEMEINSCHAFTSRÄUMEN Die folgenden vier Herangehensweisen, die teilweise miteinander kombiniert werden können, zeigen, woran sich die Programmierung von Gemeinschaftsräumen grund- sätzlich orientieren kann: 3.1. DIE ERWEITERUNG DER WOHNUNG Mit zunehmender Verdichtung der Städte und dem steigenden Druck auf die Wohn- kosten sind kompakte Wohnformen zu einem Paradigma städtischer Wohnbauqua- lität geworden. Gemeinschaftsräume können eine Erweiterung für kleine, individu- elle Wohnungen sein. Im Maßstab eines Geschosses, wie bei den Satelliten- oder Clusterwohnungen der Genossenschaften Spreefeld in Berlin oder der Zürcher mehr als wohnen, gibt es gemeinsam genutzte Koch- und Essbereiche oder zusätzliche Bäder und Nebenräume. Einzelnen Wohnungen im Verbund zugeordnet können sich räumliche Zusammen- hänge ergeben, die man sich sonst nicht leisten könnte. Der privaten Wohnung mit 55 m² stehen im Wohncluster Spreefeld Berlin insgesamt 400 m² (für 22 Menschen) zur – nicht exklusiven –, aber alltäglichen Verfügung.
Im Maßstab eines ganzen Gebäudes können nutzungsneutrale „Überlegungen zu Mehrwerten durch Erschließungen, Abstellräume, gemeinschaftliche Raumangebote etc.“ sinnvoll sein, die angeeignet werden können, wie es das von der Gemeinde Wien entwickelte SMART-Wohnbauprogramm, eine Förderschiene für besonders kompakte und günstige Wohnungen (Wohnfonds Wien 2019: 2f), nahelegt. Auch spezielle Funk- tionen wie Räume für Feste, Indoor-Spielplatz, eine Gemeinschaftsküche oder eine Gästewohnung eignen sich als ergänzende Angebote, die in der eigenen Wohnung oft keinen Platz mehr haben. Ernst Gruber 185 3.2. DER HAUSHALTSERSATZ Gemeinschaftsräume können mit spezifischen Angeboten Funktionen des individu- ellen Wohnens wie Kochen oder Wäschewaschen übernehmen. Die damit verbun- dene Arbeitsleistung wird entweder kollektiv organisiert oder vergütet und kann zur Entlastung des einzelnen Haushalts beitragen. Gegenwärtige Beispiele finden sich im Bereich des Kochens, wie die Großküchen und Speisesäle in den Zürcher Genossenschaften Kalkbreite oder Karthago. Hier liegt der Fokus auf Zeitersparnis bei der Zubereitung und dem kommunikativen und sozi- alen Aspekt durch das gemeinsame Essen. Wenngleich die Möglichkeit des Rückzugs in die individuelle Wohnsphäre gegeben ist, spielt auch Flächenersparnis bei Wohn- einheiten mit kleineren Kochnischen eine Rolle. Auch Aufgaben wie das Einkaufen können gemeinschaftlich organisiert werden, wie das Beispiel des „Konsumdepots“ im Zürcher Kraftwerk1 zeigt: Durch die kollek- tive Organisation und Finanzierung des Verkaufs in diesem Gemeinschaftsraum können die Produkte günstig angeboten werden. 30 Mieter verkaufen ehrenamtlich, zusätzlich gibt es eine bezahlte Stelle für einen Tag die Woche, finanziert aus Genos- senschaftsgeldern, die Miete für das Lokal wird auf die Mieter umgelegt.
Das Angebot steht auch den Bewohner*innen der Nachbarschaft zur Verfügung. Schafft Raum Gesellschaft? 0 5 N Hunziker Areal, Baugenossenschaft mehr als wohnen 10m Grundriss Regelgeschoss möbliert, Haus A, Dialogweg 6 Duplex Architekten, Zürich 0 5 N Hunziker Areal, Baugenossenschaft mehr als wohnen 10m Grundriss Regelgeschoss möbliert, Haus A, Dialogweg 6 Duplex Architekten, Zürich Abb. 1: Projekt Mehr als wohnen in Zürich, Hunziker Areal, Haus A. Plan: © Duplex Architekten. 186 3.3. DAS STATUSSYMBOL Gemeinschaftliche Raumangebote gewannen im mehrgeschossigen Wohnbau der Nachkriegszeit in den 1970er- und 80er-Jahren wieder an Bedeutung. In Wien waren es die Bauten des Architekten Harry Glück, in Graz Bauten wie die Terrassen- haussiedlung, die versuchten, die Wohnform eines Einfamilienhauses mit gemein- schaftlichen Aspekten zu verbinden. In Graz verfolgte man den Weg, Gemein- schaft durch Mitbestimmung zu fördern. Bei Fertigstellung der 522 Wohnungen der Terrassenhaussiedlung im Jahr 1978 hatten rund zwei Drittel der Bewohner*innen ihre eigenen Wohnungsgrundrisse mitbestimmen können (Wohnbau 1981). In dem in Wien zwischen 1973 und 1985 für knapp 10.000 Menschen errichteten Wohnpark Alt-Erlaa legte man den Schwerpunkt hingegen eher auf Gemeinschaftsräume und hier vor allem auf Freizeiteinrichtungen, die üblicherweise im individuellen Bereich zum gehobenen Status gehören. Dazu zählen Saunen, ein Sanarium, ein Dampfbad, Infrarotkabinen, Solarien, Tennishallen und Badmintonplätzen sowie sieben Hallen- und sieben Dachschwimmbäder (Wohnpark Alt-Erlaa 2013). Sie stehen allen Bewoh- ner*innen gleichermaßen und exklusiv offen und sollten einer „breiten Masse ein Wohnen ermöglichen, wie es sich die Oberschicht schon immer leisten konnte“ (Feller 2014).
Hinzu kommen sieben Schlechtwetterspielplätze und etwa 30 „Hobbyräume“, wie beispielsweise ein Keramik-Club, ein Foto-Club und ein Freddy-Quinn-Museum. Diese sind in Form von Klubs in einem Dachverband organisiert, dem Kultur- und Sportverband Alterlaa. Fast alle gemeinschaftlichen Einrichtungen kommen ohne Tageslicht aus, wodurch sie im ,Bauch‘ des beidseitig terrassierten Sockels liegen, was einen statischen und ökonomischen Vorteil hat. Dadurch wird es möglich, in der Gemeinschaft zu schaffen, was sich Einzelne kaum leisten könnten. Bestärkt durch gesellschaftliche Trends wie dem Wunsch nach dem „Nutzen statt Besitzen“ von Annehmlichkeiten finden sich ähnliche Angebote in anderen Projekten wie Bewohner*innenkinos, Bibliotheken oder auch ein Bootshaus, wie beim Spreefeld Berlin. 3.4. DAS ANGEBOT FÜR DIE UMGEBUNG Sollen Räumlichkeiten für die Nutzung durch externe Nutzer*innen zur Verfügung gestellt werden, gilt es Aspekte der Haftung, des Zugangs, aber auch eines kosten- deckenden Betriebs zu bedenken. Baugemeinschaften tun sich durch die oft bestehende ,Personalunion‘ von Nutzer*innen, Eigentümer*innen und Verwalter*innen leichter, solche Ansprüche zu erfüllen. Da sie Räume als Orte des kollektiven Handelns und Entscheidens der eigenen Hausgemeinschaft brauchen, liegt es nahe, diese auch an Externe für Veran- staltungen zugänglich zu machen und dementsprechend auszustatten. Gerne bedient man sich eigener Vereinslösungen, wie auch die Baugruppe Grätzelmixer nahe des Wiener Hauptbahnhofs. Ihr namensgebender, ca. 100 m² großer Kultur- und Bewe- gungsraum im Erdgeschoss wird durch einen Bewohner*innenverein verwaltet, der Inhaber der Nutzungsrechte der Gemeinschaftseinrichtungen im Haus und des Grät- zelmixers ist. Der Raum kann sowohl von Hausbewohner*innen als auch von Anrai- ner*innen genutzt werden.
Angebote für die Umgebung können auch spezifische Nutzungen sein wie Biblio- theken, Badeanlagen oder Werkstätten. Das Badehaus des Wiener Wohnprojekts Sargfabrik verfolgt eine Dreiteilung der Nutzer*innengruppen in Bewohner*innen, Ernst Gruber 187 externen Clubbetrieb und öffentliche Nutzung. Diese verfügen über unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten und leisten einen unterschiedlichen ökonomischen Beitrag zur Deckung der Kosten für Personal, Material, Reparatur und Verwaltung. Um die Kosten der Errichtung des Badehauses zu erleichtern, wurden die Standardausstat- tungen der Badezimmer in den Wohnungen der Sargfabrik „eher karg und rein funk- tional ausgeführt“, Badewannen waren Sonderwünsche. Derartige Angebote ,Privater‘ können eine gute Ergänzung für öffentliche Ange- bote in Nischen sein, die von den Kommunen nicht durchdrungen werden. Das Bade- haus der Sargfabrik ist, ebenso wie ihr Kulturangebot, als Ergänzung zu den Ange- boten der Stadt Wien zu sehen. 4. NUTZUNGSOFFEN ODER SPEZIFISCH Die grundlegende Ausrichtung von Gemeinschaftsräumen ist entweder nutzungs- offen oder spezifisch. Der spezifisch programmierte Gemeinschaftsraum soll einen konkreten und vorab definierten Zweck erfüllen und wird bei Bezug dementspre- chend ausgestattet als Gesamtpaket übergeben. Er ist somit Teil der Gesamtplanung eines Vorhabens und trägt zu dessen Charakterisierung bei. Demgegenüber muss der nutzungsoffene Gemeinschaftsraum verschiedene Nutzungsszenarien ermöglichen und wird mit den bestehenden oder künftigen Bewohner*innen angeeignet und ausgestattet. Dadurch besteht die Möglichkeit, dass er bedürfnisgerechter ist. Es lässt sich ein größerer Spielraum der Mitbestim- mung bewirken. Dies kann für die Beteiligten den Aufwand, aber auch die Akzeptanz erhöhen und für diesen Prozess bedarf es einer Begleitung.
Ob nutzungsoffen oder spezifisch – in beiden Fällen liegt die Herausforderung der architektonischen Planung und der sozialorganisatorischen Begleitung darin, Qualität und Nutzungsmöglichkeit der Räume so festzulegen, dass sie gegenwärtigen und antizipierten Nutzungsänderungen eine gute Basis bieten können. Räumliche Differenzierungen ergeben sich sowohl hinsichtlich Größe und Lage innerhalb einer Anlage. Je nach Wohnumfeld oder angestrebter Nutzung kann die Situierung eher halböffentliche Nutzungen nahelegen, wie in der Erdgeschosszone, oder eher private, wie beispielsweise am Dach als Gemeinschaftsterrasse. 5. ORGANISATION, MITSPRACHE UND DIE EIGENTUMSFRAGE Üblicherweise stehen bei Projektbeginn und Planung die künftigen Nutzer*innen noch nicht fest. In den seltensten Fällen sind die Gemeinschaftsräume Grund für die Entscheidung für eine spezifische Wohnanlage. Wie lässt sich nun die Nutzung von Gemeinschaftsräumen mit einer mehr oder weniger zufällig ausgewählten Bewohner*innenschaft festlegen? 5.1. ANGEBOT ZUR SELBSTVERWALTUNG Die sozialorganisatorische Herausforderung liegt darin, die Nutzung zu organi- sieren und die nötigen Teilnehmer*innen für die Gemeinschaftsräume zu finden, insbesondere dann, wenn die künftigen Nutzer*innen erst sehr spät bekannt sind. Die Herausforderung liegt darin, Formate, Methoden und Abläufe umzusetzen, die eine möglichst niederschwellige Anschlussfähigkeit erzeugen. Gemeinsam mit den Bewohner*innen werden Regeln definiert, im Verlauf des Prozesses gibt es die Schafft Raum Gesellschaft? 188 Möglichkeit für einzelne Personen, zu ,Kümmerern‘ mit mehr oder weniger formali- sierter Zuständigkeit zu werden. Die Methoden reichen von der aktivierenden Befra- gung, einer niederschwelligen Kommunikationsarbeit bis hin zu Workshops vor Ort, beispielsweise um Arbeitsgruppen zu bilden und Zuständigkeiten zu klären.
Inhaltlich geht es um die Nutzung technischer Angebote wie Buchungstools oder elektronischer Schließsysteme. Organisatorisch geht es vor allem um Aspekte der Selbstverwaltung. Diese ist für den langfristigen Erfolg von Gemeinschaftsräumen wesentlich. Durch die Möglichkeiten, die ein Gemeinschaftsraum schafft, kann sich eine Dynamik entwickeln, die identitätsstiftend sein kann und Lust macht, sich zu engagieren. Im Wohnbau so.vie.so – Sonnwendviertel solidarisch nahe des Wiener Hauptbahn- hofs wurden die Nutzungen für neun über ebenso viele Geschosse verteilte, nutzungs- offene Gemeinschaftsräume in Workshops mit den künftigen Bewohner*innen festge- legt. Das Buchungssystem dafür entwickelten sie bereits selbst. 5.2. FORMALISIERUNG DER MITSPRACHE Die Art der Mitsprache ist sehr unterschiedlich geregelt und kann von Haus zu Haus verschieden sein. Mieter*innenbeiräte und Mitbestimmungsstatute sind eine Möglichkeit, Zuständigkeiten und Verantwortung zu regeln und Mitsprache zu ermöglichen. Im Wohnpark Alt-Erlaa bündelt der von Anbeginn an eingesetzte Mieter*innen- beirat die Mitsprache und vertritt die Interessen der Bewohner*innenschaft gegen- über der Hausverwaltung. Auch in den rund 1.800 Wiener Gemeindebauten sind Mieter*innenbeiräte als formelles Instrument zur Mitbestimmung vorgesehen, um Entscheidungen vorzubereiten und zu erleichtern. In ca. 17 Prozent der Gemeinde- bauten gibt es mittlerweile solche Mieter*innenbeiräte (Dossier: 2015). Sie sind oft erste Anlaufstelle und Sprachrohr der Bewohner*innenschaft vor Ort, durch die im Jahr 2000 per Bundesgesetz abgeschafften Hausmeister*innen gewannen sie zusätzlich an Bedeutung. „Über die Organisation der Nutzung von Gemeinschafts- einrichtungen“ legt das Mitbestimmungsstatut der Gemeindebauten fest, dass „in der Bewohner*innenschaft ein Konsens gefunden werden [muss].
In der Folge kann eine Nutzungsvereinbarung über die Selbstverwaltung getroffen werden“ (Wiener Wohnen 2018: 20). Kein einfaches Unterfangen, wenn man bedenkt, wie heterogen die Zusammensetzung der Bewohner*innenschaft eines Gemeindebaus sein kann. 5.3. WEM GEHÖRT DAS? Mitbestimmungsstatute wie bei den Gemeindebauten können auch bei reinen Miets- häusern zur Anwendung kommen. Die Frage nach der Nutzung und Nutzbarkeit von Gemeinschaftsräumen wird jedoch komplexer, je heterogener die Eigentumsverhält- nisse sind. Da die Gemeinschaftsräume allen Eigentümern ,gehören‘, können diese bei deren Nutzung auch mitreden, Konflikte sind programmiert. Am schwierigsten ist dies in Wohnhausanlagen mit sowohl Miet- als auch Eigentumswohnungen – auch ,Mischhäuser‘ genannt. Mischhäuser sind in Öster- reich aufgrund der paradoxen gesetzlichen Situation, dass im mehrgeschossigen Wohnbau einerseits vor allem sozialer Mietwohnbau gefördert wird, anderer- seits aber ein Großteil dieser nach einer bestimmten Zeit den Mieter*innen zum Kauf angeboten werden muss, was zu rund einem Drittel auch genutzt wird. Das Ernst Gruber 189 Schafft Raum Gesellschaft? bei Bezug einheitliche Eigentumsverhältnis geht verloren, womit einander Eigen- tümer*innen und Mieter*innen gegenüberstehen, denen jeweils unterschiedliche Rechtsmaterien zu Grunde liegen. Zu diesem Zeitpunkt endet bei vielen Häuser die Mitbestimmung, Benützungsregelungen über Gemeinschaftseinrichtungen sind in diesen Anlagen ausgeschlossen (WBV-GPA 2019: 13), deren Nutzung wird auf ein pragmatisches Minimum reduziert. In Alt-Erlaa hat man Mieter*innen und Eigentümer*innen – ähnlich einer Genos- senschaft – miteinander verschmolzen: Jede/jeder Bewohner*in hält eine Aktie an der eigens gegründeten Wohnpark Alt-Erlaa Gemeinnützige Wohnungsaktiengesell- schaft und ist damit sowohl Mieter*in als auch Miteigentümer*in des Wohnparks.
Auch dies mag ein Grund für die hohe Zufriedenheit der Bewohner*innen mit ihrer Anlage sein. 6. AUSBLICK: ÜBER DAS HAUS HINAUS Die eingangs erwähnten „Nachbarschaftsküchen, Wäschereien und Kindertages- stätten“, von denen die materiellen Feministinnen vor über 100 Jahren träumten, gingen bereits weit über das eigene Haus hinaus. In Wien dachte man zu ähnlicher Zeit daran, dass die selbstorganisierten Stadtrandsiedlungen der Wiener Siedlerbewe- gung zentral- und wohlfahrtsstaatliche Aufgaben wie „Kinderfürsorge, Jugendorgani- sation oder Kunst- und Bildungspflege“ über ihre gemeinschaftlichen Einrichtungen übernehmen könnten. Weitergedacht sollte durch die Schaffung überschaubarer, autonomer und genossenschaftlich selbstverwalteter Kleinstädte ein neues Demo- kratieverständnis in den involvierten Menschen geweckt werden. Die Gemeinschafts- einrichtungen spielten dabei eine wesentliche Rolle als Orte für nachbarschaftliche Beziehungen und als Schule für einen geregelten menschlichen Umgang (Novy 1991: 89). 6.1. MASSE MACHT MÖGLICHKEITEN Beteiligen sich mehrere Häuser oder ein größeres Bauvolumen an der Errichtung und dem Betrieb von Gemeinschaftsräumen, so sinkt logischerweise der Kostenanteil pro Haushalt – es wird noch mehr möglich. Zugleich lässt sich eine für das umliegende Quartier relevante Größe von Gemeinschaftsräumen erzielen. Ein Wiener Beispiel ist das Wohnzimmer, umgesetzt von einer Tochtergesellschaft von vier gemeinnützigen und gewerblichen Bauträgern (siehe Abb. 2). Für die etwa 440 Wohneinheiten wurden etwa 3.000 m² an Gemeinschaftsflächen errichtet, also umgelegt über 6,5 m² pro Wohnung. Neben einem Schwimmbad mit Wellnesscenter, Sauna und Nebeneinrichtungen mit etwa 1.000 m² als Angebot für die Umgebung sind hausinterne Gemeinschaftseinrichtungen über die Häuser verteilt über Brücken erreichbar.
Sie werden über ein Online-Buchungssystem mit Zugang per Chipkarte verwaltet und organisiert. 6.2. EINE FRAGE DER KOORDINATION Im Wiener Stadtentwicklungsgebiet In der Wiesen wurden im Rahmen eines eigenen Dialogprozesses gemeinsam mit fünf Bauträgern auf einem Gebiet für 600 Wohnungen 13 Räume gemeinsam programmiert. Diese stehen allen Bewohner*innen zur Verfü- gung. Dazu gibt es ein Mitsprachestatut und Bewohner*innenbeiräte. Die Nutzung 190 Ernst Gruber 0 5 10m 15 20m 0 10 20m Abb. 2: Projekt Wohnzimmer im Wiener Sonnwendviertel. Plan: StudioVlayStreeruwitz, CC BY-SA. Die Gemeinschaftsräume (in Grau) sind über Brücken verbundenen. 191 und Ausstattung der Räume wurde gemeinsam in Workshops erarbeitet und festge- legt. Es gibt Räume für Kinderspiel, Kleinkinder, Homeoffice, Gemeinschaftsküche, Kurse, Werkstatt und Bewegung. Voraussetzung waren Dienstbarkeitsvereinbarungen der Bauträger unterein- ander, die die Abrechnung betreffen und gewährleisten, dass die BewohnerInnen unterschiedlicher Bauteile die Räume auch hausübergreifend nutzen können. Das Ergebnis lässt sich sehen, die Folgeprojekte zeigen allerdings, dass es den Druck oder Wunsch der Politik bedarf, um eine derartige Anstrengung zu wiederholen. Einer der Hauptgründe ist die Angst vor Konflikten mit den Bewohner*innen über die Abrechnung der Betriebskosten. Um dem vorzubeugen bietet es sich an, sich einer einheitlichen Rechtsform zu bedienen, die einen Abrechnungskreislauf und eine langfristig einheitliche Eigentumsstruktur hat, wie beispielsweise eine klassische Genossenschaft. Das ist im Münchner Domagk-Park der Fall, im Berliner Spreefeld oder im Zürcher mehr als wohnen – die „Genossenschaft der Genossen- schaften“ – die eigens von mehreren anderen Genossenschaften gegründet wurde, um ein eigenes Quartier zu entwickeln (siehe Abb. 1).
Die dortigen „Allmendräume“ stehen Bewohnenden des Areals zur kostenlosen Nutzung zur Verfügung, können aber auch von Externen angemietet werden. 7. ABSPANN Was ist für eine intensive Nutzung von Gemeinschaftsräumen wesentlich? Einfach gesagt, eine Mischung aus fix definierten und nutzungsoffenen Räumen in ausrei- chender Anzahl, eine Formalisierung der Mitsprache wie beispielsweise durch einen Mieter*innenbeirat, ein einheitliches Zutrittssystem und die Identifikation der Bewohner*innen mit ,ihrer‘ Anlage. Die Reaktivierung brachliegender Gemeinschaftsräume im Bestand, die aus verschiedenen Gründen nicht oder untergenutzt sind, ist ein weiteres Potenzial, das zum Teil im Zuge von Sanierungsbegleitungen bereits aufgegriffen wird. Hier werden sich vermehrt neue Betätigungsfelder auftun, die den Platz zwischen Bewohner*in- nenschaft und Hausverwaltungen füllen können. Die Nutzung von Gemeinschaftsräumen sollte regelmäßig überprüft und bewertet werden, externen Hausverwaltungen fehlt dazu aber nicht nur die Zeit und das rechtliche Pouvoir sondern auch das Know-how. Wie man Bewohner*innen aktiviert oder einbindet, wie man mit ihnen gemeinsam Entscheidungen trifft und sie zur Eigenverantwortung animiert, geht über die Aufgabe der Verwaltung einer Anlage weit hinaus. Auch liegt es oft an Einzelpersonen, ob und wie solche Räume genutzt werden. Ein Gemeinschaftsraum kann wie ein Instrument eine Gemeinschaft zum Klingen bringen – ohne ständiges Nachstimmen wird er jedoch zum Instrument der Improvisateur*innen. Und was ist mit dem hohen Anteil des gewerblichen Wohnbaus? Um hier – jenseits von gesetzlichen Verpflichtungen – eine gewisse Sogwirkung auslösen zu können, ist es wesentlich, Gemeinschaftsräume als qualitativ hochwertigen Standard im sozi- alen Wohnbau zu etablieren.
Die Praxis des geförderten Wiener Wohnbaus ist hier vorbildhaft und setzt auch im Hinblick auf nachbarschaftliche Anschubhilfe Akzente, an die auch gewerbliche Bauträger anknüpfen, um ihre Bewohner*innenschaft zu einem Miteinander statt zu einem Gegeneinander zu motivieren. Schafft Raum Gesellschaft? 192 7.1. DIE NEUE POLITIK DER GEMEINSCHAFT Mit der Hinwendung zu einer delegierenden und partnerschaftlichen Entwicklung durch Bauträger über Konzeptvergaben stellt die Praxis des geförderten Wiener Wohnbaus die prinzipielle Frage nach Gemeinschaftsräumen im Gebäude, auf die die Projekte ihre spezifischen Antworten formulieren. Das ist eine Weiterentwick- lung gegenüber der Vorstellung des Roten Wien, ,top-down‘ neue Verhaltensmuster im Sinne eines ,Neuen Menschen‘ etablieren zu wollen. Aus historischer Perspektive lässt sich ein solches Vorhaben nicht umsetzen – zu stark steht das einzelne Projekt in Wechselwirkung mit dem jeweiligen Kontext, als dass es davon abgekapselt eine neue Realität schaffen könnte. Das trifft auch auf das ,Projekt Gemeindebau‘ des Roten Wien zu. Wie aber halten es die Wohnbauproduktion im Allgemeinen und die Gemein- schaftsräume von heute im Speziellen mit ihrem gesellschaftlichen Beitrag, mit ihrem Beitrag zur Emanzipation? Nach Dolores Hayden gibt es heute keine feministische Bewegung, die sich der Hausarbeit in dem Maß wie die materiellen Feminist*innen annimmt oder an die Bewegung der 1970er-Jahre anknüpft. Im Wiener Wohnbau sind die Frauen-Werk-Stadt-Projekte der 1990er-Jahre verein- zelte Experimente für alltags- und frauengerechten Wohnbau. Einer der breitenwirk- samsten politischen Akzente im geförderten Wiener Wohnbau der letzten Jahre ist der thematische Schwerpunkt auf ,Wohnen für Alleinerziehende‘, da der weitaus größte Anteil dieser Gruppe Frauen betrifft.
Man könnte aber nicht behaupten, das feministische Gedankengut würde dadurch Einzug in die Projekte oder die Gemein- schaftsräume jener Projekte halten, hier geht es eher generell um Leistbarkeit, also letztlich ein Konzept, mit dem ,alle‘ etwas anfangen können. Das ist vielleicht beispielhaft dafür, dass der Anspruch, es möglichst vielen oder am besten allen gerecht zu machen auch einen depolitisierenden Effekt auf die Raumpro- duktion und den Umgang mit Wohnraum haben kann. Ein Wiener Baugemeinschafts- projekt, das sich für „Mietverträge in Frauenhand“ einsetzt, wurde unter anderem mit dem Argument einer möglichen Diskriminierung nicht für die weitere Bearbeitung empfohlen. 7.2. DIE ZUKUNFT DER GEMEINSCHAFTSRÄUME Was wird in Zukunft wesentlich sein? Die ,neuen‘ Gemeinschaftsräume werden stärker an Bedürfnissen orientiert sein. Die Verknappung von individuellem Raum wird in den Ballungsräumen noch stärker zum ,Nutzen statt Besitzen‘ beitragen. Die kommunikativen Voraussetzungen, Aufgaben und Nebeneffekte physischer Räume werden verstärkt – auch durch den an Bedeutung gewonnenen digitalen Raum. Analoge ,Face-to-Face-Begegnungen‘ bieten einen wichtigen Gegenpol zum digitalen Raum, indem sie eine stark soziale Funktion als konsumfreie Räume erfüllen. Durch neue Modelle des Tauschens und Teilens von Ressourcen, verstärkt über nicht-kapi- talistisch orientierte Plattformen, können Praktiken der ,Sorgearbeit‘ wieder stärker an konkrete Güter oder Räume gekoppelt werden. Mit zunehmender Bedeutung des unmittelbaren Wohnumfelds für die Menschen wird der Wert soziokultureller Infrastruktur steigen. Die ,neuen‘ Genossenschaften wie mehr als wohnen oder Spreefeld zeigen, wie sich solche Qualitäten auch in Neubauquartieren umsetzen lassen. Sie geben dem Anspruch an Gemeinschaft Raum und schaffen Nachbarschaften über das eigene Baufeld hinweg.
Die Schweizer und Ernst Gruber 193 deutschen Wohnbaugenossenschaften sind hier durch eine klare Haltung als Mietob- jekte im Vorteil. Im sozialen Wohnbau Österreichs tut man sich außerhalb der klassi- schen Baugemeinschaften schwer, eine Position zwischen individuellem und kollek- tivem Eigentum zu beziehen. Dadurch bleibt – vor allem, aber nicht nur in Wien – die Frage der langfristigen Qualitätssicherung gemeinschaftlicher Einrichtungen und Nutzungen offen. Die Aufgabe liegt darin, Strukturen zu schaffen, die diese Langfris- tigkeit als Netzwerke weitertragen können. Insofern wird dem genossenschaftlichen Gedanken hier eine wesentliche Aufgabe zukommen. Gemeinschaftsräume sind Elemente des Wohnbaus. Sie liegen dicht am Priva- testen, was eine Stadt zu bieten hat – ihren Wohnungen. Diese bedingen sie, durch diese werden sie mitgebaut. Liegt deren Schlüssel bei seinen Bewohner*innen, dann können sie luxuriöse, aber hermetische Orte sein. Sollen sie geöffnet werden, dann können sie zu Gemeingütern werden, vergleichbar mit den zugänglichen Höfen der Gemeindebauten oder dem Abstandsgrün kommunaler Zeilenbauten. Weil sie nicht den Gesetzen des Marktes und der Miete unterliegen, können sie ermöglichen, was man sich wünschen, aber nicht leisten kann. Dann können sie ein Quartier zur Nachbarschaft machen. 1 Bevor jede Wohnung eine eigene Wasserzuleitung erhielt, gab es in Wiener Miets- häusern eine zentrale Wasserstelle pro Stockwerk, die Bassena. Diese war zwangs- läufig allgemeiner Treffpunkt der Nachbar*innen und auch für nachbarschaftlichen Austausch, den sogenannten „Bassenatratsch“. Dieser wird retrospektiv romantisiert gerne als Teil einer typisch Wienerischen Nachbarschaftskultur betrachtet.
So erhielt auch das Stadtteilzentrum einer Wiener Großwohnsiedlung der 1980er-Jahre, das zur Lösung dortiger nachbarschaftlicher Konflikte eingerichtet wurde, den Namen „Basse- na“. QUELLEN Age-Dossier 2015: Gemeinschaftsräume für alle Generationen. Zürich: Age-Stiftung. Borden, Iain 1999: Social space and cooperative housekeeping in the English garden city. In: Journal of architectural and planning research, 16, S. 242–257. Brandl, Freya; Gruber, Ernst 2014: Gemeinschaftliches Wohnen in Wien – Bedarf und Aus- blick. Wien. Studie im Auftrag der Stadt Wien, Magistratsabteilung 50. Dossier 2015: https://www.dossier.at/dossiers/wohnen/die-grenzen-der-mitbestimmung. Feller, Barbara 2014: Aus dem Geist des Roten Wien? In: Seiss, Reinhard (Hg.): Harry Glück – Wohnbauten. Muery Salzmann, S. 131–135. Frei, Alfred Georg 1984: Rotes Wien: Austromarxismus und Arbeiterkultur. In: Weihsmann, Helmut 2002: Das Rote Wien. Wien: Promedia. Hayden, Dolores 2018: Berlin: Eine revolutionäre Neuordnung der Hausarbeit. In: ARCH+ Zeitschrift für Architektur und Urbanismus, 231, S. 132–141. Jahnel, Fritz 1930: Wien: Architektur und Proletariat, in: Der Kampf 23, S. 348. Langewiesche, Dieter 1979: Politische Orientierung und soziales Verhalten, Familienleben und Wohnverhältnisse von Arbeitern im „roten“ Wien der Ersten Republik. In: Nietham- mer, Lutz (Hg.): Wohnen im Wandel, Beiträge zur Geschichte des Alltags in der bürger- lichen Gesellschaft. Wuppertal, S. 171–187. Leitner, Michaela u. a. 2015: Nachhaltiges Wohnen und Arbeiten in einem Wohnprojekt. Eine komparative praxistheoretische Analyse. Wien: OIN. Novy, Klaus; Förster, Wolfgang 1991: einfach bauen – Genossenschaftliche Selbsthilfe nach der Jahrhundertwende. Wien: picus. Schafft Raum Gesellschaft? 194 Reallabor Spacesharing 2019: Space Sharing Exkurksion: Wohnpark Alt-Erlaa: Es gibt hier keine leeren Gemeinschaftsräume.
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Interview mit Gabu Heindl von Christoph Laimer Kollektive sind intelligenter Die Wiener Architektin Gabu Heindl über gemeinschaftliches Planen Gemeinschaftliches Planen ist einer der zentralen Aspekte für selbstorganisierte, gemeinschaftliche Hausprojekte. Darüber, wie sich eine solche Aufgabe für Archi- tekt*innen darstellt, welche Schwierigkeiten und freudvollen Momente sie mit sich bringt und wie sie im Detail aussieht, gibt im folgenden Interview die Wiener Archi- tektin und Stadtplanerin Gabu Heindl Auskunft. Sie plant seit einiger Zeit mit der Gruppe SchloR – Schöner Leben ohne Rendite ein selbstorganisiertes kollektives Betriebs- und Wohngemeinschaftsprojekt in Wien Simmering und hat in den Jahren 2015–2016 mit dem Verein für die Barrierefreiheit in der Kunst, im Alltag, im Denken das Intersektionale Stadthaus in Wien Ottakring umgesetzt. Christoph Laimer: Für selbstorganisierte und gemeinschaftliche Hausprojektgruppen ist kooperatives Planen ein elementarer Teil des gesamten Prozesses. Welches Poten- zial steckt generell im kooperativen Planen im Vergleich zu einer Beauftragung, wie sie für herkömmliche Bauprojekte Usus ist? Gabu Heindl: Wenn ich mir erlauben darf, gleich am Anfang auf mein Buch Stadt- konflikte hinzuweisen, das gerade herausgekommen ist: Dort übe ich Kritik an der kooperativen Planung, die in der Stadtplanung im Moment die gängige ist: nämlich kooperativ, auf Augenhöhe mit Investoren und Investorinnen zu sitzen und Public-Private-Partnership-Projekte zu entwickeln – davon halte ich überhaupt nichts. Ich glaube, dass man bei den Begriffen eine Präzisierung braucht, weil koope- rative Planung aus dem Bereich des selbstorganisierten, solidarischen, nicht-profit- orientierten Wohnens und Arbeitens, den ich absolut gut und richtig finde, dorthin überschwappt, wo es problematisch ist: zwischen öffentlichen und privaten Großin- vestor*innen.
Ersteres ist eine wichtige Weiterführung von einer Architektur- und Planungsgeschichte der 1960er-, 70er-Jahre. Es wäre wichtig, zu differenzieren 198 zwischen: Wer soll mit wem und wie, oder wer kann mit wem in welcher Form am Tisch sitzen und soll in Fragen des Mitsprechens und Mitplanens auch unterstützt werden? Wo aber geht es darum, im Sinne der Öffentlichkeit, genau das vielleicht auch zu unterbinden? Laimer: Wenn man sagt, man plant gemeinsam, dann kann das ja unterschiedliche Bereiche betreffen oder unterschiedliche Ziele haben. Man kann sagen: Man will am Schluss ein möglichst gutes Bauwerk stehen haben. Man kann sagen: Der Prozess ist sehr wichtig, damit sich die späteren Bewohner und Bewohnerinnen oder Nutzerinnen selbst im Prozess klar machen, was sie überhaupt wollen. Man kann sagen: Es ist für dieses grundsätzliche Verständnis davon, was für architektonische Aufgaben und Pro- blemstellungen es gibt, wichtig. Welchen Ansatz verfolgst du? Heindl: Ich habe es in den Projekten, in denen ich gearbeitet habe, eher pragma- tisch angelegt, wenn ich sah, dass die Utopie des Projekts aus der Gruppe kommt. Diese kann man unterstützen und fördern und vielleicht noch zuspitzen. Bei der Art und Weise, wie die Gruppe sich zusammenfindet, weiß ich nicht, ob es Archi- tekten und Architektinnen braucht. Oft organisieren sich die Gruppen sehr gut selbst. Insofern besteht die Pragmatik im Sinne einer pragmatischen Utopie darin, zu sagen: Wie kann ich als Architektin bestmöglich unterstützen? Und zwar tatsäch- lich durch Architektur, durch Planung. Da gilt es herauszufinden: Geht es eher um ein robustes, gut geplantes Gebäude oder um Infrastruktur? Ich finde, Architektur ist gut beschrieben mit Infrastruktur für Selbstermächtigungsprozesse und Möglichkeits- räume im Wohnen und Arbeiten.
Es ist auch wichtig, dass Architektinnen ihren Spiel- raum nutzen, Gestaltungsfragen und Fragen der Ästhetik einzubringen. Wobei über diese in den Gruppen tatsächlich wenig gestritten wird. Es geht oft gar nicht darum, Geschmacksfragen zusammenzubringen, wobei es aber einen Riesenunterschied macht, mit welchen Gruppen man arbeitet. Ich habe gemerkt, dass Gruppen, die aus sich heraus eher prekär sind und wo wenig Geld im Spiel ist, oft konzeptueller agieren als solche, wo sich Menschen zusammenfinden, die ihr Geld anlegen und im Spiel sehen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es dort viel mehr um Geschmacksfragen oder Selbstverwirklichung geht als in den Gruppen, die sich zusammenschließen, weil sie merken: Okay, nur gemeinsam sind wir stark, oder: Nur gemeinsam können wir das überhaupt schaffen. Laimer: Kannst du aus deiner architektonischen Erfahrung etwas dazu sagen, wie es ist, mit Gruppen, die als bestehende Gruppe ein Projekt umsetzen und Leuten, die sich über das Projekt erst zusammenfinden und aus ganz unterschiedlichen Ecken kommen, zu arbeiten? Es kann ja Gruppen mit sehr gleichlautenden oder divergierenden Vorstel- lungen geben. Heindl: Das habe ich auch schon erlebt. Da geht es dann darum, als Architektin sehr viel Vermittlung einzubringen. Ich habe Freude daran, Konzepte oder gewisse Ideen, die schon im Raum sind, auszumalen, wortwörtlich im Sinne von Aufzeichnen: Wie schaut das räumlich aus? Aber auch: Was bringt das für Zukunftsmöglichkeiten? Das ist eine Expertise der Architektur: Architektinnen können Leute vom Potenzial gewisser Ideen motivieren oder überzeugen. Da steckt natürlich auch viel Persön- liches drin, das ist nicht neutral. Aber die Gruppe bildet umgekehrt ja auch uns, nicht nur die Architektin, sondern das ganze Team. Insofern sind alle Player im Prozess.
Interview mit Gabu Heindl von Christoph Laimer 199 Laimer: Es gibt unterschiedliche Ansätze, wie man gemeinsames Planen verstehen kann. Wir kennen das bei den Schweizer Genossenschaften, die das gesamte Projekt sehr partizipativ entwickeln, und es eher um Konzeptfragen geht: Was wollen wir? Wie wollen wir dort leben? Was haben wir für Vorstellungen für das ganze Objekt? Da spielen so Fragen wie „Wie schaut mein individueller Grundriss aus?“ gar keine Rolle bzw. stehen nicht zur Debatte. Bei den Baugruppen ist es dagegen oft so, dass einzelne Grundrisse sehr viel Zeit und Energie konsumieren. Was ist da dein Ansatz? Was findest du den wichtigeren Part? Was würdest du nicht gemeinschaftlich planen wollen? Heindl: Aus meiner einzigen Erfahrung für ein junges Paar eine Wohnung umzubauen – sehr früh in meiner Architekturkarriere – kann ich mich erinnern, dass ich mir damals geschworen habe: Ich möchte nie wieder mit zwei Leuten über ihren Bade- zimmerarmaturen-Geschmack endlos diskutieren müssen. Warum sage ich das? Ich finde, es geht um robuste Grundrisskonzeptionen, und vor allem darum, ein Gesamt- konzept mit der Gruppe zu entwickeln. Die Gruppen, mit denen ich gearbeitet habe, die haben alle den Weitblick gehabt und gemerkt, dass es nicht darum geht, ihren aktuell optimierten Wohnungszuschnitt auf Dauer ihres Lebens zu zeichnen, sondern haben sich explizit Wahl- und Wechselmöglichkeiten ins Projekt eingeschrieben. Und es ist ja interessant, dass du gar nicht antizipieren kannst: Wie werde ich in zehn oder fünfzehn Jahren wohnen wollen? Also geht es nicht um das Maßschneidern deiner momentanen Situation, sondern eher um das Maßschneidern des Kollektiven und der gemeinsamen Räume. Die Gemeinschaftsräume müssen gut konzipiert sein, was für die Gruppendynamik wichtig ist. Insofern würde ich sagen, das Schweizer Modell klingt sehr gut.
In Wien gilt aber eher das Wiener Modell aus den 1980er Jahren von Ottokar Uhl als verdeckte Tradition, in dem Mitsprache recht weit ging, bis hin zum Ziegelmaß. Es gibt also auch hier eine Geschichte der Partizipation. Laimer: Man sieht heute oft, dass die Nachhaltigkeit nicht wirklich gegeben ist: Wenn der Zuschnitt auf eine bestimmte Vorstellung so eng ist, dass es für die nächsten, die dort wohnen wollen, oder für eine andere Lebensphase dann gar nicht mehr passt und spätestens nach einer Generation offensichtlich wird, dass es kein nachhaltiges Konzept ist. Was ist die Motivation oder das Bedürfnis der Leute, die zu dir kommen? Was erwarten sie sich? Was treibt sie an? Warum wollen sie gemeinsam planen? Heindl: Es gibt zwei Grundmotivationsstränge und viele andere kleine. Der eine ist, das Wissen und das Pochen auf ein Recht auf Wohnen, also das Recht darauf, sich seine Wohnform frei zu wählen und gestalten zu können. Dies ist verknüpft mit dem zweiten Strang: Eben das zu wollen, obwohl man eigentlich die Mittel dafür nicht hat. Ich freue mich, dass ich Gruppen architektonisch unterstützen kann, die eine Idee davon haben, wie sie solidarisch, kollektiv, gemeinschaftlich, in Zukunft zusammen wohnen wollen. Die aber – und das ist kein Zufall – genau wegen des Wissens um das allgemeine Recht darauf achten, dass dies unabhängig von den Mitteln, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sexualität et cetera möglich ist. Ich finde es super, wenn Gruppen sagen: Eigentlich haben wir die Ressourcen nicht, aber wir haben ein wirkliches Bedürfnis, einen politischen Willen und Glauben. Da liegt aber auch die Krux und die Schwierigkeit an der Sache. Es gibt viele solche Gruppen, und ich kenne viele mehr, als ich architektonisch unterstützen könnte.
Nicht, weil wir in meinem Büro oder dem von Kolleginnen die Kapazitäten nicht hätten, sondern weil diese Kollektive schlicht und einfach die nötigen Grundbedingungen nicht vorfinden. Kollektive sind intelligenter 200 Diese hängen mit den Grundstückspreisen und mit den hohen Baukosten genauso zusammen wie mit der Unmöglichkeit, an Leerstand heranzukommen, bestehenden Stadtraum günstig zu mieten oder auch zu kaufen und zugleich zu ver-kollektivieren. Es ist vorteilhaft, im Bestand zu arbeiten, weil dort, wo Prekarität oder Geldmangel besteht, ist ganz klar, dass bestehende Häuser eigentlich mehr können als Neubauten. Bestehende Häuser sind nach 30 bis 40 Jahren abbezahlt und bieten oft eine gute Grundstruktur für einen Umbau von günstigen Räumen. Also stellt sich für die einen die Frage, wie kommt man an bestehende Häuser? Gleichzeitig hört man von Leuten, die Häuser haben und für die ihr Eigentum eine Last bedeutet. Insofern wäre es wunderschön, wenn wir es schaffen, die Leute zusammenzubringen: Die Leute, die nicht wollen, dass ihr Eigentum in den Privatkapitalmarkt und damit in die Spekula- tionsschiene eingeschleust wird, und die, die eben genau das auch nicht wollen, dass der Ort, an dem sie wohnen, ein Spekulationsobjekt ist. Laimer: Ist den Menschen im Hinblick auf ihre Ressourcen klar, worauf sie sich einlassen? Oder merkst du dann, dass sie es unterschätzen? Klärst du sie darüber auf, wie aufwendig das ist? Heindl: Wir versuchen den Prozess möglichst wenig aufwendig zu halten – was er natürlich an sich nicht ist, aber die Ansprüche gehen ja in beide Richtungen. Sowohl für die Planung als auch für diejenigen, die sich als Gruppe zusammenfinden, versu- chen wir am Anfang so ein Grundverständnis dafür zu entwickeln, dass wir möglichst achtsam miteinander umgehen, d. h.
die Zeit aller wertschätzen und auch möglichst effizient arbeiten – was natürlich zum Teil dennoch nicht funktioniert. Viele Ände- rungswünsche, Anfragen et cetera würden die meisten Architektinnen überhaupt nicht umsetzen. Aber irgendwann gibt es immer den Punkt, dass nichts mehr geän- dert werden kann. Andererseits finde ich es in Ordnung, dass es die Möglichkeit gibt, dass Prozesse dauern. Übrigens kennen wir das selbst auch als Planerinnen, dass wir bis hin zur Bauphase merken, dass vielleicht noch etwas anders sein sollte. War es Adolf Loos, der gebaute Decken wieder abreißen ließ, weil der Raum zu niedrig oder zu hoch war? Es ist schon wichtig, dass man am Anfang aufklärt, was der Prozess bedeutet, vielleicht mehr, weil es sich ja nicht um Auftraggeber*innen handelt, die so einen Prozess öfter machen. Auch wenn ich einen öffentlichen Bau plane oder mit Gemeindevertreter*innen zusammenarbeite, vor allem wenn sie neu in der Politik oder in der Verwaltung sind, dann muss ich auch die Phasen und die Dauer des Prozesses erklären. Das gilt für alle, die etwas bauen möchten. Das gruppendy- namische Zusammenfinden funktioniert speziell dort gut, wo die Gruppen so etwas wie eine Bau-AG haben. Eine Arbeitsgruppe, die sich zusammen mit dem Planen und Bauen auseinandersetzt und die dann in kleinerer Form Ansprechpartner*innen für uns sind. Wir arbeiten auch sehr viel mit Optionen: Wir legen Optionen vor und geben eine Empfehlung aus architektonischer Sicht. Wir versuchen, die Gruppe von Anfang an gut kennenzulernen, um einschätzen zu können, wie sie „ticken“. Insofern ist was wir machen nicht top-down, sondern einfühlender Rat. Und dann gibt es eine Entscheidung und im besten Fall hält sie.
Laimer: Das heißt, es ist von Vorteil, wenn es innerhalb der Gruppen Ansprechpartner und -partnerinnen für dich gibt, die dann mit der Zeit eine höhere Expertise haben und Gespräche in der Gruppe vorbereiten? Interview mit Gabu Heindl von Christoph Laimer 201 Heindl: Genau. Laimer: Das heißt, du sprichst mit dieser AG und triffst aber trotzdem hin und wieder die ganze Gruppe, wenn es größere Diskussionen gibt? Kannst du schildern, wie so ein Planungstreffen ausschaut? Heindl: Am Anfang organisieren wir immer ein zwei Gesamtworkshops, damit sich alle kennenlernen und auch wir alle kennenlernen. Es ist wichtig, dass alle aus der Gruppe wissen, wer ihre Architektin ist und wer das Team ist. Diese Gesamtwork- shops planen wir nicht in jeder Phase, aber es gibt doch in jeder größeren Phase einen Moment, wo wir das Gefühl haben, es braucht wieder einen Gesamtworkshop. Wir machen sie kontext- oder prozess-spezifisch. Wenn man wirklich merkt, es geht um generelle Entscheidungen oder auch darum, wieder alle ins Boot zu holen; es gibt die Finanzierungsgruppe, die Strukturgruppe, die Planungs- und Baugruppe und so weiter. An sich kann jede Person immer alles nachfragen. Bei den Workshops geht es dann darum, dass alle wieder auf demselben Stand der Dinge sind und es auch direkt gehört und mitdiskutiert haben. Laimer: Was brauchst du von einer Gruppe an Informationen, damit der konkrete Planungsprozess beginnen kann? Sagst du der Gruppe vorab, dass sie sich über diese fünf Punkte Gedanken machen müssen oder ergibt sich das im Dialog bei den Work- shops? Heindl: Die Workshops sind von uns sehr gut vorbereitet. Es wäre ein Nicht-ernst- Nehmen der Zeit, wenn man einfach so hingeht. Die Grundfragen hängen vom Kontext ab. Ein bestehendes Haus umzuplanen und umzubauen wirft ganz andere Fragen für die ersten Schritte auf, als ein neues zu planen.
Oft entstehen in einer kleinen Gruppe die ersten Ideen. Und aus diesen Ideen, der Ortsbesichtigung oder dem Wissen um den Kontext entwickeln wir für den ersten Workshop schon Frage- stellungen. Bei den Materialien geht es nicht darum, dass es schon fertig gezeich- nete Pläne sind, aber wir skizzieren und zeichnen sofort mit. Für die Gruppe ist es wichtig zu wissen: Wenn ich etwas schwarz auf weiß aufzeichne, dann muss noch niemand Sorge haben, dass damit schon etwas abgeschlossen ist. Die größte Sorge besteht darin, dass ein Prozess zu schnell eine gewisse Richtung bekommt. Das Wichtigste für die Vertrauensbildung ist, zu sagen: Wir fürchten uns nicht davor, jede erste Idee auch zu skizzieren und aufzuschreiben. Wir wissen aber auch, sie kann komplett verworfen werden. Das macht es möglich, dass diejenigen, die lauter oder schneller sind, etwas einbringen, dass man aber auch den Raum offen hält für andere: zum Beispiel für Gruppenteilnehmer*innen, die besser darin sind, etwas zu kritisieren, was schon da ist, die können so ihren Beitrag liefern; oder damit jemand, der oder die langsamer ist, mehr Zeit hat, sich einzubringen. Das ist die eigentliche Kunst, in solchen Workshops oder generell in der Frage des Zusammen- arbeitens. Wie schafft man den Raum für alle in ihren unterschiedlichen Denk-, Arbeits- und Sprechweisen? Laimer: Ist es vertraglich vereinbart, wie viele Workshops du mit den Gruppen machst? Steckst du den Rahmen ab, um festzulegen, was möglich ist und was nicht mehr möglich ist? Kollektive sind intelligenter 202 Interview mit Gabu Heindl von Christoph Laimer Abb.1 und 2: Baustelle habiTAT-Hausprojekt SchloR, Wien-Simmering. Foto: Gabu Heindl Architektur, CC BY-SA. 203 Kollektive sind intelligenter Abb. 3: Planungsworkshop im Intersektionalen Stadthaus mit Gabu Heindl, Wien. Foto: Alejandra Loreto, CC BY-SA.
204 Heindl: Ich gehe hier sehr ähnlich vor wie beispielsweise bei Ausstellungsarchitektur. Da veranstalten wir auch intensive Workshops, bei denen niemand mehr explizit in der Rolle der Planer*in, Gestalter*in, Kurator*in oder Auftraggeber*in ist, sondern alle alles denken. Bei Planungsworkshops mit Hausprojektgruppen weiß ich zwar nicht genau, wie ich das finanziert bekomme, weil wir da eigentlich mehr Arbeit leisten als üblich. Ich warte aber nicht darauf, dass die Gruppe ihr Raumprogramm fertig macht und dann übernimmt die Architektin und sagt: Das lässt sich jetzt am schönsten in so einer Form zeichnen. Es ist das gemeinsame Entwickeln des Gesamtkonzepts, das ja auch am meisten Spaß macht. In den Baugruppen oder Gruppenprozessen verrechne ich die Workshops nicht gesondert. Wenn ich an einem Wettbewerb teilnehme, wo ich niemanden als Ansprechpartner habe, verwerfe ich oft viel mehr Gedanken und Ideen. Selbst eine sich sehr widersprechende Gruppe vor sich zu haben, ist produktiver als niemanden zu haben. Man braucht in jedem Prozess Planungsgespräche. Grundsätz- lich sind Planungstermine also Teil der Architekturleistung und nicht gesondert abzu- rechnen. Es ist aber auch wichtig, dass sie einen begrenzten Zeitrahmen haben. Laimer: Das heißt, die Nähe zu den Auftraggebern und -geberinnen ist in dem Fall von Vorteil, weil du dadurch gutes Feedback und ein gutes Gefühl für die Aufgabe bekommst? Kann diese Nähe auch ein Problem sein, wenn man einen Schlussstrich ziehen will? Tut man sich dann schwerer als bei einem Auftraggeber, der einem nicht so nahesteht oder mit dem man nicht so viel zu tun hat? Heindl: Ich muss dazu sagen, mit Auftraggeberinnen gibt es immer, egal wie nahe oder wie fern, diese Dynamik, dieses Zwischenmenschliche. Es ist immer eine „Herausforderung“ – neoliberales Wort.
Trotzdem halte ich während einer Planungs- phase grundsätzlich eine gewisse Distanz für richtig – professionelle Distanz ist aber der falsche Begriff. Es geht jedenfalls darum, dass man sich gut versteht. Noch viel wichtiger ist es, zu wissen, dass man politisch und inhaltlich im Sinne der Utopie, die man baut, in die gleiche Richtung denkt. Gemeinsam ein Bier trinken gehen etc., das mache ich dann eher am Ende – das mache ich übrigens mit allen auf der Baustelle so. Wir haben jetzt gerade die erste Baubesprechung für SchloR (siehe Abb. 1 und 2) gehabt, und einer der Bauarbeiter hat aufgrund der legeren Stimmung gleich vorge- schlagen: Wir sind jetzt alle per Du. Und ich habe es verneint. Es ist mir wichtig, dass es auch für die Zeit des Bauprozesses noch eine gewisse Form gibt. Aber mit den Leuten von SchloR bin ich schon per Du. Laimer: Bei Hausprojekten wohnen Architekten und Architektinnen später oft selbst dort. Würdest du so was machen? Heindl: Nein. Aber auch weil die Gruppen, mit denen ich arbeite, eben genau nicht die Gruppen sind, die du hier ansprichst. Die Projekte sind nicht vom Architekturbüro initiiert. Es ist also eher strukturell bedingt, dass das bis jetzt keine Option war. Weil das auch Projekte von ganz speziellen Initiativen sind: etwa im Fall von SchloR oder vom Intersektionalen Stadthaus – da ist strukturell die Architekturkollegin gar nicht so schnell Teil der Gruppe. Ich würde sagen, damit eine Gruppe etwas gemeinsam auf die Reihe bringt, muss in irgendeiner Form jede einzelne Person eine gewisse Fähigkeit haben, sich selbst zu distanzieren, von den ureigensten Interessen. Sonst kannst du wiederum nicht das Gemeinsame formulieren oder zeichnen.
Interview mit Gabu Heindl von Christoph Laimer 205 Laimer: Hast du die Erfahrung gemacht, dass du mit Ideen in einen Workshop kommst und am Ende das Gefühl hast, das Ergebnis ist schlechter als die ursprüngliche Idee oder sind Prozesse immer positiv? Heindl: Ich bin da ziemlich gelassen. Grundsätzlich mag ich kollektive Intelligenz. Damit kollektiv gut gedacht werden kann, sind aber gewisse Bedingungen wichtig: Wie richtet man diesen Raum ein? Sind alle angekommen? Ist niemand gestresst? Weiß man, worum es geht? Trotzdem kann es sehr gut sein, dass gewisse Vorschläge in eine ganz andere Richtung gehen und manchmal weiß ich ganz genau, dass sie in zwei Wochen zurückkommen und verstehen werden, dass eigentlich das andere besser war. Aber das ist auch okay. Ein Vorschlag ist gezeichnet, damit man ihn sich anschauen kann, darüber schlafen kann, und wenn es ein Darüberschlafen braucht, wunderbar, und wenn es ein Darüberschlafen bei uns Architekt*innen braucht, auch meinerseits, ist es auch kein Problem. Wichtig ist, das Gesamtbild zusammenzuhalten. Das ist das Tolle an der Architektur, trotz allem die Einzelinteressen oder die Interessen der Gruppe immer wieder zu kalibrieren auf das, was vielleicht auch die Zukunft bringen kann oder was in dem Moment noch nicht gedacht werden kann; und dann auch ganz trivial, was die Synergie der Statik, Bauphysik etc. anbelangt. Mancher Wunsch in der Halle von SchloR hat sich gespießt, weil sich die Bauphysik mit der Statik spießt, mit dem Schallschutz und so weiter. Das sind dann spannende Momente, wenn ich sage: Hallo, hier, unsere Expertise! Das ist ein Super-Lernprozess für alle. Laimer: Ein ganz anderes Thema ist Selbstbau. In den letzten Jahren ist es wieder verstärkt der Wunsch von Leuten, selbst Hand anzulegen, Stichwort: Lehmbau, Strohbau. Was hast du für Erfahrungen gemacht? In welchen Bereichen findest du Selbstbau sinnvoll?
Wo sollte man ihn nicht einsetzen? Was für Schwierigkeiten treten da auf? Heindl: Ich finde es lustig, dass eines meiner ersten Studienprojekte ein Stroh- Lehm-Bau war, ähnlich wie wir ihn jetzt bei SchloR planen. Damals habe ich einen Preis bei einem Wettbewerb gewonnen, aber nicht den ersten, weil die Jury sagte, das Ganze wäre so undenkbar in Europa. Fünfundzwanzig Jahre später ist es fast schon ein Trend. Selbstbau ist auch wieder vollkommen pragmatisch das, was es auch schon in der Siedler*innenbewegung war, also damit auch im Roten Wien. Es geht schlicht um die Rechnung: Was kann ich übernehmen, weil es mich weniger kostet? Ich glaube nicht zu sehr an die Romantik, dass jemand selbst Hand anlegt, weil er so gern baut, oder weil so gern jemand Lehm an den Händen hat und sich dadurch medi- tativ beruhigt. Es ist vor allem eine ökonomische Frage. Aber es ist vielleicht schon auch eine Spur von: Ich schaffe mir den Ausbau selbst, weil auch dieses Selbstschaffen eine schöne Sache ist. Im Intersektionalen Stadthaus in der Grundsteingasse haben wir das radikal durchgezogen: Wir haben im Umbau die Grenze genau dort gezogen, wo es haftungs- und sicherheitstechnisch notwendig war (siehe Abb. 3). Das ganze Haus wurde barrierefrei umgebaut. Es war klar, dass niemand selbstständig einen Lift über vier Geschoße und die HKLS-Installation einbaut. Bei Elektroinstallation ist es schon eine Frage, wie weit sie im Selbstbau machbar ist. Ansonsten haben sie in der Grundsteingasse alles, was nicht Tragwerk ist und keinen Statiker gebraucht hat, selbst gemacht. Laimer: Also alles, das keine Gewährleistungsprobleme schafft. Kollektive sind intelligenter 206 Heindl: Eigentlich genau das. Das geht aber nur deswegen, weil wir viel darüber gesprochen haben.
Nicht allen war klar, dass wenn du eine Rigips-Wand auf einen fertigen Parkettboden stellst, und dir die Arbeit nicht antust, den zu schlitzen, du am Ende das Problem hast, dass du von einem Zimmer zum anderen durch die Wand miteinander plaudern kannst. Es ist gut, das entweder mit der ersten Wand selbst zu erfahren und dann zu wissen, wie man es bei der nächsten selbst machen möchte. Oder man hat es vorher durchdacht, oder man macht es gleich mit einer Firma, weil es professioneller ist und damit gewisse Dinge auch gewährleistet sind. Durch das unprofessionelle Nicht-Schlitzen hat die Gruppe dafür aber wiederum die volle Flexi- bilität und sie verstellen die Wand im Zweifelsfall. Das haben sie schon einige Male gemacht. Es ist wirklich toll, dieses Haus ändert sich ständig. Sie unterstützen so viele Leute, die dringend günstigen Wohnraum suchen, oder Leute ohne Papiere. Auch in ihrer Zusammenarbeit mit der Queerbase (Anm. Organisation zur Unterstützung von LGBTIQ-Geflüchteten) sind sie ein echt solidarisches Haus. Das ist toll. Das Selbst- bauen hört da auch nicht auf, sondern es geht weiter. Laimer: In welchen Bereichen siehst du die Möglichkeit, Kosten zu sparen? Baufirmen können ja beispielsweise Material viel günstiger beziehen als man das selbst könnte? Heindl: Die Leute der Grundsteingasse haben zum Beispiel alle Fliesen über willhaben.at (Anm. Verkaufsplattform für Second-Hand-Waren) als Schenkungen bekommen. Sie haben dann sehr konsequent ein großes barrierefreies Bad mit allen bunten Fliesen ausgefliest und das andere dafür mit allen grauen, blauen und sonstigen. Das hat seinen Charme. Es ist immer wieder so, dass wir Allianzen mit Gruppierungen bilden, die schauen, dass von den Baustellen Recycling-Materialien gesichert werden. Für SchloR haben wir, wo es möglich war, also von Abbrüchen, Materialien und aus einer Baustelle im ersten Bezirk Türen recyclet.
SchloR hat sich diese Türen geholt und damit ein Lager umgebaut. Auch mit einem schönen Parkettboden, der, bevor er weggeschmissen wird, Fläche bietet für ein, zwei Zimmer. Natürlich braucht man die Energie und muss einen Kleinbus zur Verfügung haben, mit dem man die Sachen transportieren kann, und es muss auch jemand die Zeit haben, sie abzuholen. Im Moment machen wir einen großen Bauträgerwettbewerb für 100 Prozent geförderten Wohnbau, in dem es zentral um die Kostenfrage geht. Basis ist dabei eine Studie, die ich über die Prekarität des Wohnens von Frauen geschrieben habe. Da stellen sich all die oben genannten Fragen nochmal ganz anders. Da ist ganz klar, in der großen Masse ist es überhaupt keine Einsparung, den Boden wegzulassen. Das wäre ein Mehraufwand für alle, die da einziehen, zu sagen: Jetzt muss jede einzelne viel mehr zahlen und viel mehr leisten, um dann Parkett oder Fliesenboden zu haben. Im geförderten Wohnbau geht es vielmehr um den guten Grundriss: wo sind die Kerne und die Nasszellen. Am meisten Geld kosten die Badezimmer, WCs, Küchen – dort wo viele Installationen sind. Bei dem Einküchenhaus in der Grundsteingasse ist das genau eines der Konzepte. Es gibt nicht in jeder Kleinwohngruppe eine Küche. Allerdings ist zugleich sehr viel Wert auf große barrierefreie Badezimmer und WCs gelegt worden, weil das ganze Haus eben durchgängig und in jeder Ecke barrierefrei ist. Im Sozialen Wohnbau liegen die Kosten aber nochmal ganz woanders als beim Ausbau, die Kosten liegen im Grundstück, in der Finanzierung. Vielleicht ist das genau das, was wir Selbstbau nennen müssten. Bauen wird immer missverstanden, dass Selbstbau heißt, Ziegel auf Ziegel zu legen. Bauen ist aber alles, ist auch die Finanzierungsstruktur, ist auch das Konzepte-Schmieden.
Interview mit Gabu Heindl von Christoph Laimer 207 Letztlich ist Bauen mit anderen Finanzierungsstrukturen genau das: Selbstbauen. Und das kannst du leichter als Teil einer Gruppe, die das kollektive Potenzial hat, die Leute zu bewegen und zu motivieren, dass sie Kredite geben et cetera. Laimer: In Zuge der Recherche für das Forschungsprojekt, das diesem Buch zugrunde liegt, haben wir festgestellt, dass, unabhängig von der Frage der Kostenersparnis durch Selbstbau, dieser für viele Leute ein wichtiges Thema war. Dabei ging es um Selbst- ermächtigung, die Lust selber Hand anzulegen, sich Räume selbst zu gestalten und anzueignen sowie keine vorgefertigten Konzepte übernehmen zu müssen. Heindl: Genau, aber da ist wieder der Unterschied: Da geht jemand rein, für den sind die Kosten kein Thema. Da ist es wirklich Lifestyle. Eine andere Form von Lifestyle. Oder auch der ganze Baumärkte-Hype. Also natürlich gibt es den auch. Den gibt es allerdings weniger in den Gruppen, mit denen ich arbeite, weil da die Leute gar nicht so viel Zeit haben. Das ist ein Konzept, wie es vor kurzem ein Fabrik-Umbau war. Jeder baut sich sein Loft irgendwie unterschiedlich aus. Es ist ein Loftwohnen-Lifestyle. Das ist nicht bösartig gemeint, aber es ist eine andere Form von Fragestellung. Und da ist klar, dass Geld nicht die vordergründige Rolle spielt. Das von dir Angesprochene fällt für mich eher mit dem Problem zusammen, dass vieles am Massenwohnbau oder im geförderten Top-down-Wohnbau schlicht über- designed und zu fertig ist. Bei guten Bauträgern kann man manchmal, wenn man früh genug dabei ist, sogar Materialien auswählen, also beispielsweise entweder einen Estrich mit Beschichtung oder ein Parkett als Bodenbelag. Oder die Frage nach der gemeinsamen Gestaltung der Außenräume: Kann ich mir nicht gewisse Räume aneignen, im Außenraum, im Gang, in meiner Wohnung selbst?
Das beim Malen der Wände oder beim Einbau eines Hochbetts aufhört. Das hat ja jeder von uns in der Substandard-Altbauwohnung gerne gemacht. Oder du hast dir ein eigenes Bad und ein eigenes WC eingebaut. Damit konntest du dir etwas schaffen und zugleich einiges an Geld sparen, weil es dir nicht als zusätzlicher Komfort bei der Miete draufge- schlagen wurde. Laimer: Zum Abschluss noch eine Frage über das Projekt hinaus: Wenn es um Ko-Pro- duktion oder kooperative Planung geht, geht es ja nicht unbedingt nur um das einzelne Hausprojekt oder Kulturprojekt, sondern um die Stadtteilebene, das Quartier. In Wien scheitern wir oft daran. Wo siehst du da die Möglichkeiten oder wo müssen wir ansetzen, um hier einen Schritt weiter zu kommen? Heindl: Voraussetzung sind bauplatzübergreifende und vor allem echte, ernst gemeinte Prozesse. Ich sehe jetzt kurz vor der Wien-Wahl (Anm.: vom 11. Oktober 2020), was da plötzlich an vermeintlicher Bürgerbeteiligung im Raum steht. Als Architektin weiß ich zugleich, wer da schon längst daran plant und bereits ein fixes Budget hat. Das sind total widersprüchliche Prozesse, an die eigentlich niemand mehr glaubt. Ich finde Konzepte wie partizipative Budgets, Bürgerinnen-Budgets gute Modelle oder Formen des Öffnens von Freiräumen mit bestimmten Spielregeln. Bei der Überlegung, wie sich dauerhaft oder langfristiger gemeinsam planen lässt, stellt sich die Frage: Wer plant mit? Das ist das Grunddilemma der Partizipation: Wie können diejenigen, die in Zukunft hier leben werden, auch Teil der Planung werden? Das ist das, was letztlich gute politisch engagierte oder mit einem reflexiven Wissen ausgestattete Architekt*innen hoffentlich machen, nämlich: Jemand muss auch das Kollektive sind intelligenter 208 Mandat dieser Menschen übernehmen. Das gilt auch für ein Mandat der Zukunft, auch im Sinne von Ökologie.
Ich finde es nicht richtig, wenn gewisse Parteien sagen: Wir wissen das schon seit hundert Jahren besser. Trotzdem ist es eine Herausforderung, wie die Vermittlung zu bewerkstelligen ist. Einer der wichtigen Aspekte ist, darauf zu achten, dass Gegenden nicht zu homogen werden, ohne zu verpflichten, dass alles immer durchmischt sein muss; des Weiteren, dass man Bürgerinnen, die Initiativen ergreifen, unterstützt. Wenn Leute wirklich anfingen, über ihre Stadt zu diskutieren, dann würde schon einiges an Hässlichkeit, Asphaltstadt und Problempunkten in der Stadt genannt werden. Ich finde, das sollten wir machen. Die Städte müssen umge- baut und rückgebaut werden, die Versiegelung muss umgekehrt werden, vielen Grätzln täte das sehr gut. Jede kleinste Idee ist grundsätzlich wichtig und gleichzeitig muss jeder im selben Moment fähig sein, sie auch zu verwerfen. Das ist das Komplexe an kollektiver Gestaltung. Wien hat sich aus dem Wohnbau heraus entwickelt, nicht aus dem Städtebau. Da eine gute Städtebaukultur im Sinne von bauplatzübergreifendem gemeinsamem Planen zu entfalten, das wird noch ein wenig dauern, ist aber umso wichtiger. Laimer: Vielen Dank für das Gespräch. GABU HEINDL Gabu Heindl, Architektin, Stadtplanerin, Aktivistin in Wien. Seit 2018 Visiting Professor, Sheffield University, seit 2019 Unit Master an der AA | Architectural Association in Lon- don. Studium der Architektur in Wien, Tokio und Princeton. 2007 Gründung von GABU Heindl Architektur. Internationale Ausstellungs-, Vortrags- und Publikationstätigkeit, Hg. von „Building Critique, Architecture and its Discontents“ (Leipzig, 2019), Autorin von „Stadtkonflikte. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung“ (Wien, 2020).
Interview mit Gabu Heindl von Christoph Laimer 209 211 https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_16 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. Diskussion mit Ute Fragner, Lukas, Nina Schneider, Robert Temel, Gemeinschaftliches Wohnen Zwischen Verzicht und Luxus, Experimentierfreude und Standardisierung, Privatheit und Gemeinschaft, individuel- len Bedürfnissen und kollektiver Weisheit Im Januar 2020 fand an der TU Wien im Rahmen des Forschungsprojekts „Bausteine für ein Neues soziales Wohnen“, das auch Basis der vorliegenden Publikation ist, eine Podiumsdiskussion zu Fragen des gemeinschaftlichen Wohnens statt. Daran nahmen Vertreter*innen von Hausprojekten aus Zürich, Berlin und Wien ebenso Teil wie Expert*innen aus Architektur und Stadtforschung. Diskutiert wurden Aspekte wie Leistbarkeit, Selbstbau, Wohntypologien, Selbstorganisation, Gemeinschaftlich- keit, soziale Struktur, Eigentum, Rechtsformen und schließlich auch die Relevanz und gesellschaftliche Bedeutung gemeinschaftlicher Wohnprojekte. Im Folgenden eine gekürzte Dokumentation der Diskussion. 1. DIE TEILNEHMER*INNEN UND IHRE PROJEKTE Ute Fragner (WoGen/Sargfabrik, Wien) In Österreichs größtem selbstverwalteten Wohn- und Kulturprojekt Sargfabrik leben seit 1996 rund 210 Erwachsene, Kinder und Jugendliche in 112 Wohn- einheiten (siehe Abb. 1). Ein zweites Projekt des Eigentümer- und Betreiber- vereins VIL mit 39 Wohnungen, die MISS Sargfabrik, befindet sich in unmittel- barer Nähe. Bekannt ist die Sargfabrik u. a. auch für ihr Kulturprogramm und das Badehaus. Die WoGen ist eine 2015 in Wien speziell für gemeinschaftliche Wohnprojekte gegründete Genossenschaft.
Lukas (M29/Mietshäuser Syndikat, Berlin) Innerstädtisches Gemeinschaftswohnhaus mit 17 Erwachsenen und vier Kindern im Norden von Berlin, 2012 auf einem Garagengrundstück an einer Bahnstrecke gebaut, kleine Privatzimmer, große Gemeinschaftsräume und ein durch Mieten mitfinanzierter Projektraum zur nicht-kommerziellen Markus Zilker von Christoph Laimer 212 Nutzung, organisiert im Mietshäuser Syndikat und mit Direktkrediten, Banken und Förderkredit für ökologisches Bauen finanziert; Wohnkosten bei 300,00 € pro Monat und Person (siehe Abb. 2). Nina Schneider (Kalkbreite/Zollhaus, Zürich) Das Zollhaus ist das zweite Bauprojekt der Züricher Genossenschaft Kalkbreite. Wie schon bei Kalkbreite wird es auch im Zollhaus eine Vielfalt an Wohnungs- typen (1,5- bis 9,5-Zimmer-Wohnungen) geben. Vorgesehen sind auch einein- halbstöckige sogenannte Hallenwohnungen, die sich Mieter*innen nach ihren eigenen Bedürfnissen selbst ausbauen können. Das Zollhaus bietet 50 Wohnungen für rund 190 Personen, zahlreiche Gewerberäume, Kinder- garten, Büros und eine Pension (Abb. 3). Markus Zilker (Einszueinsarchitektur/Wohnprojekt Wien, Wien) Markus Zilker ist Architekt und Gesellschafter bei Einszueinsarchitektur, einem Büro, das in den letzten Jahren zahlreiche Hausprojekte gemeinsam mit den künftigen Bewohner*innen in partizipativer Planung umgesetzt hat. Er ist Mitbegründer und Mitbewohner des 2013 fertiggestellten und mehrfach ausgezeichneten Wohnprojekt Wien (siehe Abb. 4). Robert Temel (Architektur- und Stadtforscher, Wien) Mitbegründer der Initiative für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen, deren Vorstandsmitglied er von 2009 bis 2019 war, und der WoGen Wohnprojekte- Genossenschaft. In der WoGen ist er seit 2015 Aufsichtsratsvorsitzender. Jüngstes Forschungsprojekt und Publikation: „Baukultur für das Quartier. Prozesskultur durch Konzeptvergabe“. 2.
BESONDERHEITEN GEMEINSCHAFTLICHER WOHNPROJEKTE Christoph Laimer: Selbstorganisiertes und gemeinschaftliches Wohnen ist in Zürich, Wien und Berlin trotz zahlreicher Projekte eher eine Nische am Wohnungsmarkt. Was sind für euch die Besonderheiten eurer Projekte im Vergleich zum Durchschnittsangebot? Nina Schneider: Wir bauen an sehr exponierten Lagen, die zum Teil nicht zulassen, dass man da Wohnungen baut, und deshalb entwickeln wir Wohnbauten, die auch ein Angebot für das Quartier beitragen und Infrastruktur, also sowohl Kultur, Läden, Büros anbieten. Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass wir versuchen, auf neue Bedürfnisse im Bereich Wohnen zu reagieren. Wir haben zuerst gefragt, was fehlt, wer braucht was, wer wird vertrieben, und dann herausgefunden, was wir entwickeln wollen. Wir haben gelernt, dass ganz viele Leute heute gerne alleine wohnen, aber eben nicht vereinsamen wollen. Wir haben, um diesem Bedürfnis, allein in der Gemeinschaft zu wohnen, Rechnung zu tragen, versucht eine Typologie zu entwerfen, die Austausch fördert. Wir haben Einraumwohnungen mit sehr reduzierter Infrastruktur zu Groß- wohnungen geclustert, die dann auch wieder Gemeinschaftsräume haben. Was uns noch ganz wichtig war: Wir haben einen Nachhaltigkeitsaspekt, den wir sozial, wirt- schaftlich, politisch und ökologisch verstehen. Diskussion mit Ute Fragner, Lukas, Nina Schneider, Robert Temel, Markus Zilker von Christoph Laimer 213 Ute Fragner: Wir sind mit der Sargfabrik vor allem in der Rechtsform in fantasie- volle Dimensionen gegangen und mussten uns mit Förderstandards auseinander- setzen, die eigentlich nicht für gemeinschaftliche Wohnprojekte gedacht sind. Wir wollten ursprünglich eine Genossenschaft gründen. Das ging damals nicht, weil die Revisionsverbände keine Wohnbaugenossenschaften mehr aufgenommen haben und von daher extrem auf der Bremse standen.
Die Wohnbauförderung konnten wir dann als Verein in Anspruch nehmen, von daher haben wir uns die Mühsal der Gründung einer Genossenschaft zum damaligen Zeitpunkt erspart. Um die sehr engen Rahmen- bedingungen der Förderprogramme für uns auszuweiten, haben wir das Projekt baurechtlich nicht als Wohnhaus, sondern als Wohnheim eingereicht. Die ersten, die diesen Weg in Österreich genutzt hatten, war die Kommune Friedrichshof mit dem Herrn Muehl [Otto Muehl]. Sie hatten diese Variante das erste Mal umgesetzt und wir haben sie übernommen, weil es uns ermöglichte, dass auch Gemeinschaftsräume gefördert werden. Der Preis dafür ist, dass wir individuell keine Wohnbeihilfe bean- tragen können, das heißt, wir mussten ein Solidarsystem entwickeln: Wir bekommen eine Förderung, die uns ermöglicht, bestimmte Dinge zu tun, und dafür machen wir das Sozialausgleichsystem intern. Lukas: Unserer Besonderheit sind die sehr günstigen Wohnkosten für einen Neubau. Wir wollten ein Haus, in dem auch Leute wohnen, die z. B. keine Arbeit haben oder sonst einen schwierigen Status haben. Deswegen haben wir gesagt, die Miete soll 300 Euro betragen. Das Haus hat alles in allem eine Million gekostet, das Grundstück und der Bau. Es ist ein ganz schlichtes Haus: kein Keller, sondern ein Betonfundament, und darauf ganz einfache aufgeschäumte Steine (Ytong-Steine). Dadurch hat das Haus überhaupt keine Isolierung, es ist direkt verputzt. Dann kommt eine große Beton- platte drauf, nochmal das gleiche mit den Ytong-Steinen, noch eine Betonplatte, dann eine Holzständerkonstruktion und Profilbleche drum herum. Es ist innen total schön, aber es sieht auch sehr schlicht aus. Von vorne wirkt es wie ein Fabriksgebäude. Die Kosten pro Quadratmeter lagen unter 1.000 Euro. Alle Architekt*innen sagen, das geht nicht. Wir haben bewiesen, es geht, und damit kann man auch super Öffentlich- keitsarbeit machen.
Wir haben das natürlich auch genutzt, um auf die Politik einzu- wirken und zu sagen: Es geht. Man kann partizipativ bauen, günstig, sozial verträg- lich. Nur der Markt steht dem im Weg und die Politik, die sich nicht bewegen will. Die durchschnittliche Miete kostet ungefähr 300 Euro, für ein kleines Zimmer mit sehr großen Gemeinschaftsflächen. Laimer: Markus, du wohnst in einem Wohnprojekt und das Architekturbüro Einszu- einsarchitektur, in dem du Partner bist, hat sich schon vor längerer Zeit auf die parti- zipative Planung von Hausprojekten spezialisiert. Was ist deine Motivation, dich dieser Thematik so umfangreich zu widmen? Was sind aktuelle Fragestellungen, die dich beschäftigen? Markus Zilker: Ich bin immer mit zwei Hüten unterwegs: Der eine Hut ist als Bewohner eines Wohnprojekts. Ich wohne selber im Wohnprojekt Wien und war in der Gründer*innengruppe vor circa zehn Jahren mit dabei. Und der zweite Hut ist der des Architekten. Das heißt, wir sind damals in das Thema partizipative Planungs- prozesse voll eingestiegen – aus diesem persönlichen Interesse und auch aus dem beruflichen Prozess und Interesse heraus – und haben uns auf die Frage spezialisiert, Gemeinschaftliches Wohnen 214 wie man mit großen Gruppen von bis zu 100 Menschen Planungsbeteiligungsprozesse über drei, vier, fünf Jahre abwickeln kann. Als Architekt ist meine Motivation, einfach viel mehr Feedback zu bekommen, viel mehr direkten Kontakt mit Menschen zu haben, direkter zu lernen: Was funktioniert, was funktioniert nicht, in der Kommunikation, in Planungsprozessen? Wie kann ich Gruppen mitnehmen? Was ich besonders spannend finde, ist, wie so etwas wie Emergenz entstehen kann. Wie kann so etwas wie eine kollektive Weisheit in einer Gruppe durch Prozesse ermöglicht werden, wo dann mehr entsteht als am Anfang an Wünschen und Bedürfnissen da war?
Darüber hinaus ist unsere Motivation im weitesten Sinne, etwas Sinnstiftendes zu einer besseren Gesellschaft beizutragen. Wir beginnen jetzt gerade unser zehntes partizipatives Wohnprojekt. Mehrere solch intensive Prozesse parallel zu machen, ist vielleicht auch ein Stück weit maso- chistisch, aber wenn man einmal so richtig Feuer gefangen hat, dann geht’s gar nicht mehr anders. Was uns momentan stark beschäftigt: Wie multipliziert man diese partizipativen Prozesse nicht einfach, sondern was sind Weiterentwicklungen? Wir denken sehr stark darüber nach, wie man einen Weg zwischen Individualisierung und Standardisierung finden kann. Wie kann man partizipativ standardisieren? Wie kann man partizipative Prozesse ins Gewerbe einbringen und dort auch eine Art von Kuratierung in diesem Gewerbe und gleichzeitig von Beteiligung in der Planung durchführen? Das sind zwei große Ausblicke. 3. GEMEINSCHAFTLICH WOHNEN – MEHR ALS EINE NISCHE Laimer: Ute, für die Sargfabrik war die Wirkung in die Nachbarschaft immer ein wich- tiges Thema. Die Außenwirkung eures Projekts reicht aber nicht nur in die Nachbar- schaft, sondern trifft auch auf Menschen, die selber Projekte gründen wollen. Du bist nun auch eine der Mitbegründer*innen einer neuen Genossenschaft für Wohnprojekte. Was kannst du uns darüber erzählen? Fragner: Wir haben die Gemeinschaftsräume immer so angelegt, dass sie auch eine Drehscheibe nach außen sind und dass sie immer auch Bedarfe des Quartiers erfüllen. Wir haben zum Beispiel einen Kindergarten bei uns eingerichtet, weil es in der näheren Umgebung keinen gab. Wir standen eigentlich immer im Austausch mit Leuten aus dem Quartier und vielen anderen, die uns besucht haben. Es sind viele Menschen zu uns gekommen und sagten: „Wow, das was ihr gemacht habt, ist toll.
Das hätte ich auch gern, wie macht man das?“ Wir haben dann einen Verein gegründet, um diese Menschen zu unterstützen, sind aber durch die Bank gescheitert, weil es weder Häuser noch Grundstücke gegeben hat, die zu einem erschwinglichen Preis zu haben waren. In der Stadtentwicklung gab es dann einen Wendepunkt, an dem auch Wien gemerkt hat, dass Wohnprojekte oder engagierte Menschen in Wohnprojekten dem Quartier guttun, weil der Anspruch auch immer darüber hinaus geht und es nicht nur heißt: Wir machen da jetzt unser eigenes Ding. Mein Credo lautet immer: Wenn du willst, dass das langfristig gut geht, dann musst du deine Umwelt mitnehmen, weil sonst geht gar nichts. Vor einigen Jahren haben wir gemeinsam mit anderen dann die Wohnprojekte- Genossenschaft gegründet, die sich ausschließlich gemeinschaftliches Wohnen, und zwar intentional gemeinschaftlich – nicht zufällig, sondern bewusst gemeinschaft- lich wohnen – auf die Fahnen geschrieben hat. Diskussion mit Ute Fragner, Lukas, Nina Schneider, Robert Temel, Markus Zilker von Christoph Laimer 215 Das funktioniert in ganz kurzen Zügen so: Da gibt es die Genossenschaft, da gibt es das Hausprojekt, und in dem Hausprojekt wohnen einzelne Menschen. Diese einzelnen Menschen sind im Hausprojekt Nutzer*innen und bekommen einen Nutzungsvertrag. Sie sind im Hausprojekt auch gleichzeitig Vermieter*innen. Dieses Hausprojekt hat mit der Genossenschaft einen Generalmietvertrag und die einzelnen Personen sind Mitglied in der Genossenschaft. Auf diese Weise funktio- niert das Hausprojekt größtmöglich autark-autonom nach den eigenen Wünschen, die wir als Genossenschaft natürlich auch definieren. Es muss demokratisch und wenn möglich soziokratisch organisiert sein, es muss einen Mehrwert über das individuelle Wohnen hinaus geben. Die einzelnen Personen gestalten aber auch innerhalb der Genossenschaft mit.
Das genossenschaftliche Modell ist für uns das richtige Modell für Hausprojekte gewesen. Die einzelnen Personen haben auf beiden Ebenen die Möglichkeit der Mitgestaltung. Laimer: Ihr berichtet von dem wachsenden Interesse an gemeinschaftlichen Wohnpro- jekten. Ist das die Binnenwahrnehmung von denen, die selbst in Wohnprojekten leben oder gibt es wirklich ein breites Interesse daran? Robert Temel: In Wien jedenfalls, und generell in Österreich, sind sie seit zehn Jahren wieder ein stärkeres Thema. Damals vor zehn Jahren habe ich für die Wohnbauforschung der Stadt Wien eine Studie über die Projekte in Deutschland und in der Schweiz gemacht und das mit einer Befragung von 1.000 Leuten in Wien verbunden. Damals konnten sich fünf Prozent der Befragten sehr gut vorstellen, und 12 Prozent konnten es sich ziemlich gut vorstellen, gemeinsam mit Freunden und Bekannten eine Baugemeinschaft zu gründen. Dazu muss man sagen, dass das Thema damals in Wien überhaupt nicht auf der Agenda war. Es gab seit zehn Jahren keine Projekte mehr. Seit dieser Studie hat das Interesse vermutlich zugenommen. In Wien sind in den letzten Jahren im Schnitt etwa 1,5 Projekte im Jahr entstanden, das sind rund 50 Wohnungen. Wenn man die fünf Prozent, die sagen, dass sie es sich sehr gut vorstellen können, an der jährlichen geförderten Wohnbauleistung in Wien bemisst, dann müssten es ungefähr 350 Wohnungen sein. Das Potenzial wäre demnach also ungefähr siebenmal so hoch wie die Zahl der tatsächlich gebauten Wohnungen. 4. DIE BEWOHNERSCHAFT VON GEMEINSCHAFTLICHEN WOHNPROJEKTEN Laimer: Wer zieht warum in solche Hausprojekt? Wie wollen die Menschen wohnen? Temel: Da gibt es eine Reihe von wichtigen Motivationen. Das ist ganz sicher die Frage der Selbstorganisation und der Selbstbestimmung, der Gemeinschaftlichkeit und sicherlich stark die Frage der Nachhaltigkeit.
Vielleicht auch die Frage anderer Wohn- formen, Lebensformen als derjenigen, die am normalen – und auch dem geförderten – Markt angeboten werden. Das, was wir etwa über Zürcher Projekte hören, das gibt es in dieser Intensität in Wien bisher noch nicht, aber es gibt doch ein anderes Angebot als bei normalen Bauträgern. Gemeinschaftliches Wohnen 216 Diskussion mit Ute Fragner, Lukas, Nina Schneider, Robert Temel, Markus Zilker von Christoph Laimer Abb. 1: Wohn- und Kulturprojekt Sargfabrik in Wien, 2006. Foto: Wolfgang Zeiner, CC BY-SA. Abb. 2: Mietshäuser Syndikat Hausprojekt M29, Berlin. Foto: Anna Kravets, CC BY-SA. 217 Gemeinschaftliches Wohnen Abb. 4: Gemeinschaftsraum Wohnprojekt Wien. Foto: Hertha Hurnaus, CC BY-SA. Abb. 3: Hallenwohnen im Zollhaus, Genossenschaft Kalkbreite, Zürich, November 2020. Foto: © Luca Zanier. 218 Laimer: Nina, wenn du dir die Bewohnerschaft von Kalkbreite anschaust, oder die Leute, die Mitglied in eurer Genossenschaft sind, was sind deren Erwartungen, Hoffnungen? Was bringt sie dazu, zu euch zu stoßen? Und welche Rolle spielt der Wohnungsmarkt in Zürich? Schneider: Das Gemeinschaftliche ist etwas, in das man reinwächst, wenn man Kon-takte hat und vielleicht ist das in der Schweiz zurzeit gar nicht das größte Momentum. In der Schweiz ist die Rendite, die auf dem Wohnungsmarkt mittlerweile abgeschöpft wird, horrend. Deswegen denkt eine ganz breite Gesellschaftsschicht darüber nach, ob es Möglichkeiten gibt, Wohnungen dem Markt zu entziehen. Die Genossenschaftslandschaft in der Schweiz hat sich so verändert, dass Genossen- schaften darauf reagieren, dass die Menschen nachhaltiger leben und auch etwas gegen die Individualisierung machen wollen. Dass wir als Genossenschaft jetzt auch vorschlagen, mehr zu teilen, reagiert natürlich auch auf ein Bedürfnis, das mit der Klimastreik-Jugend, die auf die Straße geht, zu tun hat.
Das ist vielleicht etwas, an das Menschen im ersten Moment nicht denken, wenn sie darunter leiden, dass sie sich ihre Miete nicht mehr leisten können – und das sind zunehmend größere Bevölkerungsschichten, insbesondere auch ältere Menschen. Über dieses Bedürfnis werden sie erst an diese Teilidee herangetragen und merken, dass dieser Verzicht, der von uns im Zusammenhang mit der ökologischen Wende gefordert wird, ganz einfach zu leisten ist, wenn man ihn in der Gemeinschaft leistet. Man verzichtet einerseits, auf großen Wohnraum, auf Besitz, aber andererseits gewinnt man, weil durch das Teilen mit anderen plötzlich Sachen zur Verfügung stehen, die man sich nie hätte leisten können. Laimer: Wie schaut das im M29 aus? Wer wohnt in eurem Haus? Wart ihr von Anfang an eine Gruppe, die dieses Projekt verwirklicht hat, oder sind später neue Leute dazu- gekommen? Worin besteht das Interesse, in eurem Haus zu wohnen? Lukas: Es haben schon sehr viele Leute in der M29 gewohnt, derzeit wohnen nur noch drei von der Anfangsbelegschaft da. Innerhalb von sieben Jahren sind sehr viele ausgezogen. Das hängt sicher damit zusammen, dass es ein sehr experimen- telles Wohnen ist. Wir wohnen zu zwanzigst, wir haben einen großen Gastroherd. Wir haben auch kleine Rückzugsküchen, aber das Ziel ist schon, eine große Gemein- schaftsküche zu haben. Manche Leute wollen so etwas nur für ein paar Jahre, oder haben gemerkt, dass sie doch etwas anderes wollen. Andere wiederum wohnen jetzt einfach in einer Zweier-Beziehung mit Kind in einer kleinen Wohnung. Wir haben am Anfang sehr viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Wir haben gemerkt, die Leute fliegen total darauf. Unis sind gekommen, die Presse hat viele Berichte geschrieben: „Zimmer-Sozialismus im Prenzlauer Berg“, „Das politische Wohnkol- lektiv meldet sich zurück“ … das waren so verträumt-utopische Headlines in ganz normalen Tageszeitungen.
Immer, wenn wir ein Zimmer ausschreiben, werden wir überrannt. Was wir daraus ableiten, ist zu fordern: Die Stadt Berlin soll, wenn sie Liegenschaften vergibt oder verkauft, solche Projekte ermöglichen. Ansonsten haben wir auf dem Markt kaum eine Chance. Laimer: Und wie sieht die Struktur der Bewohner*innenschaft in Hinblick auf die Alters- verteilung, etc. aus? Diskussion mit Ute Fragner, Lukas, Nina Schneider, Robert Temel, Markus Zilker von Christoph Laimer 219 Lukas: Am Anfang waren wir alle sehr ähnlich, weil sich Freundeskreise zusammen- gefunden haben. Die vielen Auszüge waren eine Chance, diverser zu werden. Diese Chance haben wir ganz aktiv genutzt. Wir haben gesagt, dass ab jetzt keine jungen Männer mehr einziehen. Dann haben wir angefangen, unsere Aufrufe nicht mehr über die Standard-WG-Seiten rauszuschicken, sondern sind ganz gezielt an Orte gegangen und haben dort unsere Zettel aufgehängt. Dadurch haben wir ganz andere Leute bekommen. Dann haben wir angefangen, unsere Wohnungsanzeigen in drei, vier Sprachen zu übersetzen und zu veröffentlichen. Es geht um kleine symbolische Sachen, damit Leute sich wirklich angesprochen fühlen. Das hat super funktioniert. Jetzt stehen wir ganz anders da. Es ist natürlich auch schwieriger, ein Plenum zu machen, beispielsweise mit Flüsterübersetzung, wenn es Sprachbarrieren gibt. Das mussten wir auch unterwegs erst rausfinden. Die Gruppe hat sich verändert. Ich kann nur sagen, wenn ihr das als Projektgruppe wollt, dann schreibt es einfach überall hin, dann bewerben sich die Leute schon, denn es suchen natürlich auch ältere Frauen oder Trans*Personen Wohnungen und die müssen sich angesprochen fühlen, sonst fühlen sie sich von Hausprojekten oft ausgeschlossen. Laimer: Markus, wie ist deine Erfahrung aus dem Wohnprojekt, bei dem du Architekt und Bewohner bist, und bei den Projekten, die du begleitet hast?
Du hast ja mit sehr vielen Leuten Kontakt gehabt, kennst die Bewohner*innenschaft der Häuser, die ihr entworfen habt. Wie schätzt du das ein? Hat sich in den letzten Jahren was verändert? Wie ist die Nachfrage und welche Wohntypologien sind für die Leute attraktiv? Zilker: Die Nachfrage ist steigend. Wir haben ungefähr 2010 begonnen. Es gibt in meiner Wahrnehmung jetzt viel mehr Menschen, die gemeinschaftliches Wohnen suchen. Das Wohnprojekt Wien und viele andere Projekte nehmen sich ganz gezielt eine heterogene Zusammensetzung der Gruppe vor. Wenn man sich das als Grün- der*innengruppe nicht ganz aktiv vornimmt, dann tendieren solche Projekte dazu, irgendwann ihre eigene Logik zu bekommen. Bei uns waren es nicht die jungen Männer, sondern Familien mit zwei Kindern, zwischen 35 und 45. Aber dieses Ziel der Heterogenität kann ich schon gut adressieren, wenn ich mir etwas dazu überlege. In welchen Sprachen und wo lege ich Flyer auf? In welche Newsletter-Verteiler schicke ich diese Information? Im Wohnprojekt Wien gibt es 36 Kinder, und die Erwachsenen sind von 20 bis 73 Jahre alt und relativ gut durchmischt. Was bei uns im Haus gut funktioniert hat, ist eine Heterogenität was Herkunftsnationen betrifft, eine Hetero- genität bei Alter, bei Vorlieben, in welchen Liebesformen man zusammenlebt und bei einigen anderen Dingen. Was nicht so gut funktioniert, ist eine Heterogenität in poli- tischen Gesichtspunkten, aber das liegt, glaube ich, auch ein Stück weit in der Natur der Sache. Vielleicht haben wir das auch nicht ganz gezielt verfolgt … 5. WOHNFORMEN UND -TYPOLOGIEN Laimer: Die Wohntypologien würden mich noch interessieren. Haben sich da die Vorstellungen verändert? Hat sich da in diesen zehn Jahren etwas entwickelt? Wo siehst du, dass die Nachfrage gestiegen ist? Wie schätzt du das in Zukunft ein? Auf was werdet ihr bei euren zukünftigen Projekten mehr Acht geben?
Zilker: Was wir erst beim zweiten, dritten Projekt gelernt haben, war, dass es wirk- lich diese kleinen Einheiten braucht, die nur temporär vergeben werden, um eine Gemeinschaftliches Wohnen 220 gewisse Flexibilität hineinzubringen – bei Trennungen, bei Kindern, die in einer Übergangsphase sind. Das ist etwas, das wir mittlerweile versuchen, wirklich bei jedem Projekt zu machen. Es ist typologisch die vernünftigste Antwort und eine, die auch auf die meisten Lebenssituationen reagieren kann. Wir merken, dass es frustrie- rend ist, Clusterwohnungstypen aus der Schweiz zu kopieren und auf österreichische Verhältnisse anzupassen: Das Clusterwohnen ist für manche Leute in Baugruppen, mit denen wir arbeiten, eine gewisse Verdoppelung. Sie sagen: Wenn wir uns alle gemeinsam zu hundert eine Gemeinschaftsküche teilen, warum sollen wir dann zu fünfzehnt nochmals eine große Küche haben? Oder wenn wir wirklich eine Aufent- haltsqualität in unserer Bibliothek oder einem anderen Gemeinschaftsraum schaffen wollen, warum mache ich mir das dann noch einmal? Individuum, kleine Gemein- schaft, größere Gemeinschaft, und dann Gesellschaft – kommt mir als ein Schritt zu viel vor. Das ist ein komplettes Überangebot. Darum versuchen wir, Clusterwohnen eher in Projekten umzusetzen, die nicht komplett partizipativ und gemeinschaftlich sind, sondern wo es sonst zu wenig Zusammenhalt zwischen den Menschen geben würde. Da gibt es ganz unterschiedliche Erfahrungsgrade. In der Schweiz ist das schon etablierter, in Wien können sich das die allermeisten Menschen nur so vage vorstellen: Das klingt spannend, aber gleichzeitig auch ein bisschen schwierig. Laimer: Nina, welche Überlegungen zu Wohnformen und -typologien stellt ihr bei euren Projekten in Zürich an?
Schneider: Wir haben uns sehr damit beschäftigt, wie man die private Wohnfläche reduzieren und das Gemeinschaftliche erhöhen kann, und wie öffentlich das sein kann. Was gehört mir? Was brauche ich wirklich als Rückzugsort und was kann ich mit anderen teilen? Wichtig war uns, diese Grenzen zu betonen und auch eine gute Infrastruktur für dieses Teilen anzubieten: Das sind etwa Pensionszimmer, Gemein- schaftsräume, gemeinschaftliche Nähzimmer, Werkstätten etc., was ermöglicht, meine Privatfläche zu verkleinern. Ein anderes Segment, das in Zürich sehr schlecht bedient ist, sind größere Fami- lien und Wohngemeinschaften. Wir haben im ersten Projekt Neun-Zimmer-Woh- nungen gebaut und dann in der Vermietung bemerkt, dass sie viel zu klein sind. Daraufhin haben wir nochmals Wohnungen zusammengelegt und 16-Zimmer-Woh- nungen gemacht – Großfamilienwohnungen. Wir bekommen für unsere Großfami- lienwohnung immer extrem viele Bewerbungen, wenn es einen Freistand gibt. Es ist vielleicht ein bisschen unser Hut, dass wir exemplarisch neue Typologien zeigen wollen, die dann von anderen kopiert werden können. Beim Zollhaus ist das jetzt insbesondere das Hallenwohnen. Der Anstoß dazu kam aus der Besetzer*innenszene, von Leuten aus Zwischennutzungen, die in Fabriketagen offiziell Ateliers hatten, aber dort auch wohnten – immer im Graubereich, halblegal. Sie sind auf uns zugekommen und haben gesagt: „Macht uns Hallen, die wir selber ausbauen können, wo wir uns im legalen Bereich verwirklichen können.“ Wir versuchen das jetzt im Zollhaus. Bei Familien ist immer noch der Wunsch dominierend, eine eigene Wohnung zu haben. Was bei uns tatsächlich sehr, sehr gut ankommt, sind die Clusterwohnungen. Im Spezifischen auch im Bereich Wohnen im Alter. Es wächst eine Generation von Menschen heran, die im Berufsleben, im Familienleben sehr engagiert waren.
Diese Menschen werden 60, 65 und merken, dass sie nirgends mehr in der Gesellschaft gefragt sind. Clusterwohnen und gemeinschaftliches Wohnen bietet eine Möglich- keit, mit der Gesamtgesellschaft anders in sozialem Kontakt zu bleiben, innerhalb Diskussion mit Ute Fragner, Lukas, Nina Schneider, Robert Temel, Markus Zilker von Christoph Laimer 221 des Clusters nicht zu vereinsamen, und sich innerhalb der größeren Gemeinschaft des Hauses auch zu engagieren. Das Hallenwohnen reagiert auf ein Bedürfnis von Menschen, die früher in Altbau- wohnungen immer selber wirken konnten. Ich glaube, viele Menschen leiden darunter, dass sie in ihren Wohnungen nichts mehr ändern dürfen. Menschen möchten sich auch im Privaten verwirklichen. Das ist jetzt noch Neuland, aber ich glaube schon, dass Menschen gar nicht in diesen kalten Behausungen, die wir jetzt so normiert herstellen, leben möchten und Fähigkeiten haben, diese zu individualisieren. Laimer: Ute, ihr werdet Clusterwohnen bei eurem WoGen-Projekt am Hauptbahnhof ausprobieren. Was sind eure Überlegungen dazu? Was erwartet ihr euch? Und wie ist die Nachfrage, wer hat Lust, in solchen Wohntypologien zu wohnen? Fragner: Bei diesem Projekt sind wir beim Wettbewerb mit dem Konzept einer guten Durchmischung von Wohngruppe, Gewerbe und Sonderwohnformen, wie etwa Clus- terwohnen, angetreten und haben diesen auch gewonnen. Die Erfahrungen sind, dass viele Menschen total interessiert sind. Wenn sie sich dann damit auseinander- setzen, und darüber nachdenken, wie man das realisieren und alle Wünsche unter- bringen kann, dann landen sie in der Baugruppe in einer ganz normalen Wohnung. Das ist die Erfahrung, die ich im jetzigen Stadium habe. Der Bezug wird 2022 sein. Unsere Hypothese ist, dass wenn das Haus einmal fertiggestellt ist, die Nachfrage da sein wird.
Ich orte den Bedarf ganz, ganz stark bei Menschen, die sich im Alter zusammentun wollen. Da orte ich allerdings auch das Zögern und Zaudern. Das ist für viele Menschen mit sehr viel Reduktion verbunden, außer, sie sind nochmals im Aufbruch und sagen, dass das Haus, das sie haben, ihnen sowieso nur noch ein Klotz am Bein ist, dass sie sich irgendwie verändern müssen. Diese Veränderungen sind immer mit Brüchen verbunden, und dann muss es schnell gehen, oder dann finden sich auch die Menschen zusammen. Das ist das, was ich in Wien zum Thema Cluster orte: ein ganz großes Interesse und ein zögerliches Sich-Herantasten. Laimer: Worauf führst du das zurück? Also das Interesse und die Zögerlichkeit. Fragner: Ich wohne seit 25 Jahren in einer sehr großen WG, die eigentlich so etwas wie Clusterwohnen ist. Ich erzähle den Leuten immer, wie das funktioniert und wie praktisch es ist, wenn man sich zusammentut. Dann werden sie ganz hellhörig. Ich habe den Eindruck, dass mittlerweile viele Menschen viel offener werden, auch darin, sich Neues im Wohnen vorzustellen. Auf der anderen Seite ist vielen aber auch klar, dass sich das gemeinschaftliche Wohnen sehr deutlich von ihren bisherigen Wohn- erfahrungen unterscheidet. Daher die Zögerlichkeit. Ich habe auch das Gefühl, dass wir noch nicht wirklich die geeigneten Strukturen haben, um sie zu begleiten. Was braucht es, damit man sich zu so einem Cluster zusammenfindet? Was braucht es an Grundvertrauen in die Gemeinschaft, die entstehen wird, in die eigene Möglich- keit, diese Gemeinschaft gut zu gestalten? Es ist ja doch sehr nah, was ich da mit anderen Menschen teile und ich habe dann nicht mehr die Rückzugsmöglichkeit in den eigenen Garten.
Schneider: Was ich beim Cluster sehr spannend finde, insbesondere wenn es sich um ein größeres Projekt handelt, dass das durchaus auch eine Möglichkeit ist, wo es einen größeren Turnover von Leuten gibt, das ist belebend. Das Zweite ist: Wir haben Gemeinschaftliches Wohnen 222 uns als Genossenschaft dazu entschieden, dass es pro Person im Durchschnitt 33 m2 gibt, also wenig Raum. Es gibt keine privaten Balkone, es gibt nur reduzierte Küchen. Wenn du mehr willst, dann musst du in die Gemeinschaft. Das Backrohr ist in der Gemeinschaftsküche. Ein Gästezimmer kannst du bei dir nicht einrichten, es ist zu eng, aber es gibt die Pension. Wenn du noch einen Büroarbeitsplatz brauchst, dann gibt es das Gemeinschaftsbüro. Dazu gibt es noch das Nähzimmer und den Musik- übungsraum – so trainieren die Leute nach und nach, ihre Bedürfnisse in der Öffent- lichkeit auszuleben. Ich glaube, das ist ein gesellschaftlicher Prozess. Das kommt nicht von heute auf morgen. Fragner: Die große Herausforderung für uns ist, dass bisher, zumindest in Wien, diese Gemeinschaftsprojekte den Ruf haben, dass sie nur für eine bestimmte Schicht und nur mit Geld auch machbar sind. Wie schaffen wir es, leistbar zu sein? Wie schaffen wir es, nicht diese Verdrängungsmechanismen zu haben? Ein Gedanke, den ich jetzt hier nur einfach so einwerfen will: Das gemeinschaftliche Wohnen ist zurzeit noch sehr wertegetragen. Ich glaube, wenn wir zu dem Schritt kommen, zu sagen: Was hat es für einen Nutzen? Nämlich diesen gemeinschaftlichen Luxus. Ich muss auf gewisse Dinge verzichten, aber der gemeinschaftliche Nutzen steht im Mittelpunkt: dieser Nutzen an gesellschaftlicher Vernetzung, an persönlicher, gemeinschaftlicher Vernetzung. Ich glaube, wenn das bewusster ist, dann brauch ich nicht mehr diese Werteorientierung. Das ist ein näherer Schritt für viele. An dem arbeiten wir jetzt: Wie kriegen wir es in die Breite?
6. GEMEINSCHAFTLICH GÜNSTIG LEBEN Laimer: Bieten gemeinschaftliche Wohnformen das Potenzial, Wohnraum günstiger zu schaffen? Oder ist das Gegenteil der Fall? Fragner: Ich habe unseren Projektentwickler gefragt, was unser aktuelles Projekt so teuer macht. Der Projektentwickler sagt, die Clusterwohnungen sind die Preistreiber. Das kenne ich auch aus der Studie aus Berlin, die unlängst fertiggestellt wurde. Die Autoren sagen, dass das Herstellen der Clusterwohnungen ein bisschen teurer als der normale Wohnbau ist, aber – jetzt kommt das große aber – im Leben dann oder in der Lebensgestaltung kann ich enorm viel einsparen. Das war für mich dann der wich- tige Punkt: Wenn es im Einstieg teurer ist, aber dann im Laufenden günstiger wird, dann hat es einen Mehrwert. Das ist leistbares Wohnen. Zilker: Für mich ist der wichtigste Aspekt beim Thema Leistbarkeit, dass es nicht um Euro pro Quadratmeter geht, sondern um Euro pro Monat. Es muss um die Leist- barkeit des Lebens gehen und nicht um die Leistbarkeit des Wohnens pro Quadrat- meter. Ich zahle für meine Wohnung im Wohnprojekt Wien wahrscheinlich mehr als üblich im geförderten Wohnbau, aber mein Mittagessen kostet 3,50 Euro, weil ich jeden Tag mit anderen gemeinsam koche. Ich brauche keine Bohrmaschine, ich brauche kein einziges Werkzeug, weil wir uns das teilen. Ich brauche kein Auto, wenn ich Carsharing habe, man braucht keine Kinderbetreuung in Akutsituationen, weil Nachbarn einspringen. Das könnte man jetzt beliebig fortsetzen. Ich glaube, wenn wir immer nur anfangen, über Euro pro Quadratmeter zu reden und alles daran zu messen und nie die ganzen Mehrwerte betrachten, dann ist das eine absurde Debatte.
Diese 20 Prozent mehr, die gemeinschaftliches Wohnen vielleicht kostet, weil es Diskussion mit Ute Fragner, Lukas, Nina Schneider, Robert Temel, Markus Zilker von Christoph Laimer 223 auch etwas bietet, die kann ich locker durch Synergien auf anderen Ebenen wieder wettmachen. Temel: Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Projekten in Wien und den Projekten in Deutschland und in der Schweiz ist, dass hier die Motivation für das Leben im Hausprojekt bisher nicht durch die günstigen Wohnkosten entstand. Die Konkur- renz ist in Wien nicht der freie Markt, sondern der geförderte Wohnbau. Die gemein- schaftlichen Wohnprojekte sind sogar ein bisschen teurer, weil sie eben relativ groß- zügige Gemeinschaftsflächen besitzen, die natürlich mitfinanziert werden müssen. Die Attraktion des gemeinschaftlichen und selbstorganisierten Wohnens liegt viel- mehr in den Gestaltungsspielräumen. Bei uns geht es oft sehr stark darum, dass die Mitglieder einer Gruppe ihre eigene Wohnung entwerfen. Das ist ja ein Unterschied zum Beispiel zu den Schweizer Projekten, wo die Partizipation stärker aus einer Pers- pektive der Stadtgesellschaft verstanden wird. Man entwirft dort einen Stadtbau- stein für den Stadtteil und es ist zum Zeitpunkt dieses Partizipationsprozesses noch gar nicht klar, wer dann nachher drinnen wohnen wird. Der Stadtteilaspekt kommt in Wien eher durch die Planungsverfahren als aus den Projekten selbst. Viele der Grundstücke für Projekte in Wien werden im Konzeptverfahren vergeben und die Jurys dieser Verfahren wählen eher Projekte aus, die auch etwas für den Stadtteil anbieten und tolle Nutzungen haben, als die, die besonders güns- tige Wohnungen haben. Das sind ein paar Gründe, warum sich das so entwickelt hat. Natürlich bieten die Projekte das Potenzial, Wohnfläche zu reduzieren und dadurch günstiger zu werden.
Es ist nicht so einfach, die Zürcher Modelle auf Wien zu über- tragen. Das was in Zürich die Ziel-Wohnfläche ist, ist bei uns der Durchschnitt. Den müsste man reduzieren und dann wird es schwierig mit der Clusterwohnung. Aber ich glaube schon, dass es grundsätzlich ein Potenzial gibt, Projekte güns- tiger zu machen. Ein Hausprojekt, das in die Richtung zielt, ist Bikes and Rails, das erste habiTAT-Neubauprojekt in Österreich. Mit diesem Netzwerk wurde über Crowdfunding erreicht, dass man keine Eigenmittel beitragen muss – was schon ein großer Schritt ist. Wenn es mehr Projekte in die Richtung gäbe, vielleicht auch mit verschiedenen Vorgangsweisen, wenn man grundsätzlich bei der Entwicklung solcher Projekte mehr Wert darauf legt, auf die Wohnkosten zu schauen und nicht so sehr die tollen, in den Stadtteil ausstrahlenden Häuser in den Mittelpunkt zu stellen, dann ist ein großes Potenzial da. Im Idealfall gibt’s natürlich beides in einem Projekt. Schneider: Wir sind effektiv nicht billiger als sonst irgendwer, der baut, also im ersten Moment sind die Wohnungen nicht speziell billig. Aber was wirklich viel entscheidender ist: Wir entziehen sie dem Kapital. Wir können garantieren, dass diese Mieten nicht teurer werden. In der Schweiz ist es eben so, dass im privaten Mietrecht die Mieten immer gesteigert werden können, Jahr für Jahr. Wir werden eben in zehn Jahren noch genauso teuer sein wie heute, weil es eine Kosten- miete ist. Wir schöpfen neben den Kosten, die wir ausgegeben haben, nur einen kleinen Teil ab, den wir für die Verwaltung brauchen. Das ist das Züricher Kosten- mietenmodell. Wir können bei Kalkbreite, die wir vor fünf Jahren bezogen haben, die Mieten jetzt schon radikal senken, weil der Referenzzinssatz gesunken ist und unsere Kapitalkosten gesunken sind. Wir können mit den Mieten runter, während überall in der Schweiz die Mieten hochgehen.
Ich glaube, das müssen wir immer im Kopf haben. Vielleicht ist es heute nicht so günstig, aber sobald nicht mehr auf diesem Boden spekuliert wird, macht das einen riesigen Unterschied. Gemeinschaftliches Wohnen 224 Fragner: Wir haben das gleiche Prinzip. Wir geben als Genossenschaft nur das weiter, was wir selbst an Kosten haben und müssen nicht jede Gelegenheit nützen, um die mögliche Erhöhung der Mietkosten auch auszuschöpfen. Ich möchte noch ein Thema einbringen: Was mir persönlich sehr am Herzen liegt, ist die Dynamik des individuellen Eigentums. Ich beobachte Wohnprojekte, die später in individuelles Eigentum übergehen. In vielen Fällen geht dann die Gemeinschaft flöten. Mein Postulat ist, dass Eigentum langfristig das Gemeinschaftsleben zerstört. Wenn ich von Daseinsvorsorge rede, wird von anderen darunter immer die Eigen- tumswohnung verstanden, die als Kapitalanlage dient. In der Sargfabrik verstehen wir unter gemeinsamer Daseinsvorsorge, dass wir uns überlegen, wie wir beispiels- weise in 20 Jahren die Pflege gemeinsam organisieren können oder wie wir unseren ökologischen Fußabdruck verkleinern, und damit auch unsere Lebenshaltungs- kosten. Daran gemeinsam weiterzuarbeiten, wäre für mich eine total spannende Herausforderung. 7. DER WUNSCH NACH SELBSTBAU: SCHWIERIGKEITEN UND POTENZIALE Laimer: Ein Aspekt, Nina, den du schon angesprochen hast: Bei eurem neuen Projekt, dem Zollhaus, testet ihr mit dem Modell Hallenwohnen das Potenzial von Selbstbau. Du hast bereits erwähnt, dass du bei vielen Menschen, die sich bei euch um Wohnungen bewerben, das Gefühl hast, dass diese den Wunsch und das Bedürfnis haben, ihren Wohnraum selbst zu gestalten und dies stärker wird, weswegen ihr euch überlegt, wie ihr dem Rechnung tragen könnt. Wie sehen eure Überlegungen aus?
Schneider: Was bei uns extrem schnell klar wurde – und das ist immer der Killer für alle – in dem Moment, in dem Leute Sachen selber machen wollen, wird es teurer und nicht billiger. Wenn wir 50 baugleiche Küchen bestellen, dann sind die halb so teuer wie wenn man selber eine Küche baut. Wir wollen, dass die Leute die Möglichkeiten haben, selber Hand anzulegen, aber wir wollen unbedingt auch die Wohnungen und die Mietpreise schützen. Das heißt, alles was die Leute einbauen, müssen sie den Nachfolger*innen schenken oder wieder mitnehmen. Es ist nicht erlaubt, irgendein Bauelement, das eingebaut wird, und sei es noch so schön, weiterzuverkaufen und damit die Wohnung zu verteuern. Das ist wirklich ein harter Lern-Brocken für alle. Was für uns auch extrem lehrreich war, ist, dass wir als Genossenschaften auch die Vorreiter*innen der Ökologisch-Bauen-Bewegung waren. Wir merken jetzt, dass wir mit dem hohen Anspruch auf ökologische Nachhaltig- keit (kontrollierte Lüftung, Fußbodenheizung, Vorreiterprojekt 2000-Watt-Areal) und dem Anspruch auf Partizipation an die Grenze kommen. Wir merken, wenn wir jetzt mit neuen Typologien kommen, kommen wir an die Grenze der Partizipation, weil wir so modular, wie wir sein wollen und so partizipativ, wie wir sein wollen, eigent- lich gar nicht mehr anbieten können, da der Bau viel zu komplex ist und alles von Ingenieur*innen und Expert*innen abhängig ist. Wir konnten das Projekt Hallenwohnen und Selbstausbau ermöglichen, aber wir mussten es extrem reduzieren, indem wir doch einen Grundausbau seitens der Genossenschaft machen und die Bäder, die kontrollierte Lüftung und auch die Küchenanschlüsse einbauen. Trotzdem ermöglichen wir den Leuten vieles – auch wieder ein bisschen im Graubereich: Der Ausbau, den sie machen, muss nicht bewil- ligt werden, weil das ist Mobiliar. Sie bauen sich keine Galerien, sondern Hochbetten.
Sie bauen sich Kunst in die Wohnung. So können wir ihnen in diesen Hallen, die riesig Diskussion mit Ute Fragner, Lukas, Nina Schneider, Robert Temel, Markus Zilker von Christoph Laimer 225 und über vier Meter hoch sind, eine maximale Freiheit lassen, die bautechnisch doch noch einigermaßen im legalen Bereich ist. Wir versuchen, Grenzen auszuloten. Wie auch das Clusterwohnen ist das Hallenwohnen im Moment nicht etwas, das für die Masse gemacht wird. Es geht darum, Modelle zu entwickeln, die dann von anderen weiterentwickelt werden und langsam Schule machen. Wir glauben, dass es wichtig ist, in der genossenschaftlichen oder selbstverwalteten Szene Modellprojekte zu entwi- ckeln, die längerfristig auch im Normwohnungsbau angewendet werden können. Ich bin ein Kind der 80er-Jahre, ich habe viel in besetzten Häusern und im Altbau gewohnt. Wenn ich damals in eine Altbauwohnung eingezogen bin, dann musste ich damit leben, dass mein Vormieter die Wände schwarz angestrichen hat. Ich musste sie ablaugen und nachher weiß streichen und es war nicht schlimm. Dieser erste Monat war immer Baugruppen-Feeling, dafür hat mir nachher diese Wohnung gehört. Und ich glaube, wir könnten das eigentlich auch als Genossenschaftseigentü- merin unseren MieterInnen zumuten, dass sie die Wohnungen, wenn sie sie beziehen, für ihren Bedarf herrichten. Aber das braucht in der Schweiz große Diskussion. Zilker: Auch in Österreich … Schneider: Wegen den Nasszellen: Als wir am Zollhaus gebaut haben, habe ich gesagt: In den 80er-Jahren, da wohnten wir in diesen Altbauten. Da hatte es vielleicht eine Dusche im Keller, und da waren wir schon ganz stolz, dass es eine Dusche im Keller gab. Wir könnten doch jetzt anfangen, wieder Wohnungen ohne Nasszellen zu bauen und nur Etagennasszellen anbieten. Dafür ein bisschen nettere, und die werden dann geputzt. Die Leute haben mich fast umgebracht.
Das konnte sich niemand vorstellen. Ich finde die Küchen im Cluster auch seltsam. Heutzutage gehen alle zum Take-Out oder sind in der Gemeinschaftsküche. Es wird gar nicht mehr so viel gekocht, man könnte sich wirklich etwas anderes teilen, was vielleicht viel wesentlicher ist. Aber das sind da noch so offene Diskussionen. Laimer: Markus, hast du Erfahrungen gemacht, dass Leute den Wunsch nach Selbstbau haben? War das bei euch mal in Diskussion? Zilker: Bei uns gibt es in jeder zweiten Gruppe den massiven Wunsch nach Selbstbau. Ich werde dann immer nervös. Warum? Nicht aus einer prinzipiellen Abneigung, sondern weil wir schon Selbstbauerfahrung gemacht haben. Früher in kleineren Projekten, mittlerweile in größeren Projekten. Das eine ist, dass wir primär im geförderten Wohnbau tätig sind. Wir müssen eine fertige Wohnung übergeben. Das wird kontrolliert, da gibt es Abrechnungen dazu, also eine komplett bürokratische Maschine. Es gab zum Selbstbau ein paar Forschungsprojekte in den 90er-Jahren, das Thema ist durchaus herausfordernd. Was wir versuchen, ist, Selbstbau dann zu machen, wenn wir nicht im Rahmen des geförderten Wohnbaus sind. Bei einem Projekt hat sich die Gruppe gewünscht, ganz viele Lehmoberflächen zu haben und hat etwa 1.500 Arbeitsstunden hineingesteckt. Das hat gut funktioniert. Doch damit dafür noch irgend jemand am Ende eine Gewährleistung übernimmt, für das was er davor oder danach gemacht hat, muss man 13 Firmen knebeln, und eigene Verträge aufsetzen. Es ist wirklich kompliziert und eine riesige Herausforderung. Der Wunsch nach Selbstbau wird oft auch ideali- siert. Man überschätzt, wie viel Zeit man hat. In vielen unserer Projekte, bei denen ein bisschen Selbstbau passiert, ist er nach zwei Jahren trotzdem noch nicht fertig.
Gemeinschaftliches Wohnen 226 Die Leute sind total unzufrieden damit und sagen: „Hätten wir’s doch machen lassen!“ Ich glaube, es ist auch ein Spagat zwischen Wunsch, Wirklichkeit und Machbarkeit. Fragner: Ich erlebe Selbstbau zum Teil auch als Überforderung. Ich habe dann manchmal Angst um die Gruppen, dass die den Einzug nicht erleben. Es ist eine große Überforderung, weil alles in der Zeit fertig werden muss, damit die Nachfolgefirmen nicht irgendwelche Pönalen verrechnen. Es ist eine große Herausforderung, und was mich persönlich immer wieder zum Nachdenken bringt, ist, dass dieser Wunsch nach Selbstbau sehr viel mit dem Einfamilienhaus zu tun hat. Dieser Eigentums- und Eigen- heimdynamik, der wollen wir ein Stückchen was entgegensetzen. Es soll leichtfallen, sich wieder zu bewegen oder sich zu verändern. Je mehr ich selber gemacht habe an den eigenen vier Wänden, desto mehr kommen wir in diese Eigentumsdynamik. Deswegen bin ich beim Thema Selbstbau ein bisschen ambivalent. Laimer: Selbstbestimmt heißt also nicht immer auch selbstgemacht, zumindest dann, wenn es um die tatsächliche Bauleistung geht. Die gemeinschaftlichen Wohnprojekte, die ihr vorgestellt habt, sind trotzdem von einem hohen Maß an Selbstorganisation der Gruppen und einer gemeinschaftlichen Gestaltung der eigenen Wohnverhältnisse geprägt und zeigen, welches – auch über die reine Wohnraumversorgung hinausgehende – Potenzial in diesen kooperativen Projekten liegt. Vielen Dank für das Gespräch! Diskussion mit Ute Fragner, Lukas, Nina Schneider, Robert Temel, Markus Zilker von Christoph Laimer 227 229 https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_17 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht.
Andrej Holm, Anna Kravets, Christoph Laimer, Jana Steinfeld Bausteine für ein Neues soziales Wohnen Selbstorganisiertes und gemeinschaftliches Wohnen liegt im Trend und in den letzten Jahren sind in zahlreichen Städten viele neue Projekte des gemeinschaftli- chen Bauens und Wohnens entstanden. Als Nische der Wohnversorgung ermöglichen Hausprojekte Wohnformen und Lebensmodelle, die in den Standardlösungen des privaten und öffentlichen Wohnungsbaus nur selten realisiert werden können. Doch selbstverwaltete und gemeinschaftliche Wohnprojekte unterscheiden sich nicht nur im Zuschnitt der Wohneinheiten und der Nutzung von Gemeinschaftsflächen von klassischen Wohnbauprojekten, sondern auch in der Art und Weise, wie sie entstehen. In diesem Beitrag, der die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Bausteine für ein Neues soziales Wohnen“ (im Rahmen der Incoming Research Fellowship „Immobilien- wirtschaft und Standortentwicklung“ an der TU Wien) zusammenfasst, schauen wir auf einige Besonderheiten solcher Projekte und nehmen dabei vor allem die organi- satorischen und ökonomischen Aspekte in den Blick. Auf der Basis von Fallstudien des Neubaus von selbstorganisierten und gemeinschaftlichen Hausprojekten stellen wir dar, wie solche Neubauvorhaben geplant, finanziert, gebaut und verwaltet werden und skizzieren so die Konturen des Neuen Sozialen Wohnens. 1. EINLEITUNG UND FRAGESTELLUNGEN In vielen Städten haben sich in den letzten Jahren selbstorganisierte und gemein- wirtschaftliche Haus- und Wohnprojekte gegründet und neue Formen des gemein- schaftlichen Zusammenlebens, der Verbindung von Wohnen und Arbeit bis hin zu Ansätzen einer gemeinsamen Ökonomie entwickelt. Die kollektiven Wohnformen und selbstorganisierten Hausprojekte reagieren damit auf verschiedene gesellschaft- liche Entwicklungen.
Zum einen zwingen die marktwirtschaftliche Durchdringung aller Lebensbereiche und der Abbau von Sozialleistungen größer werdende Teile der 230 Bevölkerung, ihre Lebenshaltungskosten zu senken, was die Bedeutung von gegen- seitiger Hilfe stärkt (Mäder 1999). Zum anderen gibt es ein unübersehbares Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung und Organisation, nach individuellen Gestaltungs- möglichkeiten und kollektivem Handeln (siehe z. B. LaFond 2012). Die Möglichkeiten, dieses Bedürfnis zu befriedigen sind innerhalb der Bevölkerung derzeit jedoch sehr unterschiedlich verteilt. Immer wieder sind es vor allem kleine innovative Initiativen oder engagierte, experimentierfreudige Fachleute, die solchen Ideen – oft gegen anfängliches Unver- ständnis oder sogar Widerstand – zum Durchbruch verhelfen. Historisch wurden in vielen europäischen Städten vor allem der unsanierte Altbaubestand und leerste- hende Fabrikgebäude für die Erprobung von neuen Wohn- und Lebensformen genutzt, weil die lange Zeit der Abwesenheit von privaten Verwertungsinteressen und staat- lichen Planungsambitionen Spielräume für das selbstbestimmte Gestalten der Wohn- situation ermöglichte (Holm/Kuhn 2011). Nach den Jahrzehnten der innerstädtischen Aufwertung und Restrukturierung haben sich die Optionen für solche Nischenpro- jekte im Bestand weitgehend aufgelöst. Initiativen des gemeinsamen Planens und Bauens haben sich verstärkt in den Bereich der Neubauprojekte verschoben (Temel u. a. 2009; Ginski/Schmitt 2014). In vielen Städten konstituieren Baugruppen, selbst- organisierte Hausprojekte und auch Neubauvorhaben von jungen Genossenschaften ein kleines, aber wachsendes Segment des Neuen Sozialen Wohnens. In den reali- sierten Projekten spielen Aspekte wie Gemeinschaftlichkeit, Kollektivität und Soli- darität eine größere Rolle als in den meisten traditionellen Bauprojekten.
In vielen Städten gehört es mittlerweile zum Standard, gemischte Quartiere zu planen (Feldt- keller 2018) oder eine Vielfalt von Bauträgern zu sichern (Weiss/Blumer 2013). Bei der Ausweisung von neuen Bauflächen wird immer häufiger zumindest ein Teil der Grundstücke an selbstorganisierte Baugruppen oder alternative Bauträger vergeben. Doch selbstorganisiertes Bauen und gemeinschaftliches Wohnen kann mehr sein als nur eine willkommene Ergänzung zum Standardwohnformat der etablierten Wohnbauträger. Die oft aus notwendigen Improvisationen heraus entwickelten Modelle der Finanzierung, Planung und Bewirtschaftung könnten wichtige Impulse geben, um auch den öffentlichen und gemeinnützigen Wohnbau noch besser auf die neuen und künftigen gesellschaftlichen Herausforderungen einzustellen. Auf der Basis von Fallstudien zu gemeinschaftlichen Wohnprojekten 1 werden wir Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Besonderheiten solcher Wohnprojekte auf den Ebenen der Planung, des Baus und der Bewirtschaftung darstellen und die Voraus- setzungen, Funktionsweisen und zu erwartenden Effekte der dabei entwickelten Instrumente analysieren. Mit (a) dem Boden, (b) dem Trägermodell, (c) der Finan- zierung, (d) der Planung und dem Bau sowie (e) den Bewirtschaftungsgrundsätzen, (f) der Verwaltung, (g) den Beteiligungsmöglichkeiten und (h) den Vergabemodali- täten haben wir acht Bausteine des Neuen Sozialen Wohnens identifiziert, die zur Beschreibung des selbstorganisierten und gemeinschaftlichen Bauens herangezogen werden können. Die einzelnen Bausteine weisen dabei verschiedene Varianzen auf und sind durch Wechselwirkungen untereinander geprägt.
Da auch in selbstorga- nisierten Bauprojekten mit der Entscheidung für das Grundstück, das Trägermodell und die Finanzierung in einem frühen Stadium des Projekts grundlegende Rahmen- bedingungen gesetzt werden, versuchen wir verschiedene Pfadabhängigkeiten für die Vergabe, Verwaltung und Beteiligung in gemeinschaftlichen Wohnprojekten zu rekonstruieren. In laufenden Planungsprozessen können mögliche Einschränkungen und Folgen bereits getroffener Entscheidungen nur ex ante festgestellt werden. Andrej Holm, Anna Kravets, Christoph Laimer, Jana Steinfeld 231 Unsere Arbeit soll künftigen Hausprojekten Einblicke in mögliche Auswirkungen der notwendigen Grundentscheidungen geben. Wir werden wir zunächst die sieben Projekte der Fallstudie vorstellen (Kapitel 2), anschließend die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Besonderheiten verschie- dener Aspekte beschreiben (Kapitel 3) und schließlich die Konturen des Neuen Sozi- alen Wohnens herausarbeiten (Kapitel 4). 2. KURZPORTRÄTS DER UNTERSUCHTEN WOHNPROJEKTE Die diesem Beitrag zugrunde liegenden Haus- und Wohnprojekte sind alle in den letzten Jahren realisiert worden und waren mit zwei Ausnahmen zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits bezogen. Je zwei Projekte kommen aus Berlin und Wien, jeweils eines aus Freiburg, Lüneburg und Zürich. In Bezug auf ihre Größe zwischen 23 und 190 Bewohner*innen unterscheiden sich die Projekte ebenso wie hinsicht- lich des Finanzierungsvolumens zwischen einer und 49 Mio. Euro. Drei gemein- schaftliche Wohnprojekte (Gemeinschaftswohnen im Wedding, so.vie.so in Wien und Zollhaus in Zürich) wurden in Trägerschaft einer Genossenschaft 2 errichtet – die anderen vier Hausprojekte gehören zum Mietshäuser Syndikat (MHS) bzw. habiTAT. 3 2.1. 3HÄUSERPROJEKT (FREIBURG) Das zentral in Freiburg gelegene 3HäuserProjekt bietet seit 2017/18 Wohnraum für etwa 150 Menschen.
Alle drei Hausprojekte, LAMA (3HäuserProjekt 2020a), Luftschloss (3HäuserProjekt 2020b) und schwereLos (3HäuserProjekt 2020c), sind selbstverwaltet und Teil des MHS. Dabei sind sie weitgehend unabhängig voneinander, im Bau- und Planungsprozess wurde aber auch häuserübergreifend zusammengearbeitet. Zwei der Grundstücke wurden von der Stadt Freiburg über ein Punktesystem vergeben, in dem soziale Kriterien wie Mietpreisbindung und Barrierefreiheit ausschlaggebend waren. 4 Die Häuser sind dreigeschossig, hauptsächlich aus Beton in Kombination mit nachhaltigen Materialien wie Zellulose und Holz gebaut (3HäuserProjekt 2019). In jedem Haus gibt es private Wohnungen, die von Familien, Einzelpersonen oder Wohngemeinschaften bewohnt werden, sowie gemeinschaftlich genutzte Räume. In LAMA wohnen 38 Menschen, darunter 14 Kinder und Jugendliche. Die Mieten liegen hier unter 7,00 €/m² (nettokalt) und sind für 55 Jahre gebunden. 70 Prozent sind Förderwohnungen, einige wurden gezielt an Menschen mit Fluchterfahrung und in Notsituationen vergeben. 2.2. FLUSE (LÜNEBURG) Die Fluse (Gemeinschaft.Sinn e. V. 2020) ist ein gemeinschaftliches Wohnprojekt in der Nähe des Lüneburger Stadtzentrums. Nach einem langjährigen Planungsvorlauf, der sich zunächst auf die Umwidmung eines ehemaligen Kasernengebäudes rich- tete (LZ Online 2016), wurde der Gruppe von der Stadt ein öffentliches Baugrund- stück auf der Fläche einer ehemaligen Kleingartenanlage angeboten (Schäfer 2018). Drei miteinander verbundene zwei- und dreigeschossige Baukörper (siehe Archi- tekturbüro Neustadtarchitekten 2019) bieten 38 Menschen, darunter acht Kindern, ein gemeinschaftliches Zuhause. Neben den privaten Wohnräumen bietet das Haus mit Gästezimmer, Wohnzimmer, Werkstätten und einem auch öffentlich nutzbaren Gemeinschaftsraum eine Reihe von zusätzlichen Nutzungsoptionen.
Die Mieten Bausteine für ein Neues soziales Wohnen 232 liegen unter 9,00 €/m² (nettokalt). Dabei sind bis auf eine alle Wohnungen geförderte Sozialwohnungen. Für die Finanzierung wurden neben Direktkrediten auch Förder- mittel des Landes und des Bundes genutzt. 2.3. M29 (BERLIN) Mitten im hoch gentrifizierten Berliner Bezirk Prenzlauer Berg hat sich der Neubau mit Gesamtwohnkosten von 330 Euro pro Person – d. h. ca. sechs Euro Nettokaltmiete pro m 2 – zu einem Refugium der Leistbarkeit entwickelt. Über 20 Menschen, darunter vier Kinder, haben hier nicht nur ein Dach über dem Kopf gefunden, sondern eine Hausgemeinschaft. Das Hausprojekt des MHS wurde im Modus der Ko-Produktion zwischen Architekt*innen und Hausgemeinschaft geplant. Priorität der Planung: das Haus sollte möglichst schnell, günstig und nachhaltig fertiggestellt werden (domestic utopias radio 2013, Baunetzwoche 2015). Eine Besonderheit des Haus- projekts M29 ist, dass der Alltag der Bewohner*innen als große Wohngemeinschaft kollektiv organisiert wird. Schon bei der Planung des Hauses hatten große Gemein- schaftsflächen (wie zum Beispiel Küchen, Dachterrasse) gegenüber den eher klein gehaltenen Privaträumen Vorrang. Haushaltsfunktionen wie Kochen und Freizeit- gestaltung sind im Hausprojekt M29 weitgehend vergemeinschaftet. Zudem sind mit der Einrichtung einer Gemeinschaftskasse erste Ansätze einer kollektiven Ökonomie entstanden. Zum Selbstverständnis der Hausgemeinschaft gehört das politische Engagement in der Nachbarschaft und eine Unterstützung von neuen Hausprojekten (Hausprojekt M29 2020). 2.4. GEMEINSCHAFTSWOHNEN IM WEDDING (BERLIN) Nahe der S-Bahn-Station Wedding findet man direkt an der Bahnlinie ein Ensemble von drei siebenstöckigen Holzhäusern, die mit breiten Brücken verbunden sind.
Der Bau aus vorgefertigten Holzbauteilen war zwar mit höheren Materialkosten verbunden, besticht aber durch die extrem kurze Bauzeit und hohe Nachhaltig- keit (Hensel 2018, 2019; Schäferwenningerprojekt 2018, 2019; Šustr 2018; Reichel 2018; Vetter 2018). Durch die Lage an der S-Bahn und den schmalen Zuschnitt galt das Grundstück als unattraktiv und war daher relativ günstig. Im Gemeinschafts- wohnen im Wedding wohnen 127 Menschen, die meisten von ihnen in Cluster- wohnungen, bestehend aus privaten Wohnbereichen und Gemeinschaftsräumen. Außerdem finden sich eine Kita, Obdachlosenhilfe und viele andere Einrichtungen in den Gewerbeflächen des Gebäudes. Das Projekt ist 2017/18 von der Wohnungs - baugenossenschaft Am Ostseeplatz eG mithilfe von Fördermitteln des Senatspro- gramms Experimenteller Geschosswohnungsbau entstanden. 5 Die Mieten liegen bei einer Spreizung von 6,50 bis 13,50 €/m² im Durchschnitt bei ca. 8,00 €/m². Die Hälfte der Wohnungen sind geförderte Sozialwohnungen. Bei der Planung der Wohnungen konnten zukünftige Bewohner*innen in Zusammenarbeit mit Architekt*innen teil- weise mitwirken und auch aktuell bietet das Projekt mehr Partizipationsmöglich- keiten als herkömmliche Mietverhältnisse (siehe auch Wohnungsbaugenossen- schaft „Am Ostseeplatz“ eG 2017). Andrej Holm, Anna Kravets, Christoph Laimer, Jana Steinfeld 233 2.5. SO.VIE.SO (WIEN) So.Vie.So ist unter allen untersuchten Häusern sicherlich das konventionellste Projekt, sticht jedoch durch die partizipative Entwicklung der Grundrisse und des Programms der Gemeinschaftsräume, ebenso wie durch die Selbstverwaltung der Gemeinschaftsräume im Vergleich mit anderen geförderten Wohnbauten in Wien heraus. Nicht zuletzt deswegen wurde das von der gemeinnützigen Genossenschaft BWS umgesetzte und von ss|plus architektur geplante Projekt 2015 mit dem Wiener Wohnbaupreis ausgezeichnet.
Der geförderte Wohnbau im Passivhausstandard im Wiener Sonnwendviertel verfügt über 111 Wohnungen und zahlreiche Gemein- schaftsräume. Für die Konzeption der Gemeinschaftsräume gab es vier Workshops mit sieben Themenkreisen. Die dabei erarbeiteten Vorschläge und Ideen waren die Basis für die weiteren Planungen des Architekturbüros. Die Gemeinschaftsräume werden von den Bewohner*innen selbst verwaltet. Neben der umfassenden Partizi- pation war es Ziel des Projekts, „ökonomisch schwächeren Bevölkerungsschichten“ ein Angebot zu machen, von jungen Menschen in Ausbildung bis zu Großfamilien. Dementsprechend gab es ein sehr offenes Angebot an Wohnungsgrundrissen. Der Finanzierungsbeitrag beträgt 515 €/m 2 , die Miete zwischen 6,20 und 6,82 € inkl. Betriebskosten und Steuer. Für die Bezahlung des Finanzierungsbeitrags bietet die Stadt Wien Eigenmittelersatzdarlehen zu 1 Prozent Zinsen an. 2.6. ZOLLHAUS (ZÜRICH) Das Zollhaus ist das zweite Bauprojekt der Züricher Genossenschaft Kalkbreite. Das rund 5.000 m 2 große Baugrundstück in der Nähe des Hauptbahnhofs gehört der Schweizer Bahn und der Stadt Zürich und wurde in einem öffentlichen Wettbewerb für gemeinnützige Wohnbauträger ausgeschrieben. Den Zuschlag erhielt die Genos- senschaft Kalkbreite u. a., weil ihr Konzept den Einbezug des angrenzenden Quartiers anstrebt, Wohnen, Arbeiten und Kultur unter einem Dach vereint und neben güns- tigen auch subventionierte Wohnungen vorsieht. Wie schon bei Kalkbreite wird es auch im Zollhaus eine Vielfalt von Wohnungstypen (1,5- bis 9,5-Zimmer-Wohnungen) geben. Gut ein Drittel der 56 Wohnungen werden 5,5 oder mehr Zimmer aufweisen. Vorgesehen sind auch eineinhalbstöckige sogenannte Hallenwohnungen, die sich Mieter*innen nach ihren eigenen Bedürfnissen selbst ausbauen können.
Um eine möglichst hohe Vielfalt innerhalb der Bewohner*innenschaft zu erreichen, hat die Genossenschaft ein eigens dafür entwickeltes Vermietungsreglement, das beispiels- weise auf dem Wohnungsmarkt benachteiligte Personen besonders fördert. Im Sinne der Nachhaltigkeit wird angestrebt, die Wohnfläche pro Person möglichst knapp zu halten (28 bis 32 m 2 ). Der niedere Flächenbedarf und eine Kostenmiete ermöglichen für Zürcher Verhältnisse sehr günstige Mieten. Wesentlich für den reduzierten indi- viduellen Flächenbedarf sind gemeinschaftliche Einrichtungen und räumliche Flexi- bilität. 2.7. BIKES AND RAILS (WIEN) Die Baugruppe Bikes and Rails ist Mitglied bei habiTAT und hat den ersten Neubau in diesem nach dem Modell des Mietshäuser Syndikats agierenden österreichi- schen Hausprojekte-Verbund errichtet. Das Haus befindet sich in der Nähe des Hauptbahnhofs im Wiener Sonnwendviertel und wurde im Mai 2020 nach fünfjäh- Bausteine für ein Neues soziales Wohnen 234 riger Entwicklungs- und Bauphase bezogen. Das Gebäude ist ein Passivhaus als Holz- riegelbau mit 18 Wohnungen und zwei Gewerbebetrieben. Das Haus wurde mit einem Förderdarlehen der Stadt Wien errichtet, das als Bedingung maximale Gesamtbau- kosten (rund 2.000 €/m 2 ) vorschreibt und Mindeststandards setzt, was den Wärme- schutz und die Energieeinsparungen betrifft. Der Zuschlag für das Grundstück wurde im Rahmen eines Wettbewerbs, der Teil eines kooperativen Verfahrens der Grundeigentümerin ÖBB und der Stadt Wien war, zu besonders günstigen Konditi- onen vergeben. Die Gesamtkosten des Projekts beliefen sich auf 5,46 Mio. Euro netto. Die Bewohner*innen müssen keine individuellen Eigenmittel zahlen, mittels einer Kampagne gelang es, kollektiv 1,5 Mio. Euro an Direktkrediten (Nachrangdarlehen) einzuwerben, die restliche Finanzierung erfolgte über den erwähnten Förderkredit (1,17 Mio.
Euro) und ein Bankdarlehen (2,8 Mio. Euro). In den 18 Wohnungen leben 31 Erwachsene und zwölf Kinder, zusätzlich gib es im Haus eine Werkstatt, einen Proberaum, eine Gemeinschaftsterrasse, eine Gästewohnung, einen Gemeinschafts- und Veranstaltungsraum inklusive Gemeinschaftsküche. Die durchschnittliche Brut- tomiete für die Wohnungen beträgt inklusive Betriebskosten 9,60 €/m², die Gewerbe- miete beläuft sich netto inklusive Betriebskosten auf 5,80 €/m². 3. BAUSTEINE DES NEUEN SOZIALEN WOHNENS Die von uns untersuchten gemeinschaftlichen Wohnprojekte weisen im Vergleich zu klassischen privatfinanzierten Bauvorhaben oder dem sozialen Wohnungsbau (Holm 2019) eine Reihe von Besonderheiten auf. Die Analyse der einzelnen Bausteine zeigt, dass sich nicht nur die Grundrisse und kollektiven Wohnformen vom Standard- wohnen unterscheiden, sondern dass sich auch die Organisation der Planung, Finan- zierung, Baudurchführung und Bewirtschaftung deutlich von den üblichen Wegen der Wohnungswirtschaft und -verwaltung abheben. Übergreifend lassen sich für alle Projekte ein hohes Maß an Beteiligung, eine starke Gebrauchswertorientierung und eine konsequente Ausrichtung an möglichst leistbaren Wohnkosten erkennen, die fast alle Dimensionen der Planung und Umset- zung der Neubauprojekte durchziehen. Von Interesse für unsere Analyse waren dabei auch mögliche Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Bausteinen. Insbe- sondere die Auswahl des Grundstücks, das Trägermodell und die Finanzierung hatten dabei einen erheblichen Einfluss auf andere Bereiche der Planung, Entwicklung und Bewirtschaftung. 3.1. GRUNDSTÜCK ALS FUNDAMENT Der Zugang zum Grundstück ist – so zeigen es unsere Fallstudien – nicht nur mate- rielle Voraussetzung des Bauvorhabens, sondern konstituiert eine Reihe von Bedin- gungen, die im Laufe des Planungs- und Bauprozesses nicht mehr verändert werden können.
So ist der Grundstückspreis (neben den Baukosten) ein entscheidender Hebel für die künftigen Wohnkosten. Darüber hinaus beschränken der Grundstücks- zuschnitt und der baurechtliche Status die Variationsmöglichkeiten der baulichen Gestaltung und Gebäudekubatur. In allen Beispielprojekten wurde die Planung auf der Basis der Grundstücksbedingungen vorgenommen und angepasst. In einer grundstücksbedingten Projektentwicklung wurde die Anzahl der möglichen Bewoh- ner*innen und bauliche Wunschvorstellungen eher an die Grundstückskonstellati- onen angepasst als umgekehrt. Auffällig ist, dass etliche der Grundstücke schwierig Andrej Holm, Anna Kravets, Christoph Laimer, Jana Steinfeld 235 im Hinblick auf die Bebauung sind oder für Hausprojekte reserviert und in Wettbe- werben vergeben wurden. 3.2. TRÄGERMODELL BESTIMMT DIE STATIK DER PROJEKTE Neben dem Zugang zum Baugrund kann auch die Entscheidung für das Trägermo- dell als vorgelagerte Rahmenbedingung angesehen werden. In allen von uns unter- suchten Projekten stand vor dem Beginn der Projektplanung fest, in welchen organi- satorischen Konstellationen die Neubauvorhaben umgesetzt werden sollten. Im Fall der Genossenschaft war die Wahl des Trägermodells keine Frage, sondern die bereits bestehende Organisationsform. Auch die Hausprojekte des Mietshäuser Syndikats hatten sich mit Ausnahme von Bikes and Rails bereits vor dem Beginn des konkreten Projekts als Gruppen für das Modell entschieden. Mit dieser Entscheidung waren trägermodellbedingte Weichen für Finanzie- rungsmodelle, Beteiligungsformen und Vergabemodalitäten gestellt. Insbesondere die Projektgruppen des MHS orientierten sich von Beginn an auf das im MHS übliche Verfahren, das Eigenkapital für die Finanzierung mit Direktkrediten zu erbringen.
Die untersuchten Genossenschaftsprojekte konnten die eigene wirtschaftliche Subs- tanz als Eigenkapital zur Kreditaufnahme einbringen. Die Beteiligungsstellung der Bewohner*innen geht sowohl im Genossenschaftsmodell als auch im Mietshäuser Syndikat weit über ein klassisches Mietverhältnis hinaus. Die Bewohner*innen der Genossenschaftsprojekte haben über ihre Mitgliedschaft in der Genossenschaft Mitbestimmungsmöglichkeiten über die Genossenschaftsgremien und wurden in einer späteren Projektphase an der Ausgestaltung von Grundrisslösungen ihrer jeweiligen Wohnungen beteiligt. In den Projekten des MHS übernehmen die Bewoh- ner*innen über ihre Beteiligung an der GmbH-Konstruktion eine aktive Rolle als Bauherr*innen und haben mit Ausnahme von Bikes and Rails 6 in allen von uns unter- suchten Projekten unmittelbar und vollverantwortlich alle wesentlichen Kauf-, Planungs- und Bauentscheidungen getroffen. Während die über ein Standardmiet- verhältnis hinausgehende Beteiligung und Mitbestimmung in der Genossenschaft eine Option für die Bewohner*innen ist, war sie in den MHS-Projekten eine wesent- liche Voraussetzung für die Realisierung der Projekte. 3.3. FINANZIERUNG UND WIRTSCHAFTLICHKEITSBERECHNUNG ALS TRAGENDE WÄNDE Als eine dritte frühzeitige Entscheidung bestimmen auch das Finanzierungsmodell und die gemeinwirtschaftliche Kalkulation die Umsetzung und Nutzungsmöglich- keiten der Neubauprojekte. Da alle von uns untersuchten Wohnprojekte mit dem Ziel angetreten waren, mit möglichst günstigen Mietpreisen eine leistbare Wohnkosten- belastung für die Bewohner*innen zu ermöglichen, waren die Finanzierungsmo- dalitäten der Erstellungskosten von entscheidender Bedeutung. Mit der Ausnahme eines Wohnprojekts mit sehr niedrigen Baukosten (M29 in Berlin) haben alle Projekte Fördergelder aus verschiedenen Programmen in Anspruch genommen.
Über die mit den Förderprogrammen bewirkten Belegungs- und Mietpreisbindungen hinaus waren mit der Annahme von Fördermitteln zum Teil konkrete Anforderungen an Ausstattung (Barrierefreiheit), maximale Höhe der Baukosten, Energie- und Wärme- verbrauch oder Baudurchführung (Holzrahmenbauweise, Passivhaus) verbunden. Alle Projekte, die Fördermittel genutzt haben, mussten auch die damit verbundenen Bausteine für ein Neues soziales Wohnen 236 Auflagen für die haushaltbezogenen Vorgaben maximaler Wohnungsgrößen berück- sichtigen – die vielfach im Konflikt mit den geplanten gemeinschaftlichen Wohn- konzepten standen. Die Förderprogramme waren so nicht nur eine Unterstützung, sondern wurden von den Projekten zugleich als Beschränkung bei der Planung von Grundrissen und Belegungsplänen und als ein erhöhter Aufwand der Finanzplanung wahrgenommen. Beschränkungen dieser Art führen jedoch auch immer wieder zu kreativen Lösungen. Alle von uns untersuchten Hausprojekte orientierten sich am Prinzip von kosten- deckenden Mieten ohne Gewinnerwartungen. Bei den Finanzierungsplanungen galten leistbare Mieten nicht als Ergebnis der Kalkulation, sondern als Ausgangs- punkt der Überlegungen. Die Orientierung an leistbaren Mietpreisen ist bei den Projekten, die im Rahmen des MHS/habiTAT entstanden sind, eine Daueraufgabe, die sich nicht auf den Zeitraum der Planung beschränkt. Das Direktkreditmodell des MHS erfordert eine dauerhafte Betreuung der Direktkreditgeber*innen und wird durch die Suche nach neuen Direktkrediten zu einer Daueraufgabe der Finanzierung. Die über die Bauphase hinausgehende Notwendigkeit einer Projektverantwortung der Wohngruppen unterscheidet die Hausprojekte des MHS von anderen Formen des gemeinschaftlichen Wohnens. 3.4.
PLANUNG UND BAU ALS STEIGLEITUNG DER BETEILIGUNG Planung und Baudurchführung werden, wie bereits beschrieben, materiell von den Grundstücksbedingungen, organisatorisch vom Trägermodell und in Bezug auf Ausstattung und Baustoffe von den Finanzierungskonditionen bestimmt. Doch Planung und Bauprozesse haben auch Auswirkungen auf andere Bausteine des Neuen Sozialen Wohnens. Zum einen beeinflussen Planung und Bauablauf die Kosten und damit die späteren Mieten, zum anderen konstituieren Eigenverantwortung und Mitwirkung am Bau- und Planungsprozess die Identifikation der künftigen Bewoh- ner*innen mit dem Projekt und der Wohnform. Je intensiver die Beteiligung an der Entstehung des Projekts, desto größer auch die Selbstverständlichkeit der gemein- samen Mitwirkung an der Selbstverwaltung. Trotz abnehmender Intensität der gemeinsam zu entscheidenden Aufgaben haben zumindest die von uns untersuchten Projekte des MHS auch nach der Baufertigstellung Arbeitsgruppenstrukturen und Kooperationsroutinen aufrechterhalten und fortgeführt. 3.5. VERWALTUNG UND BETEILIGUNG SIND MEHR ALS FASSADE Verwaltung und Beteiligung sind im Wesentlichen vom Trägermodell bestimmt und unterscheiden sich zwischen Genossenschaften und Projekten des MHS vor allem durch den Grad der Selbstbestimmung und die Gestaltungsspielräume bei den technischen und administrativen Verwaltungsaufgaben. Beide Bausteine stehen dabei in einer Wechselbeziehung und haben Auswirkungen auf die Wohnkosten und die Zusammensetzung der Bewohner*innen. Die weitgehende Übernahme von Verwaltungsaufgaben durch die Wohngruppen in den Projekten des MHS reduziert die Kosten der Verwaltung. Die Selbstverwaltung ist dabei keine Option zur Beteiligung oder Mitwirkung, sondern Voraussetzung des Bewirtschaftungsmodells.
Neben den bewirtschaftungsbezogenen Verwaltungsaufgaben des Hauses müssen die Projekt- gruppen weitere administrative Tätigkeiten wie die Betreuung der Direktkredite und Buchführung der GmbH organisieren, wofür fachliche und zeitliche Ressourcen der Andrej Holm, Anna Kravets, Christoph Laimer, Jana Steinfeld 237 Bewohner*innen vorausgesetzt werden. Da auch die Organisationsformate der Grup- penstrukturen für Menschen mit Erfahrungen in kollaborativen Formen der Zusam- menarbeit leichter zugänglich sind, wirken sich Verwaltung und Beteiligung stärker als in den eher service-orientierten Verwaltungsstrukturen einer Genossenschaft auch auf die Zusammensetzung der Bewohner*innen aus. 3.6. DIE INSTALLATION DER VERGABEMODALITÄTEN Hausprojekte verfolgen in der Regel den Anspruch, eine hohe Diversität innerhalb ihrer Bewohner*innenschaft zu erreichen. Ob es gelingt, dieses Vorhaben in die Realität umzusetzen, hängt von unterschiedlichen Parametern ab. Vorauszuschi- cken ist, dass es ein durchaus anspruchsvolles Vorhaben ist, ein Bestandsobjekt zu kaufen, zu adaptieren und zu sanieren oder einen Neubau zu errichten. Die zeitlichen und fachlichen Ressourcen, die es braucht, um die unterschiedlichen Aufgaben zu erfüllen, sind beachtlich. Es ist kein Zufall, dass die Anzahl der Architekt*innen in Gruppen, die Hausprojekte umsetzen überdurchschnittlich hoch ist, speziell dann, wenn es sich um einen Neubau handelt. Die Annahme, es bräuchte in jeder Gruppe Architekt*innen, Anwält*innen und Finanzexpert*innen, ist allerdings falsch. Es ist überraschend, wie viele Qualifikationen sich Projektbeteiligte in der Prozessphase aneignen und natürlich profitieren Projekte, die Teil eines Netzwerks wie z. B. des Mietshäuser Syndikats sind, von der Expertise und den Ressourcen anderer Projekte.
Darüber hinaus lastet die Verantwortung im Vergleich zu beispielsweise dem Bau eines Einfamilienhauses bei einem Hausprojekt auf vielen Schultern. Um von Anfang an eine hohe Durchmischung zu erreichen, gibt es beim Zürcher Zollhaus – wie auch bei anderen Projekten von alternativen Schweizer Genossen- schaften – sehr genau aufgeschlüsselte Belegungskriterien. Die angestrebten Werte orientieren sich an der sozialen Zusammensetzung des Quartiers und in einzelnen Fällen am Profil der gesamten Stadt Zürich (Genossenschaft Kalkbreite 2018). Projekte wie M29 versuchen ganz bewusst unterschiedliche (Social-Media-)Kanäle zu nutzen, um mit einem Wohnungsangebot auch Menschen zu erreichen, die zwar dringenden Wohnbedarf haben, aber kein Wissen über und keine Nähe zu Hausprojekten haben. 3.7. FAZIT: BAUSTEINE DES NEUEN SOZIALEN WOHNENS Die Wechselwirkungen zwischen den acht verschiedenen Bausteinen 7 des Neuen Sozialen Wohnens sind vielfältig. Insbesondere Grundstück, Trägermodell und die Finanzierungsmodalitäten wirken sich auf fast alle anderen Bereiche der Planungs-, Bau- und Verwaltungsprozesse aus. Insbesondere die aktive Beteiligung durch die künftigen Bewohner*innen der Bauvorhaben ist nicht nur ein Effekt der Rahmen- bedingungen, sondern vielmehr Voraussetzung für das Gelingen der Vorhaben. Diese weitgehend durch die Nutzer*innen bestimmte Produktion der Wohnbauten ist dabei nicht nur eine gelungene Aufhebung der sonst typischen Entfremdungseffekte im Wohnbau, sondern durch die damit verbundenen Voraussetzungen auch eine Barriere für den Einstieg in die Projektgruppen. Die Trägermodelle unterscheiden sich dabei nicht nur auf der Ebene der Mitbestimmungsmöglichkeiten, sondern auch hinsichtlich des erwarteten Zeit- und Ressourceneinsatzes der Einzelnen.
Die mobi- lisierbare Zeit, die Bereitschaft zur Aneignung von Fachkenntnissen und die Fähig- keit, sich selbstverantwortlich in arbeitsteilige Strukturen und Abläufe einbringen zu können, müssen als relativ hohe Voraussetzungen im Bereich der sozialen Kompe- Bausteine für ein Neues soziales Wohnen 238 tenz angesehen werden und spiegeln sich zum Teil auch in der Zusammensetzung der Bewohner*innen wider. Die von uns untersuchten Neubauprojekte reflektieren diesen social bias des Modells und versuchen vor allem nach der Fertigstellung durch affirmative Belegungspraktiken die soziale und kulturelle Diversität in ihren Projekten gezielt zu erweitern. 4. KONTUREN DES NEUEN SOZIALEN WOHNUNGSBAUS Die von uns untersuchten Neubauprojekte ermöglichen nicht nur gemeinschaftliche Wohnformen, sondern unterscheiden sich auch in der Art und Weise der Planung, des Baus und der Verwaltung von klassischen Bauprojekten. Dabei konnten fünf zentrale Prinzipien des Neuen Sozialen Wohnungsbaus identifiziert werden. Konsequente Leistbarkeitsorientierung: Alle Projekte haben sich bereits in der Phase der Konzeption und Planung an den künftigen Wohnkosten orientiert. Das Verhältnis von Erstellungskosten zu den Miethöhen wurde dabei umgekehrt. Gemeinsam festgelegte Zielmieten waren in der Regel der Ausgangspunkt für die wesentlichen Planungsentscheidungen. Auch wenn in Verwaltung und Bewirtschaf- tung die Logik von kostendeckenden Mieten aufgegriffen wird, können Planung und Bau als Prinzip der „mietgedeckten Erstellungskosten“ beschrieben werden. Größte Herausforderung für die Projekte sind die banküblichen Finanzierungsbedingungen und der meist fehlende Zugang zu geeigneten Grundstücken. Insbesondere die übli- chen Tilgungssätze in Kreditverträgen werden als größte Hürde angenommen.
Gebrauchswertorientierung: Die von uns untersuchten Projekte waren durch eine weitgehende Bauherr*innen-Nutzer*innen-Identität geprägt, die die typischen Entfremdungseffekte des Wohnens deutlich verringert. Das gilt in besonderem Ausmaß für die MHS/habiTAT-Projekte, mit deutlichen Abstrichen aber auch für die Genossenschaften, in denen die Bewohner*innen Mitglieder sind. Wesentliche Entscheidungen für Ausstattung, Grundrisse und technische Anlagen wurden aus einer Gebrauchswertperspektive der künftigen Bewohner*innen bestimmt, was als Typ des „nutzerkontrollierten Wohnbaus“ (Turner 1972: 148) beschrieben werden kann. Kollektive Verantwortung: Die Wohnprojekte des Neuen Sozialen Wohnens sind sowohl in Phasen der Planung als auch der Wohnnutzung durch ein hohes Maß an Beteiligung geprägt. Insbesondere die Selbstverwaltung in Form der aktiven Verant- wortung für wesentliche Planungs- und Verwaltungsaufgaben setzt dabei Prozesse der Selbstorganisation in den Gruppen voraus. Gemeinschaftliches Wohnen ist dabei nicht nur ein spezifisches Wohnformat, sondern auch ein durch die Gruppen selbst- bestimmter Modus der Kooperation. Nachhaltigkeit: Die von uns untersuchten Bau- und Wohnprojekte wurden mit einer Langzeitperspektive geplant und gebaut. Eine dauerhafte Wohnnutzung ist vorgesehen, ohne die Nutzungskonstellationen baulich festzuschreiben. Die Mehr- zahl der Gebäude ermöglicht flexible Nutzungsoptionen der Wohn- und Gemein- schaftsräume, sodass sie veränderten Wohn- und Lebensbedürfnissen angepasst werden können. Dauerhaft ist auch die gemeinwirtschaftliche Perspektive – in allen Projekten ist eine spätere Kapitalisierung durch Verkauf oder spekulative Mietsteige- rungen ausgeschlossen. 8 Ökologische Nachhaltigkeit wurde insbesondere durch die Verwendung natürlicher Baustoffe und Energieeffizienz der Bauweise und Anlagen sichergestellt.
Alle Projekte legten beim Bau Wert auf eine ökologische und soziale Nachhaltigkeit (barrierefrei und bezahlbar). Andrej Holm, Anna Kravets, Christoph Laimer, Jana Steinfeld 239 Gemeinschaftliche Wohnformen: Trotz unterschiedlicher Wohnformate in Einzel- wohnungen, Clustern oder Haus-WG – die Kombination von privaten und gemein- schaftlichen Räumen und Flächen prägt nicht nur die bauliche Struktur der Häuser, sondern auch die Alltagserfahrungen des Zusammenlebens. Die Beschränkung indi- vidueller Wohnfläche zugunsten gemeinschaftlich genutzter Bereiche ist ein wesent- liches Merkmal des Neuen Sozialen Wohnens und wird von den Bewohner*innen nicht als Beschränkung von Individualität, sondern als Bereicherung durch die Gemein- schaft wahrgenommen und damit eine gemeinsame Alltagsgestaltung ermöglicht, die weit über die sozialen Beziehungen in Standardwohnformaten hinausgeht. Die Prinzipien der konsequenten Leistbarkeitsorientierung, der nutzerkontrol- lierten Planung, soziale und ökologische Nachhaltigkeit sowie eine gemeinschaft- liche Verantwortung für Planung, Bau und Verwaltung geben wichtige Impulse für einen Wohnbau, der sich nicht an abstrakten Standards von Wohnvorstellungen und Wirtschaftlichkeit orientiert, sondern das Wohnen als Grundbedürfnis an den Nutzer*innen selbst orientiert. Die innovativen Wohnlösungen, die bauliche Gestalt und die im Vergleich zu anderen Neubauprojekten günstigen Wohnkosten demons- trieren das Potenzial des gemeinschaftlichen Wohnens und selbstorganisierten Bauens. Ein erleichterter Zugang zu Grundstücken und langfristige Finanzierungs- modelle wären die effektivste Unterstützung für künftige Projekte des gemeinschaft- lichen und selbstorganisierten Wohnens.
Da die Überwindung der Profitlogik im Wohnbau eine allgemeine Herausforderung für eine soziale Stadtentwicklung ist, weisen die gemeinschaftlichen und selbstorganisierten Neubauten über ihre Wohn- projekte hinaus und zeigen exemplarisch, dass ein anderes Bauen und Wohnen möglich ist. 1 Im Forschungsprojekt Bausteine für ein Neues soziales Wohnen (im Rahmen des Incoming Research Fellowships Immobilienwirtschaft und Standortentwicklung an der TU Wien) wurden insgesamt sieben Hausprojekte in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland untersucht. Die Fallstudien basieren auf einer umfassenden Recherche von Medienberichten, Internetseiten und Selbstdarstellungen der Projekte sowie Inter- views, die wir zwischen Juni 2019 und März 2020 durchgeführt haben. Die Leitfäden der Interviews wurden den Gesprächspartner*innen vorab zur Verfügung gestellt, um einen thematisch fokussierten Gesprächsverlauf zu erleichtern. Die aus den Informationen und Gesprächen erarbeiteten Projektprofile wurden den Gruppen zur Autorisierung mit der Möglichkeit zur Korrektur, Ergänzung und Präzisierung einzelner Aspekte zugesandt. Unser Dank gilt allen Gruppen, die uns einen Einblick in ihre Projekte ermöglicht und ihre Einschätzungen mit uns geteilt haben. 2 Gemeint ist eine Wohnungsbaugenossenschaft, eine Genossenschaft, die ihre Mitglieder mit preisgünstigem Wohnraum versorgt. Siehe dazu Boettcher (1981), Greve (2001), Michalski (2007) und Glossar-Eintrag > Wohnungsbaugenossenschaft. 3 Das Mietshäuser Syndikat ist ein Projektverbund aus Hausprojekten und Projektinitia- tiven in Deutschland (siehe Mietshäuser Syndikat 2020a). Hausprojekte des Mietshäuser Syndikats sind autonom und haben die Rechtsform einer GmbH (siehe Mietshäuser Syndikat 2020b).
Ziele des Mietshäuser Syndikats sind langfristig stabile und bezahlbare Mieten zu schaffen und die Häuser dem Immobilienmarkt zu entziehen (Mietshäuser Syndikat 2013). Siehe auch Glossar-Eintrag > Mietshäuser Syndikat. Das habiTAT ist ein 2014 gegründeter, nach dem Vorbild des MHS konzipierter Verbund von Haus- projekten in Österreich. 4 LAMA und Luftschloss erhielten den Zuschlag für das Grundstück durch ein Punkte- system, schwereLos über Losverfahren (Radio Dreyeckland 2015). Bausteine für ein Neues soziales Wohnen 240 5 Die Beschreibung des Förderprogramms für den „Experimentellen Geschoss- wohnungsbau“, ihrer Themenschwerpunkte und geförderten Projekte kann man unter Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen (2015) finden. Beachten Sie, dass Gemeinschaftswohnen im Wedding noch als Wohnen und Werken im Wedding be- zeichnet wurde. 6 Bikes and Rails wurde erst rund zwei Jahre nach Projektbeginn zu einem habiTAT-Projekt. 7 Boden, Trägermodell, Finanzierung, Planung und Bau, Bewirtschaftungsgrundsätze, Verwaltung, Beteiligungsmöglichkeiten und Vergabemodalitäten. 8 Im österreichischen Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz (WGG) wird Mieter*innen das Recht eingeräumt, ihre Wohnung nach Ablauf von mindestens fünf Jahren käuflich zu erwerben. Um Spekulation zu verhindern, muss bei Weiterveräußerung binnen fünf- zehn Jahren ein sogenannter Differenzbetrag bezahlt werden. QUELLEN [Interviews] Interview mit Andrea Valentini (Mitarbeiterin bei BWS-Gruppe) 2020: E-Mail-Interview. Interviewer: Silvester Kreil. Interview mit Andreas Wirz (Vorstand Wohnbaugenossenschaften Zürich) 2019: Ort: Büro Andreas Wirz; Interviewer: Christoph Laimer; Dauer des Interviews: 01:20:14. Interview mit Barbara Frisch-Raffelsberger (Familienwohnbau; Bauträger Bikes and Rails) 2019: Ort: Büro Familienwohnbau; Interviewer: Christoph Laimer; Dauer des Interviews: 00:38:53.
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Er ist Gründer und Chefredakteur von dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Ko-Kurator von urbanize – Internationales Festival für urbane Erkundungen, Mitglied von Bikes and Rails – Verein zur Förderung gemeinschaftlichen Wohnens und nachhaltiger Mobilität, INURA – Inter- national Network for Urban Research and Action und habiTAT, dem österreichischen Mietshäusersyndikat. JANA STEINFELD Jana Steinfeld studiert an der Humboldt-Universität Berlin im Master Sozialwissen- schaften. Sie ist studentische Mitarbeiterin am Lehrbereich für Stadt- und Regionalso- ziologie. Seit Juli 2019 arbeitete sie am Forschungsprojekt Neues soziales Wohnen mit. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Wohnungspolitik, Gentrifizierung, städtische soziale Bewegungen und feministische Perspektiven auf Stadt. Sie ist unter anderem aktiv bei der Berliner Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Andrej Holm, Anna Kravets, Christoph Laimer, Jana Steinfeld 245 247 https://doi.org/10.34727/2021/isbn.978-3-85448-044-0_18 Dieser Beitrag wird unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 veröffentlicht. Glossar: Begriffe zum gemeinschaftlichen Bauen und Wohnen Anna Kravetz, Jana Steinfeld A LT ERN AT I V FIN A NZIERUNGSGESE T Z – Das österreichische Alternativfinanzie- rungsgesetz erlaubt es einem Rechtsträger, Wertpapiere oder Veranlagungen bis zu zwei Millionen Euro auszugeben. Voraussetzung dafür ist, die Anleger*innen mittels eines Informationsblattes inkl. Geschäftsplan über das geplante Vorhaben im Detail zu informieren und auch auf die Risiken hinzuweisen. Weiters müssen die Anle- ger*innen jährlich über den Jahresabschluss informiert werden.
BEL EGUNGSBINDUNG / BEL EGUNGSGEB UNDENE WOHNUNG – bedeutet, dass eine Wohnung, deren Finanzierung etwa im Rahmen des > SOZIA L EN WOHNUNGSB AUS gefördert wird, nur von Mieter*innen mit > WOHNBERECH T IGUNGS SCHEIN ( W B S) bewohnt werden kann. Menschen ohne WBS können eine belegungsgebundene Wohnung nicht mieten. BLOCK HEIZK R A F T W ERK – ist ein Gerät für die Produktion von Strom und Wärme. Dadurch, dass ein Blockheizkraftwerk den Strom dort erzeugt, wo er auch verbraucht wird, „werden die Stromnetze entlastet und die Schwankungen durch regenerative Erzeuger ausgeglichen“ (BHKW Forum 2020b). Ein Blockheizkraftwerk ist wirtschaft- lich: das Modell Mini-Blockheizkraftwerk mit Pufferspeicher schafft beispielsweise eine doppelte Ausnutzung der gleichen Energiemenge (Eiselt 2013). Die meisten Blockheiz- kraftwerke benötigen einen Gasanschluss für die Versorgung des Blockheizkraftwerks mit Erdgas. Der Einsatz von anderen Brennstoffen wie Flüssiggas, Heizöl, Pflanzenöl, Biodiesel (RME) und Holzpellets ist auch möglich (BHKW Forum 2020a). In Deutschland werden Blockheizkraftwerke nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) mit Ener- giesteuerrückzahlungen und einem Bonus für Kraft-Wärme-Kopplung vergütet (Eiselt 2013). 248 CLUS T ERWOHNEN – bezeichnet ein Wohnkonzept, bei dem das gemeinschaftliche Wohnen und das individuelle Wohnen miteinander verbunden werden. Hierbei werden kleine Wohneinheiten wie beispielsweise Einzimmerwohnungen in Clustern zu einer größeren Einheit zusammengelegt und teilen sich einen oder mehrere Gemeinschaftsräume. Meist hat jede Einheit des Clusters ein eigenes Bad und eine Kochnische, teilweise sogar eine eigene Küche. Die Gemeinschaftsfläche oder -räume können unterschiedlich genutzt werden: Als große Küche, Aufenthaltsraum oder großzügig angelegter Flur.
Das Konzept verbindet damit Ansprüche an Privat- heit in den Individualeinheiten sowie an Gemeinschaftlichkeit in den gemeinsam genutzten Räumen. Der Grad der Gemeinschaftlichkeit variiert vom gemeinsam genutzten Internet bis zur gemeinsamen Kasse und der gemeinsamen Organisation des Alltagslebens, in anderen Fällen bleibt es bei der baulichen Gemeinschaftlich- keit. Clusterwohnen kann eine Möglichkeit sein, auf demographische Entwicklungen wie die Zunahme von Einpersonenhaushalten mit neuen und flexiblen Wohnformen zu antworten, bei denen einzelne Personen trotzdem in eine Gemeinschaft einge- bunden sind und Ressourcen gespart werden. Als platzeffizientes Wohnkonzept bietet es Alternativen, mit dem knappen Wohnraumangebot in Städten umzugehen. Eine Partizipation der Bewohner*innen ist bei der Belegung der Wohnungen und bei der Gestaltung der Grundrisse möglich und verbreitet. Umgesetzt wird das Konzept Clus- terwohnen im Neubau von Wohnungen vor allem von Genossenschaften, aber auch von kommunalen Wohnungsbauunternehmen (siehe dazu: die Forschungsarbeit „Cluster-Wohnungen für baulich und sozial anpassungsfähige Wohnkonzepte einer resilienten Stadtentwicklung“ von Prytula u. a. 2020). DIREK T K REDIT E – sind Geldbeträge, die einem Projekt von den Kreditgeber*innen direkt, d. h. ohne den Umweg über eine Bank geliehen werden. Dafür wird zwischen den Kreditgeber*innen und dem Projekt (Haus-GmbH oder Hausverein) ein Kreditvertrag abgeschlossen, in dem die Höhe des Kredits, Verzinsung, Kündigungs- frist, gegebenenfalls Laufzeit und eine qualifizierte Rangrücktrittsklausel geregelt sind. Direktkredite sind Nachrangdarlehen mit einer qualifizierten Rangrücktritts- klausel. Diese Klausel besagt, dass kein Geld an die Direktkreditgeber*innen zurückge- zahlt werden muss, falls damit die Zahlungsfähigkeit der Kreditnehmerin (Haus- GmbH oder Hausverein) gefährdet ist.
Im Falle einer Insolvenz werden außerdem zuerst der Bankkredit und die Forderungen aller anderen nicht-nachrangigen Gläu- biger*innen bedient und dann erst die Direktkreditgeber*innen. Aus Direktkrediten ergeben sich Vorteile wie selbstgewählte Laufzeiten, geringere Tilgungssätze und Zinsen sowie die Möglichkeit, auch unabhängig von Eigenkapital und Kreditwürdig- keit Geld über Kredite aufnehmen zu können. Über Bankkredite ist es hingegen in der Regel nur möglich, einen Teil der Investitionskosten zu finanzieren, da sie voraus- setzen, dass der andere Teil (z. B. 25 Prozent) als Eigenkapital vorhanden ist. Direkt- kredite werden von der Bank wie Eigenkapital behandelt. Sie sind daher eine wich- tige Säule der Finanzierung. Die Werbung für Direktkredite unterliegt in Deutschland dabei Vorschriften des > K L EIN A NL EGERSCHU T ZGESE T ZES (Mietshäuser Syndikat 2020a), in Österreich dem > A LT ERN AT I V FIN A NZIERUNGSGESE T Z. EIGENK A PITA LQU OT E – eng. equity ratio ist die Zahl, die das Verhältnis von Eigenkapital zum Gesamtkapital wiedergibt und zur Beurteilung von Unternehmen benutzt wird. Anna Kravetz, Jana Steinfeld 249 EIGENK A PITA LV ER ZINSUNG – auch Eigenkapitalrentabilität, eng. return on equity, ist der Prozentsatz des Eigenkapitals, der zeigt, wie profitabel (rentabel) ein Unter- nehmen für die Aktionär*innen ist – sprich, wie hoch die Rendite ist (Finanz Trends 2018). Es ist eine „relative Größe, die angibt, mit welcher Rate sich das während einer Periode eingesetzte Eigenkapital verzinst“ (Breuer/Breuer 2018). EINK ÜCHENH AUS – ist ein Haus mit einer Zentralküche, in der das Essen für alle Bewohner*innen zubereitet wird. In Deutschland initiierte die Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Lily Braun die Idee mit dem Bau des ersten Einküchenhauses 1908 in der Kuno-Fischer-Straße 13 am Lietzensee in Charlottenburg, Berlin.
Das Einkü- chenhaus mit einer Zentralküche, Zentralheizung, Warmwasserversorgung und Gemeinschaftseinrichtungen (wie z. B. Kindergarten, Waschküche, Trockenböden, Bügelräume und eine zentral betriebene Staubsaugeranlage) war für Familien mit berufstätigen Frauen gedacht, um Frauen von der Menge an Haushaltsarbeiten zu entlasten, indem Hauswirtschaftstätigkeiten kollektiviert wurden. Die Einküchen- haus-Idee stieß aber auf Widerstand von Konservativen als ein Gegenmodell zu tradi- tionellen Familienmodellen und Haushaltsorganisation (Sethmann 2008; Zalivako 2015). ERBB AURECH T – (umgangssprachlich auch: Erbpacht; in Österreich und der Schweiz: Baurecht) ist das Recht, in Deutschland auf einem Grundstück (darauf und/oder darunter) ein Bauwerk zu errichten. Das Erbbaurecht wird durch einen Erbbaurechts- vertrag zwischen Grundstückseigentümer*in und Erbbauberechtigtem/*r begründet und ins Grundbuch eingetragen. Es wird eine bestimmte Laufzeit vereinbart, nach deren Ablauf das Erbbaurecht erlischt. Das Erbbaurecht kann wie ein Grundstück veräußert, vererbt und belastet werden. Eigentümer*in der errichteten Gebäude auf dem Grundstück ist die/der Erbbauberechtigte. Mit dem Erlöschen des Erbbaurechts wird die/der Grundstückseigentümer*in zur/zum Eigentümer*in der Gebäude. Das Erbbaurecht bietet damit Möglichkeiten für Privatpersonen, auf einem Grundstück zu bauen und zu leben, auch wenn das Grundstück aus ökonomischen Gründen nicht gekauft werden kann. Weiterhin kann das Erbbaurecht Teil einer Bodenpolitik zur Bekämpfung von Bodenspekulationen sein. Vorschriften für dieses Recht sind im Erbbaurechtsgesetz formuliert, welches im Jahr 1919 erlassen wurde und dessen letzte Änderung im Jahr 2013 in Kraft getreten ist (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Bundesamt für Justiz 2013, Duden Recht 2015).
F REIFIN A NZIERT E WOHNUNG – ist die Bezeichnung für Wohnungen, die ohne Förder- zuschüsse finanziert werden, daher aber auch keiner > BEL EGUNGSBINDUNG oder > MIE T PREISBINDUNG unterliegen. GEMEIN W IRTSCH A F T – ist eine Form der wirtschaftlichen Tätigkeit von Gruppen von Menschen, die auf das Wohl einer übergeordneten Gesamtheit (Gemeinwohl) ausgerichtet ist (Krause/Proeller 2018). Das wichtigste Ziel der Gemeinwirtschaft ist die wirtschaftliche Bedarfsdeckung. Nicht das private Gewinnstreben, sondern die Kostendeckung sind das Ziel (Schubert/Klein 2018a). GEMEINNÜ T ZIGE B AU V EREINIGUNGEN – Die Aufgabe von gemeinnützigen Bauver- einigungen ist die Errichtung günstigen Wohnraums. Sie unterliegen einer Gewinn- beschränkung, sind in Österreich im Gegenzug dafür von Ertragssteuern befreit. Die Glossar: Begriffe zum gemeinschaftlichen Bauen und Wohnen 250 Rechtsform kann sowohl eine Genossenschaft als auch eine GmbH oder eine AG sein. In Deutschland wurde das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz durch das Steuerre- formgesetz 1990 aufgehoben. In der Schweiz spielt der gemeinnützige Wohnungsbau ähnlich wie in Österreich eine wichtige Rolle (Österreichischer Verband gemeinnüt- ziger Bauvereinigungen 2019; Deutscher Bundestag, Wissenschaftlicher Dienst 2013) H A BITAT – ist in Österreich ein Kollektiv zur Unterstützung und Verwirklichung von selbstorganisierten Mietshausprojekten. Es wurde im Jahr 2014 mit dem Pionier- projekt des habiTATs Willy*Fred in Linz (Oberösterreich) gegründet. habiTAT arbeitet eng mit dem > MIE TSH ÄUSER SY NDIK AT in Deutschland zusammen und hat dessen Strukturen in den österreichischen Rechtsraum übertragen (habiTAT 2020; Miets- häuser Syndikat 2020b). H AUSGEMEINSCH A F T – ist eine Form des Zusammenlebens, bei dem mehrere Wohn- parteien in einem gemeinsamen Haus wohnen und Kontakt untereinander haben.
Das Konzept Hausgemeinschaft wurde zur DDR-Zeiten als Vereinigung der Hausbe- wohner*innen zu gemeinsamen Zwecken bekannt. Im Vergleich zur > WOHNGEMEIN - SCHAF T, in der oft auch ein gemeinsamer Haushalt geführt wird, sind die einzelnen Parteien in einer Hausgemeinschaft oft unabhängiger voneinander. Der Grad der Gemeinschaftlichkeit in Hausgemeinschaften kann zwischen einer eher anlassbe- zogenen Vernetzung bei gemeinsamen Anliegen oder Problemen und einem engeren Zusammenleben mit gemeinsamen Aktivitäten und persönlichen Beziehungen variieren. H AUS-GMBH /H AUSBESIT Z-GMBH ( ZU > MIE TSH ÄUSER SY NDIK AT / > H A BITAT ) – ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die den Eigentumstitel einer Immo- bilie besitzt. Als Rechtsform wird im Modell des Mietshäuser Syndikats und des habi- TATs dafür eine GmbH genutzt. Sie sorgt für die Unverkäuflichkeit des Hauses, da es für die GmbH bei jedem Hausprojekt zwei Gesellschafter gibt: den > H AUSV EREIN und als kontrollierenden, vetoberechtigten Gesellschafter das > MIE TSH ÄUSER SY NDIK AT oder in Österreich das > H A BITAT (Mietshäuser Syndikat 2020b). H AUSV EREIN ( ZU > MIE TSH ÄUSER SY NDIK AT / > H A BITAT ) – ist ein Verein der gegenwärtigen Bewohner*innen eines Hausprojekts, der die das Haus betref- fenden Entscheidungen fällt. Ein Hausverein kann z. B. über die Miethöhe, Kreditrückzahlungen, Umbaupläne und neue Mitbewohner*innen entscheiden. Im Modell des > MIE TSH ÄUSER Syndikats kann der Hausverein das Haus aber nicht verkaufen, da die > H AUS-GMBH Eigentümerin des Hauses ist. Der Hausverein ist dabei nur einer der zwei Gesellschafter der > H AUS-GMBH (Mietshäuser Syndikat 2020c). HOL ZR A HMENB AU – ist ein Holzbausystem, bei dem die Rahmenbauweise verwendet wird.
Der Rahmenbau ist ein vor allem in den USA, Kanada und den skandinavischen Ländern gebräuchliches Bausystem, das aus der Balloon-Frame- und Platform-Frame-Bauweise entstanden ist (Kolb 2010). Ein Holzrahmenbau ist durch sehr kurze Fertigungszeiten und große Gestaltungsfreiheit gekennzeichnet. In Trockenbauweise werden vor Ort bereits vorgefertigte Holzrahmenteile zusam- mengesetzt (Bosse 1997: 21). Anna Kravetz, Jana Steinfeld 251 K F W-FÖRDERK REDIT – ist ein Kredit zur Finanzierung von Wohnungsbau, Infra- strukturvorhaben, Energiespartechniken und kommunaler Infrastruktur sowie zur Finanzierung von kleinen und mittleren Unternehmen. Er wird von der KfW (Kreditan- stalt für Wiederaufbau), einer nationalen öffentlich-rechtlichen Förderbank, heraus- gegeben. Die KfW verfolgt als eine öffentliche Institution ein besonderes Geschäfts- modell und einen gesetzlichen staatlichen Auftrag. Gegründet nach dem Zweiten Weltkrieg, um den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft zu finanzieren, arbeitet die KfW heute für die Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Lebensbedingungen. In Bezug auf Bauen und Sanieren werden durch KfW-Förderkre- dite Bauvorhaben unterstützt, die sich durch besondere Energieeffizienz auszeichnen und auf erneuerbare Energien setzen. Der > K F W-EF FIZIENZH AUS-S TA NDA RD bezeichnet dabei die Energieeffizienz eines Gebäudes, von der die Förderhöhe abhängt (KfW 2020a; MAXDA 2020). K F W-EF FIZIENZH AUS-S TA NDA RD – bezeichnet die Energieeffizienz eines Gebäudes (nach Neubau oder Sanierung), von der die Höhe der KfW-Förderung abhängt. Der KfW-Effizienzhaus-Standard wird aus dem Gesamtenergiebedarf (Primärener- giebedarf) und dem Wärmeverlust (Transmissionswärmeverlust) eines Gebäudes berechnet. Es gibt die Standards 55, 70, 85, 100 und 115.
Je kleiner der Wert ist, desto geringer ist der Energiebedarf des Gebäudes und desto höher die Förderung. Die Zahl 55 bedeutet dabei z. B. einen Primärenergiebedarf von 55 Prozent im Vergleich zum Referenzgebäude der Energieeinsparverordnung (EnEV) (KfW 2020b). K L EIN A NL EGERSCHU T ZGESE T Z – wurde in Folge der Insolvenz des Deutschen Wind- parkfinanziers Prokon im Jahr 2015 beschlossen. Dieses Gesetz verlangt mehr Trans- parenz und die Gewährleistung besserer Informationen zu Finanzprodukten des „Grauen Kapitalmarkts“, vor allem in Hinsicht auf die Risiken. Außerdem verschärft das Gesetz die Sanktionsmöglichkeiten gegen Anbieter und Vermittler von Vermö- gensanlagen, deren Werbung oder Investments nun verboten werden können. Vom Kleinanlegerschutzgesetz sind auch alternative Investitionsformen z. B. Wohnpro- jekte im Modell des > MIE TSH ÄUSER SY NDIK ATS betroffen, da sich ihre Werbung für > DIREK T K REDIT E nach den verschärften Vorschriften im Kleinanlegerschutzgesetz richten muss (Der Spiegel 2014; Bundesministerium der Finanzen 2015; Capital-Re- daktion 2019; Interview mit Lukas 2019). Für Hausprojekte in Österreich gibt das > A LT ERN AT I V FIN A NZIERUNGSGESE T Z den entsprechenden rechtlichen Rahmen vor. KONSENSPRINZIP – bezeichnet das Prinzip, über einen Konsens eine Entscheidung in einer Gruppe zu finden. Konsens (lat. consensus) bedeutet Zustimmung, Übereinstim- mung, übereinstimmender Meinung sein (Schubert/Klein 2018b). Das Konsensprinzip unterscheidet sich vom Mehrheitsprinzip und repräsentativer (z. B. parlamentari- scher) Demokratie vor allem dadurch, dass auch Minderheiten in Entscheidungspro- zessen mehr Gewicht haben. Beim Konsensprinzip wird allen von der Entscheidung betroffenen Personen ein Mitsprache- und Vetorecht garantiert (siehe Burnicki 2003).
Das Konsensprinzip ist dabei vom > KONSEN T PRINZIP zu unterscheiden, in dem nur das Einverständnis aller Beteiligten für eine Entscheidung benötigt wird, und nicht die Übereinstimmung/Zustimmung. Glossar: Begriffe zum gemeinschaftlichen Bauen und Wohnen 252 KONSEN T PRINZIP – nach dem Konsentprinzip benötigt eine Entscheidung im Gegen- satz zum > KONSENSPRINZIP das Einverständnis aller Beteiligten und nicht deren Übereinstimmung. Einverständnis bedeutet hier, dass gegen einen Beschluss oder eine Idee kein schwerwiegender und begründeter Einwand vorliegt. Im Entschei- dungsprozess können Einwände begründet eingebracht werden und werden berück- sichtigt. Das Prinzip wird in Entscheidungen nach dem Modell der > SOZIOK R AT IE verwendet (Soziokratie Zentrum Österreich 2020a). KOSTENMIETE – auch kostendeckende Miete, bezeichnet eine Miete, die sich an den tatsächlich für den Eigentümer entstehenden Kosten orientiert. Im > SOZIALEN WOHNUNGSBAU werden die Mieten grundsätzlich durch eine Wirtschaftlichkeitsbe- rechnung ermittelt, in der die Kapitalkosten, also die Zinsen des zum Bau eingesetzten Eigen- und Fremdkapitals, und die Bewirtschaftungskosten, also die Abschreibungs-, Verwaltungs- und Instandhaltungskosten sowie das Mietausfallwagnis berücksichtigt werden (Thalmann 2019, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020a). MIETENDECKEL – auch Berliner Mietendeckel, ist eine alltagssprachliche Bezeichnung des Gesetzes zur Neuregelung gesetzlicher Vorschriften zur Mietenbegrenzung, das vom Abgeordnetenhaus von Berlin am 30. Januar 2020 beschlossen wurde. Dieses Gesetz ermöglicht die öffentlich-rechtliche Begrenzung von Wohnraummieten nach festgelegten Mietobergrenzen, die sich aus dem Baujahr bzw. Erstbezugsjahr einer Wohnung, deren Ausstattung und Lage ergeben (Das Abgeordnetenhaus von Berlin 2020).
MIE T PREISBINDUNG – bedeutet, dass für Wohnungen, die mit öffentlichen Mitteln z. B. im Rahmen des > SOZIA L EN WOHNUNGSB AUS gefördert werden, bestimmte Maximalmieten festgelegt sind. Für diese Wohnungen dürfen nur > KOS T ENMIE T EN verlangt werden. Mit der Mietpreisbindung im Sozialen Wohnungsbau sollen einkom- mensschwachen Bevölkerungsschichten bezahlbare Wohnungen zur Verfügung gestellt werden (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020a). MIE TSH ÄUSER SY NDIK AT – ist ein Projektverbund aus 158 Hausprojekten und 18 Projektinitiativen in Deutschland (Mietshäuser Syndikat 2020a). Es ist „ein Netz- werk und eine Eigentumsform selbstorganisierter Hausprojekte[n] im gemein- schaftlichen Besitz. Im rechtlichen Sinn ist es eine kommerziell organisierte Beteili- gungsgesellschaft ohne eigenes Kapital“ (Clemens/Hummel 2011). Hausprojekte des Mietshäuser Syndikats sind autonom und haben die Rechtsform einer GmbH. Jede > H AUSBESIT Z-GMBH des Syndikats setzt sich aus dem aus den Bewohner*innen bestehenden > H AUSV EREIN und dem Mietshäuser Syndikat zusammen. Durch diese rechtliche Konstruktion agiert das Mietshäuser Syndikat als kontrollierender zweiter Gesellschafter und sorgt für die Unverkäuflichkeit des Hauses. Ziele des Mietshäuser Syndikats sind: langfristig stabile und bezahlbare Mieten zu schaffen und die Häuser dem Immobilienmarkt zu entziehen (Mietshäuser Syndikat 2013). MIK ROK REDIT E – sind Kleinkredite an nicht traditionelle Kreditnehmer*innen. Bekannt wurden Mikrokredite nach deren Institutionalisierung in Bangladesch 1976 von Muhammad Yunus (Encyclopaedia Britannica 2016). Anna Kravetz, Jana Steinfeld 253 MODUL B AU W EISE / MODUL A RES B AUEN – bezeichnet eine Bauweise, in der Gebäude aus einzelnen Modulen zusammengefügt werden. Bereits vorgefertigte Bauteile müssen auf der Baustelle lediglich zu einem Gebäude zusammengesetzt werden.
Vorteile sind vor allem eine kurze Bauzeit und damit verbundene Kosten- ersparnisse, eine einfache Montage und Demontage sowie Flexibilität in der Anord- nung der Module. Die Module/Bauteile werden meist industriell und standardisiert hergestellt und können aus verschiedenen Materialien bestehen (Holz, Metall, Beton). Es gibt dabei verschiedene Bauweisen: Bei der Skelettbauweise wird zuerst ein Stahl-, Stahlbeton- oder Holzgerüst errichtet, in das sich dann die Module einfügen lassen. Bei der Containerbauweise/Raumzellenbauweise werden vollständig vorgefertigte Raumeinheiten zusammengesetzt. Bei der Plattenbauweise werden einzelne Wand- und Bodenplatten zu einem Gebäude zusammengesetzt. Modulares Bauen findet aufgrund der Einfachheit und Vorproduktion der Bauteile oft Anwendung in > SERI - EL L ER B AU W EISE (Grimm 2019). PL ENUM – ist eine Vollversammlung der Gesamtheit der Menschen oder ihrer Vertreter. Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet Plenum „die Gesamtheit“ oder „vollzählige Versammlung“ (Schneider/Toyka-Seid 2020). Im Falle einer Wohn- oder Hausgemeinschaft bedeutet Plenum die Versammlung aller Bewohner*innen. SERIELLE BAUWEISE / SERIELLES BAUEN – bezeichnet eine Bauweise, in der zuvor standar- disierte Gebäude/Prototypen von Gebäuden in Serie errichtet werden. Sie wird ange- wendet, wenn beispielsweise möglichst schnell, einfach und kostengünstig möglichst viel Wohnraum errichtet werden soll. Dabei werden vorgefertigte Bauteile/Gebäude- teile nach der > MODULBAUWEISE zu Gebäuden zusammengebaut (Grimm 2018). SIEDL ERBE W EGUNG – war eine Bewegung in Österreich in den 1920er-Jahren zur Errichtung anfangs illegaler Unterkünfte an der Stadtgrenze Wiens. Wegen der Wohnungsknappheit nach dem Ersten Weltkrieg nahmen wohnungslose Kriegsbe- schädigte ihr Schicksal nach dem Krieg selbst in die Hand und bauten Siedlungen für sich.
Relativ rasch kam es zur Gründung von Selbsthilfeorganisationen. Die Siedler- bewegung erfuhr in den ersten Jahren des Roten Wien besondere Unterstützung von der Gemeinde Wien (Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie 2020). SOZIA L ER WOHNUNGSB AU – bezeichnet den öffentlich geförderten Bau von Wohnungen, insbesondere für soziale Gruppen, die ihren Wohnungsbedarf nicht am freien Wohnungsmarkt decken können. In Deutschland gibt es eine zeitlich befris- tete Sozialbindung (> MIE T PREISBINDUNG und > BEL EGUNGSBINDUNG ), nach deren Ablauf die Wohnungen an den freien Wohnungsmarkt zurückgelangen und dort zu von den Eigentümer*innen festgelegten Konditionen vermietet oder verkauft werden können. Dies unterscheidet den deutschen sozialen Wohnungsbau von wohnungs- politischen Programmen in vielen anderen Ländern (Holm 2019). SOZIA LWOHNUNG – bezeichnet Wohnungen, die im Rahmen von Förderprogrammen wie dem > SOZIA L EN WOHNUNGSB AU gefördert werden. Sie unterliegen dabei im Gegensatz zu > F REIFIN A NZIERT EN WOHNUNGEN einer > BEL EGUNGSBINDUNG und > MIE T PREISBINDUNG . Der Status Sozialwohnung und damit die Bindungen für Glossar: Begriffe zum gemeinschaftlichen Bauen und Wohnen 254 Wohnungen sind aber in Deutschland durch die Struktur der Förderprogramme zeit- lich befristet (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020c, Holm 2019). SOZIOK R AT IE – Soziokratie bezeichnet eine Art der Entscheidungsfindung in Gruppen, die nicht auf einem > KONSENSPRINZIP (Übereinstimmung), sondern auf dem > KONSEN T PRINZIP (Einverständnis) beruht. In der Entscheidung über einen Vorschlag wird nicht gefragt, ob alle zustimmen, sondern ob jemand dagegen ist, d. h. schwerwiegende Einwände oder Bedenken hat. Im Entscheidungsprozess kommt jede*r Einzelne in Informations- und Meinungsrunden zu Wort. Einwände müssen begründet, mit Argumenten unterlegt vorgebracht werden.
Dies hilft wiederum dabei, den Vorschlag zu verfeinern und bessere Lösungen zu finden. Ein bloßes Veto ist nicht möglich (siehe auch Basisprinzipien der Soziokratie: Soziokratie Zentrum Österreich 2020b). T ILGUNG – ist im Finanzwesen die Rückzahlung einer Geldschuld. Eine Tilgung kann entweder als Gesamtbetrag oder in Form von mehreren Teilbeträgen getätigt werden. In einem Tilgungsplan wird die Regelmäßigkeit und die Höhe der zu zahlenden Beträge sowie die Höhe des Tilgungsbeitrags festgeschrieben. Als Standard gilt ein Tilgungsbeitrag von mindestens einem Prozent (Duden Wirtschaft 2016). WOHNBERECH T IGUNGS SCHEIN ( W B S) – ist in Deutschland eine Bescheinigung zum Nachweis der Berechtigung des Beziehens von mit öffentlichen Mitteln geförderten Wohnungen (Sozialwohnungen). Diese Bescheinigung wird nur dann erteilt, wenn das jährliche Haushaltseinkommen eine vorgeschriebene Grenze nicht überschreitet (die je nach Bundesland/Kommune verschieden ist). Jeder Person mit WBS steht ein WBS-gefördertes Zimmer zu, woraus sich eine Begrenzung der Wohnungsgröße für WBS-Wohnungen ergibt (am Beispiel Berlin: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2020b). WOHNGEMEINSCH A F T – auch kurz: WG, ist eine Form des Zusammenlebens, bei der die Menschen oder Wohnparteien in einer gemeinsamen Wohnung wohnen und oft einen gemeinsamen Haushalt führen. Es können Einzelpersonen oder Familien zusammen in WGs wohnen. Wohngemeinschaften sind vor allem in Ländern Nord- europas, Deutschland, Österreich und der Schweiz seit den 1960ern verbreitet. Es gibt auch sogenannte „Zweck-WGs“, bei denen die Gemeinschaftlichkeit im Zusammen- wohnen sich auf das Nötigste beschränkt. WOHNUNGSB AUGENOS SENSCH A F T – ist eine Genossenschaft (ein Zusammenschluss oder Verband von Personen), die ihre Mitglieder mit preisgünstigem Wohnraum versorgt.
Zentral bei einer Genossenschaft ist die Idee, dass Personen bestimmte wirtschaftliche Funktionen, in diesem Kontext die Funktion des Wohnungsbaus, auf einen gemeinsamen Geschäftsbetrieb übertragen. Infolgedessen entstehen die Vorteile der gemeinsamen Ausübung dieser Funktion gegenüber der möglichen indi- viduellen Ausübung, ohne dass die Mitglieder dabei ihre Selbstständigkeit verlieren (Boettcher 1981). Eine Genossenschaft unterstützt eine wirtschaftliche Förderung ihrer Mitglieder (Förderungsprinzip), ihre Mitglieder sind gleichzeitig die Eigen- tümer*innen (Identitätsprinzip) und sie agiert nach einem Demokratieprinzip, wobei jedes Mitglied an der Selbstverwaltung der Genossenschaft beteiligt ist. In Deutschland zum Beispiel ist die Genossenschaft eine privatwirtschaftliche Institu- Anna Kravetz, Jana Steinfeld 255 tion; eine Genossenschaft kann aber auch einen ordnungspolitischen Anspruch in einer gemeinwirtschaftlichen oder halbstaatlichen Form haben (Greve 2001). Zurzeit zeigt sich die Tendenz der Abnahme der Zahl von Genossenschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Michalski 2007). QUELLEN BHKW Forum 2020a: Mögliche Brennstoffe. https://www.bhkw-forum.info/bhkw-informa- tionen/technische-grundlagen/mogliche-brennstoffe. BHKW Forum 2020b: Wissen und Informationen. https://www.bhkw-forum.info/bhkw-in- formationen. Boettcher, Erik 1981: Genossenschaften, Begriff und Aufgaben. In: Albers, Willi (Hg.): Hand- wörterbuch der Wirtschaftswissenschaften. Bd. 3. Stuttgart, New York: Fischer; Tübin- gen: Mohr; Göttingen, Zürich: Vandenhoek und Ruprecht, S. 540–556. Bosse, Ralph 1997: Holzkonstruktionen im mehrgeschossigen Wohnungsbau. Diplom- arbeit: TU Braunschweig Breuer, Wolfgang; Breuer, Claudia 2018: Revision von Rentabilität. https://wirtschaftslexi- kon.gabler.de/definition/rentabilitaet-45028/version-268328.
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Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Wohnungspolitik, Gentrifizierung, städtische soziale Bewegungen und feministische Perspektiven auf Stadt. Sie ist unter anderem aktiv bei der Berliner Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Glossar: Begriffe zum gemeinschaftlichen Bauen und Wohnen ISBN 978-3-85448-043-3 www.tuwien.ac.at/academicpress Gemeinschaftliches Wohnen und selbst- organisiertes Bauen bieten neue Antworten auf die aktuellen Herausforderungen im Wohnungswesen. Seit vielen Jahren haben Baugruppen und Hausprojekte in zahlreichen Ländern Erfahrungen in der gemeinschaft- lichen Planung gesammelt, neue Wohnfor- mate entwickelt und unkonventionelle Formen gemeinschaftlichen Wohnens erprobt. Das gilt insbesondere für Initiativen, die mit selbst- organisierten Planungsprozessen, einer nicht gewinnorientierten Bewirtschaftung und kollektiver Verantwortung gemeinschaftliche Wohnformen entwickeln und nutzen. Diese Publikation möchte aufzeigen, wie Nischen innerhalb des kapitalistischen Sys- tems genutzt werden können und welche Ansätze es darüber hinaus gibt. Darum finden sich neben Beiträgen über das Wohnen und Bauen im engeren Sinne auch solche über Commons, Solidarische Ökonomien, Eigentum, Dekommodifizierung oder alter- native Finanzierungsinstrumente. Der Band entstand im Rahmen eines Fellowships an der TU Wien zum Thema „Neues soziales Wohnen“.